Christof Kessler
Christof Kessler, Jahrgang 1950, ist Spezialist für Hirnerkrankungen. Sein beruflicher Weg führte ihn nach Gießen, Berlin, Heidelberg, Köln und Lübeck. Seit 1992 ist er Professor für Neurologie und seit 1994 Direktor der Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Sein Interesse gilt einer praktisch ausgerichteten, patientenorientierten Neurologie. Er organisierte Veranstaltungen zum Thema Neurologie und Literatur und war wissenschaftlicher Berater bei der szenischen Umsetzung der Opernadaption von Oliver Sacks‘ "Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte".Interview mit Christof Kessler
Christof Kessler: Meine Intention war, Geschichten zu erfinden, die spannend und leicht lesbar sind, und bei denen man trotzdem etwas über das Gehirn lernen kann. Ich habe zwölf "Storys" geschrieben, von der jede eine bestimmte neurologische Erkrankung behandelt. Das Spektrum reicht vom Hirntumor über den Schlaganfall bis zur Multiplen Sklerose. Die Geschichten sind fiktiv, also frei erfunden. Ich habe etwa ein Jahr an ihnen geschrieben. Ich habe natürlich als Klinikdirektor einen vollen Terminkalender, aber in entspannten Situationen, z. B. im Urlaub, oder an freien Wochenenden sprudelten die Storys in meinen Laptop.
Wie schwer oder leicht fiel es Ihnen, die Geschichten in "Wahn" sprachlich so umzusetzen, dass Sie Ihren Ansprüchen gerecht wurden und wo ordnen Sie Ihr Buch, was das…mehr
Sie arbeiten als Hirnforscher und leiten als Direktor die Klinik für Neurologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. In Ihrem Buch "Wahn" erzählen Sie in unterschiedlichsten Geschichten, wie eine Hirnerkrankung das Leben von Menschen verändern kann. Wie entstand die Idee, ein Buch darüber zu schreiben und wie lange brauchte es, sie umzusetzen?
Christof Kessler: Meine Intention war, Geschichten zu erfinden, die spannend und leicht lesbar sind, und bei denen man trotzdem etwas über das Gehirn lernen kann. Ich habe zwölf "Storys" geschrieben, von der jede eine bestimmte neurologische Erkrankung behandelt. Das Spektrum reicht vom Hirntumor über den Schlaganfall bis zur Multiplen Sklerose. Die Geschichten sind fiktiv, also frei erfunden. Ich habe etwa ein Jahr an ihnen geschrieben. Ich habe natürlich als Klinikdirektor einen vollen Terminkalender, aber in entspannten Situationen, z. B. im Urlaub, oder an freien Wochenenden sprudelten die Storys in meinen Laptop.
Wie schwer oder leicht fiel es Ihnen, die Geschichten in "Wahn" sprachlich so umzusetzen, dass Sie Ihren Ansprüchen gerecht wurden und wo ordnen Sie Ihr Buch, was das Genre betrifft, ein?
Christof Kessler: Auf gar keinen Fall handelt es sich um ein Sachbuch oder gar um ein Lehrbuch. Ich hatte die Absicht, literarische Kurzgeschichten zu schreiben. Ich bin es gewohnt zu schreiben - Arztbriefe, Gutachten für Versicherungen, wissenschaftliche Artikel -, sodass mir das Verfassen der "Storys" nicht schwergefallen ist. Ich habe mich dabei bemüht, in gewohnter Manier einen sachlichen und informativen Stil einzuhalten.
Wer bekam die Geschichten als Erste/Erster zu lesen und wie fielen die Reaktionen aus?
Christof Kessler: Ich habe eine erste Geschichte an den Lektor Axel von Ernst geschickt, und er hat mich darin bestärkt, weiterzumachen - und natürlich meine Frau.
In der Geschichte "Mann ohne Gesicht" geht es um eine Frau, die unter Gesichtsblindheit leidet. Sie lernt einen Mann auf einer Vernissage kennen, geht kurz weg und findet ihn nicht wieder, weil sie sich nicht an sein Gesicht erinnert. Das passiert ihr mehrmals - und besagter Mann reagiert auf das "Nicht-Erkennen" äußerst negativ. Eine wahre Geschichte?
Christof Kessler: Die Geschichte " Der Mann ohne Gesicht" ist frei erfunden. Ausgangspunkt war allerdings eine private Bekanntschaft. Diese Freundin hatte das Problem, Gesichter schlecht zu erkennen. Ferner habe ich schon mehrmals Patienten behandelt, bei denen im Rahmen eines Schlaganfalls solch eine Störung aufgetreten ist. Ich habe mir dann überlegt, zu welchen Komplikationen im sozialen Leben solch eine Störung führen könnte.
In "Der Grapscher" erzählen Sie von einem erfolgreichen Referenten, dessen Persönlichkeit sich nach und nach veränderte. Der bislang liebevolle Ehemann entwickelte herrische Züge, wurde zunehmend egoistisch und belästigte Kolleginnen oder Bekannte plötzlich sexuell. Was kann hinter solch einer Veränderung stecken?
Christof Kessler: In meinen Anfängen als Arzt habe ich einen Patienten kennengelernt, der in unsere Klinik aus einer Justizvollzugsanstalt eingeliefert worden ist. Er saß wegen wiederholten Rohheitsdelikten und Vergewaltigungen ein. Wir machten erstmals eine Computertomografie des Hirns bei ihm und entdeckten einen frontalen Tumor, der als Ursache seines sozial abweichenden Verhaltens interpretiert wurde. Dieser Fall hat mich so stark beeindruckt, dass ich für die Geschichtensammlung "Wahn" eine ähnlich gelagerte Fallgeschichte konstruierte. In dieser Geschichte wird erläutert, dass das Frontalhirn beim Menschen für die soziale Kontrolle verantwortlich ist. Dort lokalisierte Störungen, z. B. ein Tumor, führen zu entsprechenden Verhaltensauffälligkeiten.
In all Ihren Geschichten schwingt mit, dass schon winzige Veränderungen im Gehirn uns völlig aus der Bahn werfen können. Doch auch die Psyche spielt eine wichtige Rolle, wie Sie z. B. in "La Gomera" erzählen. Da hat ein schwerer seelischer Kummer eine starke körperliche Reaktion hervorgerufen...
Christof Kessler: Ja, in dieser Geschichte behandele ich das Problem der Konversionsneurose. Dies ist zwar eine psychiatrische Erkrankung, jedoch sehen wir Neurologen häufig Patienten, bei denen unbewältigte Probleme zu körperlichen Symptomen führen. Zum Beispiel kann Stress Kopfschmerzen verursachen, also ein seelischer Zustand bedingt körperliche Symptome. So ähnlich muss man es sich vorstellen, wenn seelische Not psychisch ausgelöste Sturzanfälle verursacht.
Sie als Neurologe interessieren sich beruflich natürlich für die körperlichen Aspekte des Gehirns. Wie wichtig ist Ihnen eine ganzheitlich denkende Medizin, die auch die psychischen Aspekte miteinbezieht?
Christof Kessler: Der Mensch besteht aus Körper und Seele. Ärzte, die den seelischen Zustand ihres Patienten nicht berücksichtigen, können keine guten Ärzte sein.
Ein wunderbares Beispiel für die Kraft der Seele ist die Geschichte "Alkohol", die das Buch beschließt. Da "heilen" Sie - wenn man das so sagen darf - eine starke Alkoholikerin von ihrer Sucht. Erzählen Sie uns, wie Sie die Frau behandelt haben?
Christof Kessler: Ich habe die Patientin nicht geheilt in dem Sinne, wie dieser Begriff üblicherweise benutzt wird. Ich wollte mit dieser Geschichte ausdrücken, dass die meisten jungen Menschen, die beschließen, Arzt oder Ärztin zu werden, dies aus einem bestimmten Ethos heraus tun. Sie wollen etwas Sinnvolles tun und den Menschen helfen. Leider wird oftmals durch den Alltag in der Klinik und die Routine dieser Ethos abgeschliffen. Diese Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen, wie ich sie aufgeschrieben habe. Die "Alkoholikerin" war meine erste Patientin als Nervenarzt, und ich wollte esnicht hinnehmen, dass sie als "verloren" galt, weil sie schon so stark vom Alkohol geschädigt war. Ich habe mir damals vorgenommen, für sie zu kämpfen - und bin zunächst gescheitert. Allerdings hat es sich langfristig gezeigt, dass das Vertrauen, das ein Arzt in seine Patienten setzt, in der Lage ist, einen tiefen Eindruck zu hinterlassen, sodass letztendlich Krankheitsverläufe positiv beeinflusst werden können.
Interview: Literaturtest