Die Abgründe und die Macht der Leidenschaft und der Phantasie: An einem heißen Tag im Sommer 1935 spielt die dreizehnjährige Briony Tallis Schicksal und verändert dadurch für immer das Leben dreier Menschen.
Roland Baines ist noch ein Kind, als er 1959 im Internat der Person begegnet, die sein Leben aus der Bahn werfen wird: der Klavierlehrerin Miriam Cornell. Roland ist junger Vater, als seine deutsche Frau Alissa ihn und das vier Monate alte Baby verlässt. Es ist das Jahr 1986. Während die Welt sich wegen Tschernobyl sorgt, beginnt Roland, nach Antworten zu suchen, zu seiner Herkunft, seinem rastlosen Leben und all dem, was Alissa von ihm fortgetrieben hat.…mehr
Briony Tallis ist die wohl bekannteste literarische Figur, die der britische Schriftsteller Ian McEwan erschaffen hat. Das 13-jährige Mädchen aus gutem Hause steht im Zentrum des Romans "Abbitte" (2001), der 2007 verfilmt wurde. Mit ihrem pubertierenden Übereifer, ihrer dunklen jungen Sexualität und ihrem starken Ehrgeiz, Schriftstellerin werden zu wollen, stürzt sie ihre ältere Schwester Cecilia und deren Geliebten Robin Turner ins Unglück. McEwan wirft in dem Roman, der ihn endgültig zu einem Autor von Weltrang machte, meisterhaft die Frage nach der Macht der Literatur und nach der Moral ihrer Autoren auf, indem er die Tiefenpsychologie der Protagonisten und ihrer Beziehungen zueinander mit einem scharfen Skalpell seziert. Hat der Leser das Buch beendet, hat er unweigerlich das Gefühl, einem Organismus zu entsteigen, dessen zitternde Nervenbahnen noch lange an ihm haften und arbeiten.
Dieses Gefühl nach der Lektüre ist typisch für McEwans Bücher. Der 1948 im englischen Aldershot geborene Autor, der von der Times als einer der besten 50 britischen Schriftsteller nach 1945 eingestuft wurde, ist ein Meister der abgründigen Seelenstudien, die den Menschen als Spielball des Schicksals und dessen emotionaler Sogkraft zeigen. Immer wieder konfrontiert McEwan seine nabokovhaften Figuren mit überraschenden Situationen, die ihnen offenbaren, dass das Leben nicht planbar ist. Das zeigen bereits McEwans verstörende, ja schauderhafte Geschichten und Romane aus seiner frühen Schaffenszeit. Für seinen Roman "Amsterdam", der 1998 mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet wurde, ergründet er sprachlich virtuos das Beziehungsgeflecht zwischen zwei Freunden, die dieselbe Geliebte hatten und die sich schwören, im Falle einer schweren Krankheit dem jeweils anderen beim Selbstmord zu helfen.
Seine Kindheit verbrachte McEwan, der sich auch häufig zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ereignissen äußert, zu großen Teilen in Libyen oder Singapur, wo der Vater in der Armee diente - in Gegenden mit gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Konflikten. Wohl deswegen spielen McEwans Romane auch immer wieder vor dem Hintergrund weltpolitischer Geschehnisse wie dem 11. September in "Saturday" (2005), dem Klimawandel in "Solar" (2010) oder wie der Gefahr der totalen Überwachung in seinem aktuellen Roman "Honig". "Es ist sehr schwer", hat McEwan einmal gesagt, "den Überblick und die Standhaftigkeit zu behalten, wenn einen das Unvorhersehbare erwischt." Es ist ein Satz, wie ihn auch Briony Tallis sagen könnte.
Bewertung von violettera aus Stuttgart am 17.10.2022
Ein von vielen Lektionen geformtes Leben
Roland Baines verlebt als Sohn eines britischen Armeeoffiziers in Libyen eine recht unbeschwerte Kindheit, die abrupt endet, als er 1959 mit 11 Jahren auf ein englisches Internat geschickt wird. Er erweist sich als begabter Junge, bereits als Schüler sogar als außergewöhnlich begnadeter Pianist. Mit seiner Klavierlehrerin erlebt der pubertierende Junge jedoch obsessive sexuelle Erfahrungen, die ihn durchaus mit Stolz erfüllen, im Rückblick jedoch ein prägendes Missbrauchserlebnis darstellen. Auf den Schulabbruch folgt ein unstetes Leben ohne Ausbildung und ohne Beruf, mit wechselnden Beziehungen, getrieben von sexueller Obsession. Nach einem „verlorenen Jahrzehnt“ ziellosen Herumstreunens heiratet er 1985, wird sesshaft im eigenen Heim und gründet eine Familie, aber die geliebte Ehefrau lässt ihn mit dem Baby allein zurück, um sich ihrer Berufung als Schriftstellerin zu widmen, mit großem Erfolg. Er wird zum Alleinerziehenden, bringt sich und den Sohn mit Gelegenheitsjobs über die Runden, meist als Barpianist und Tennislehrer. Auch eine spätere zweite Liebesbeziehung scheitert zunächst. Durchzogen und begleitet wird der Lebensbericht von den großen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und Krisen der jeweiligen Zeit, von der Kubakrise über Tschernobyl, den Mauerfall, Corona bis hin zur globalen Klimakrise, die auf Rolands Leben einwirken. Auf 700 Seiten breitet Ian McEwan das wechselvolle Leben des Roland Baines aus, von der Kindheit bis ins Alter, schildert sein Innenleben in all den Jahrzehnten, fragt nach der Verantwortung für das eigene Leben und das der anderen, stellt Fragen nach Sex und Liebe, Sehnsucht und Erfüllung, Scheitern und Erfolg, Schuld und Vergebung. Es erzählt von vertanen Chancen und überraschenden Wendungen, Zeiten voller Pläne und Hoffnung und solche der Trägheit und des Sich-treiben-Lassens. So entsteht ein literarisches Meisterwerk, das nebenbei die großen Fragen der Zeit behandelt, in der dieses Leben spielt.
John Lanchester, Ali Smith, John LeCarré und jetzt noch Ian McEwan haben sich nicht nur gegen den Brexit ausgesprochen sondern schreiben auch dagegen an. Letzterer mit seinem vor kurzem erschienenen schmalen Büchlein „Die Kakerlake“, einer kafkaesken, bitterbösen Polit-Satire, die unverhohlen die politische Situation auf der britischen Insel kommentiert.
Gestern noch ein verabscheuungswürdiges Ungeziefer, heute Premier, und Jim Sams verliert keine Zeit, hat er doch ein Gefühl dafür, wie es in Downing Street No 10 läuft. Als erstes springt der Privatsekretär über die Klinge, unverzeihlich sein despektierlicher Kommentar über die „Privatschultypen“, die „sich zu allem berechtigt fühlen“. Danach widmet er sich sogleich den Parteigenossen, mittlerweile fast ausschließlich ehemaliges Ungeziefer, die es von seinen Plänen für den „Reversalismus“ zu überzeugen gilt. Dieses bahnbrechende Wirtschaftssystem soll die Geldströme umlenken und so für ungebremsten Aufschwung sorgen, die Reichen noch reicher machen.
Nicht nur die Politiker (mit Ausnahme des Außenministers), auch das Volk klatscht begeistert Beifall, fällt auf seine Lügen, seine Verleumdungen, seine gezielten Falschinformationen herein, stört sich nicht an dem Brechen von Vereinbarungen, läuft dem skrupellosen Rattenfänger kritiklos hinterher und stimmt in einem Referendum dafür. Natürlich gibt es auch außerhalb Großbritanniens große Anhänger dieses Systems, wie den amerikanischen Präsidenten, der diese Idee als seine ureigene auszugeben versucht.
Ein absurdes Szenario, bei dem die Anlehnung an die Realität offensichtlich ist, die Manipulatoren und Trickser Johnson und Trump leicht auszumachen. Offensichtliche Lügengespinste, die dem Volk Souveränität und Wiederauferstehung vorgaukeln. Die das Sehnen nach Einfluss befeuern, den Traum der Kolonialmacht hochhalten. Entlarvend!
In der Kürze liegt die Würze dieser auf das Wesentliche reduzierten Satire. Eine höchst amüsante Lektüre, bei der einem bisweilen das Lachen im Hals steckenbleibt. Nicht nur für politisch Interessierte.
Hervorragend!
"Du warst so ein rastloser Narr!", das sagt Rolands Ehefrau Daphne am Ende ihres Lebens zu ihrem Mann und fasst damit zusammen, wie Roland sein Leben verbracht hat.
Als Sohn eines Soldaten wuchs er in Libyen auf, kam mit elf auf ein englisches Internat und entpuppte sich als genialer Pianist. Doch statt einen Schulabschluss zu machen und ein Musikstudium in Angriff zu nehmen, reiste er rastlos durch die Welt, lebte von Gelegenheitsjobs. Als er die Deutsch-Engländerin Alissa kennenlernt, heiraten die beiden, doch Alissa verlässt ihn, als ihr kleiner Sohn vier Monate alt ist. Sie will unbedingt Schriftstellerin werden und glaubt das mit Kind nicht zu schaffen. Roland schlägt sich weiterhin irgendwie durch, sein Sohn Lawrence wächst bei ihm auf, da Alissa verschwunden bleibt.
Man begleitet Roland durch sein ganzes Leben, erfährt viel über seine Familie und die von Alissa und das ist so hervorragend geschrieben, dass es keinen Moment von den 700 Seiten langweilig ist. Immer wieder spielt die Weltgeschichte eine Rolle, die Kubakrise, Tschernobyl, Thatcher, und wird mit dem Leben von Roland verwoben.
Ich habe schon einige Bücher von McEwan gelesen, sie gefielen mir meist gut, aber dieses ist das beste seiner Werke. Seine Sprachmacht beeindruckt mich immer wieder, sein sensibler Umgang mit schwierigen Themen ist vorbildlich und man kennt Roland am Ende des Buches vermutlich besser als sich selbst.
Lektionen von Ian McEwan ist keine leichte Kost, die man nebenbei liest. Auf 700 Seiten zeichnet der Autor ein Bild des Lebens von Roland Baines verwoben mit der Weltpolitik. Seine Kindheit im Internat, fern seiner Familie und entwurzelt in Zeiten der Kubakrise. Dort das schicksalhafte Zusammentreffen mit seiner Klavierlehrerin-. Zum Zeitpunkt des russischen SuperGAU in Tchernobyl erlebt er seinen eigenen. Er wird von seiner Frau verlassen, die ihn mit Säugling zurücklässt, um ihr eigenes Lebensglück ohne sie zu finden. Der deutsche Mauerfall. All diese weltpolitischen Ereignisse werden im Roman mit Baines Leben verwoben. Es geht um Moralvorstellungen, Schuld und Verrat in dieser Geschichte. Mit einfühlsamen jedoch eindringlichen Bildern gelingt es dem Autor den Leser mitzunehmen in die verschiedenen Kapitel des Lebens von Roland Baines. Der Roman weist zwar insgesamt einige Längen auf, es lohnt sich aber in jedem Fall ihn bis zum Ende zu lesen. Meine Empfehlung für Leser, die sich auf ein einzelnes Leben im Kontext der Weltpolitischen Lagen einlassen mögen. Keine leichte Unterhaltung sondern Lesearbeit.
"Lektionen" war mein erstes Buch von Ian McEwan. Nachdem ich schon sehr viele begeisterte Stimmen zu seinen Büchern gehört hatte, war ich doch sehr gespannt, was mich erwarten würde.
Der Einstieg fiel mir etwas schwer. Wir folgen Roland Baines, der von seiner Frau verlassen wurde und sich nun alleine um das gemeinsame Kind kümmern muss. Er ist gewöhnlich, nicht erfolgreich in seinem Traumberuf Autor und wird immer wieder von seiner Vergangenheit eingeholt. Das Buch erzählt seine Geschichte - von seiner Kindheit, über sein Aufwachsen, seinen Alltag als Erwachsener, das Älter werden bis in seine 70iger.
"Lektionen" ist 400-Seiten lang, durch die sehr langen Absätze, war das Lesen am Anfang eher anstrengend.
Doch dann hat mich Rolands Geschichte immer mehr fasziniert. Gerade seine Gewöhnlichkeit. Seine furchtbaren Erfahrungen mit seiner Klavierlehrerin, die eindeutig als sexueller Missbrauch zu werten sind, sein Bild auf diese Frau, seine Art damit umzugehen. Der Schreibstil ist dabei eher schlicht, beschreibt aber wunderschön und präzise Rolands Beziehungen - mit seinem Sohn, seiner Frau, seiner Klavierlehrerin Miriam, seiner Freundin Daphne. Es war spannend, die Entwicklung des Protagonisten über die Jahre hinweg, aber auch durch die Begegnungen mit bestimmten Menschen oder das Besuchen von neuen Städten zu beobachten.
Besonders interessant war für mich, dass der Autor nicht nur Rolands Leben beleuchtet, sondern auch immer wieder Raum für besonder weltpolitische Ereignisse oder Krisen schafft und von diesen in Zusammenhang mit Rolands Leben, seinen Lektionen, berichtet.
Insgesamt war "Lektionen" für mich eine runde Erzählung, die besonders mit einer interssanten Charakter- und Beziehungsstudie überzeugen kann, sowie mit der Einarbeitung von historischen Ereignissen. Trotzdem hatte der Roman einige Längen, sodass ich am Ende
4 von 5 Sternen vergebe.
Bewertung von frau pelikan aus Rostock am 19.10.2022
Ein neuer Mc Ewan. Angekündigt in den Vorschauen des Verlages und der Vertriebler. Da habe ich bestimmt als eine der ersten in den Startblöcken gesessen. Und dabei ist McEwan ein fleißiger Autor. In der Regel lässt er die Fangemeinde nicht länger als zwei Jahre auf einen neuen Titel warten. Und jedes Mal öffnet sich ein anderes Universum, manchmal stilistisch, immer inhaltlich. Von „Amsterdam“ über „Solar“, „Kindeswohl“ bis hin „Die Kakerlake“. Und nun 700 Seiten „Lektionen“.
Und wieder eine vollständige Überraschung.
Protagonist des Textes ist Roland Baines, in all seinen Lebensphasen. Als kleiner Junge, der in Libyen groß wird. Als Soldatensohn. Als Internatsschüler. Als Ehemann von Alissa und Vater von Lawrence. Als Gehörnter, der allein in seinem heruntergekommenen und vermüllten Londoner Haus sitzt, sich um Baby Lawrence kümmert und auf eine weitere Postkarte seiner durchgebrannten Gattin wartet. Ein Poet, der nach Inspiration sucht, wenn der Säugling schläft. Sein Geld bekommt er entweder vom Amt, durch Lohnschreiberei oder das Dichten von Knittelversen für die wachsende Grußkartenindustrie.
McEwan nimmt uns mit zurück in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Führt uns Phänomene der Zeitgeschichte vor Augen, die wir lange hinter uns glauben. Die Kuba-Krise, die die Internatsschüler in große Aufruhr versetzt und zu Atomwaffenexperten werden lässt, die Tschernobylkatastrophe, gegen die Roland Lawrence und sich entgegen der eigenen Skepsis mit dem Abkleben der Fensterritzen versucht zu schützen und nicht zuletzt die Existenz der Deutschen Demokratischen Republik, dem einzigen Land der Welt, in dem der Kommunismus erfolgreich als Staatsform gelebt werde.
Doch diesen langen, einer Meditation gleichenden, stetig fließenden Erzählfluss lesen wir immer unter dem Brennglas seiner Begegnung mit der Klavierlehrerin im Internat, Miriam Cornell. Ist es eine Erweckung, ein Missbrauch, eine Vergewaltigung? Die „erfahrene Frau Mitte zwanzig“, die Frau Lehrerin, lehrt ihn viele Spielarten des körperlichen Miteinanders und Zusammenseins. Unterwerfung, Ekstase, Zärtlichkeit. Roland wird Miriam-süchtig; Frauen und die sexuelle Begegnung mit ihnen werden ein Fixpunkt in seinem Leben.
Und wenn wir zu Beginn der Lektüre noch unsere Nasen wie literarische Trüffelschweinchen in die Seiten halten, um herauszufinden, was denn nun autobiografisch und was erfunden sei; nach spätestens 40 Seiten spielt die Antwort auf diese Frage keine Rolle mehr.
Aus der Rückschau sehen Roland und seine Leserschaft klar: „Ja, mach nur einen Plan! Sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh‘n tun sie beide nicht.“
(„Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“ aus „Die Dreigroschenoper“. Brecht/Weill).
Bewertung von leukam aus Baden-Baden am 29.11.2022
Ein Meisterwerk!
Ian McEwan entfaltet in seinem neuen Roman das Leben eines ganz gewöhnlichen Mannes. Geboren wird Roland Baines 1948 als Sohn eines britischen Offiziers. Seine frühe Kindheit verbringt er in Libyen, wo sein Vater stationiert ist. Mit elf Jahren kommt er nach England in ein Internat. Die Trennung von der Mutter fällt dem sensiblen Jungen schwer, doch das Internatsleben erweist sich als weniger schlimm wie befürchtet. Dagegen wird die Begegnung mit der mehr als zehn Jahre älteren Klavierlehrerin prägend für sein weiteres Leben. Belässt sie es bei dem elfjährigen Jungen noch bei sonderbaren körperlichen Übergriffen, entwickelt sich drei Jahre später daraus eine obsessive sexuelle Beziehung. Erst als Erwachsener wird Roland erkennen, welche seelischen Narben dieser Missbrauch bei ihm hinterlassen .
Nur mit der Flucht von der Schule schafft es Roland, sich aus diesem Verhältnis zu befreien. Doch er wird ruhelos sich durch sein weiteres Leben treiben lassen, wird nichts aus seinen Talenten machen. Kein Dichter, sondern Verfasser von Gebrauchstexten, keine Karriere als klassischer Pianist, sondern nur einen Job als Barpianiist. Auch privat scheitert er.
In der Anfangsszene des Romans befindet sich der Enddreißiger Roland sitzengelassen von seiner Frau Alissa mit dem 7 Monate alten Baby in seiner Londoner Wohnung. Alissa hat ihn verlassen, weil ein Familienleben mit Kleinkind sich nicht mit ihren Vorstellungen eines Schriftstellerlebens vereinbaren ließ. Nun versucht Roland völlig überfordert von seiner neuen Rolle als alleinerziehender Vater, seinen Sohn von der drohenden atomaren Wolke aus dem fernen Tschernobyl zu schützen.
McEwan begleitet seinen Protagonisten bis in sein 7. Jahrzehnt. Sein Anliegen ist es, ein individuelles Leben zu beschreiben und gleichzeitig die politischen Hintergründe und die gesellschaftlichen Entwicklungen in die Biographie einzuarbeiten. So treibt die Angst vor einem dritten Weltkrieg Roland in die offenen Arme seiner Klavierlehrerin. Vom Nachkriegsdeutschland über die Suez- Krise, vom Dissidentenleben in Ostberlin bis zum Fall der Berliner Mauer, vom Brexit bis zum Lockdown in Corona- Zeiten, all das beeinflusst mal mehr, mal weniger das Schicksal seines Protagonisten.
McEwan greift in diesem Roman viele Fragen auf. Was bestimmt unser Leben? Sind es die Prägungen, die man durch Eltern und das soziale Umfeld erlebt? Sind es Zufälle, die ihre Spuren hinterlassen und was entscheidet man dabei selbst? Und wann gilt ein Leben als gelungen und erfolgreich? Wenn man, wie Alissa ein großes literarisches Werk hinterlässt, dafür aber Mann und Kind geopfert hat und nun einsam und krank in der Wohnung sitzt. Oder kann nicht Roland die bessere Lebensbilanz aufweisen, obwohl er nichts aus seinen Talenten gemacht hat, eher planlos durchs Leben gestolpert ist, dafür aber am Ende seinen Frieden gefunden hat und glücklich im Kreis seiner Familie lebt?
McEwan liefert keine eindeutigen Antworten. Es gibt keine direkten Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung. Dafür zeigt er, wie Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt, welche Konsequenzen einmal getroffene Entscheidungen haben können.
Das ist dramaturgisch höchst kunstvoll gelöst. McEwan erzählt nicht streng chronologisch, sondern springt vor und zurück in der Handlung. Dabei verbinden sich die verschiedenen Ebenen sehr organisch, die einzelnen Erzählfäden werden immer wieder aufgegriffen. Er erzählt in einer klaren und präzisen Sprache, nüchtern und schnörkellos. Dabei entwickelt das Buch einen Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte.
Roland Baines ist eine Figur, die mir am Ende richtiggehend ans Herz gewachsen ist. Mag er gesellschaftlich eher auf der Verliererseite stehen, so ist er menschlich gereift.
Aber auch die ganz privaten Themen, die im Leben dieses Anti- Helden eine Rolle spielen, sind von allgemeiner Gültigkeit. Über Kindererziehung, Beziehungsfragen, dem Verhältnis zu den Eltern, über das Alter, Krankheit und Tod macht sich Roland seine Gedanken und der Leser vergleicht mit seinen eigenen Erfahrungen.
Dies ist McEwans umfangreichster Roman, aber auch sein persönlichster. Nicht nur teilen der Autor und seine Hauptfigur dasselbe Geburtsjahr und denselben Geburtsort, es lassen sich zahlreiche weitere Parallelen zu McEwans eigener Biographie finden. Seine Kindheit in Libyen als Sohn eines Offiziers, seine Jahre im Internat, seine Erfahrungen beim Fall der Berliner Mauer fließen in den Roman ein. Auch McEwan erfuhr erst nach dem Tod seiner Mutter, dass es einen älteren Bruder gab, der bei Adoptiveltern aufgewachsen ist. Nur eine solche Klavierlehrerin gab es nicht.
Der Roman ist für mich ein klassisches Alterswerk. McEwan hat hier alles reingepackt, was ihm das Leben als Lektionen erteilt hat. Dazu passt der versöhnliche Ton im Privaten und die Skepsis, was die Weltlage betrifft. Ein Meisterwerk!
Beeindruckende Lebensgeschichten haben und brauchen viele Seiten
Den Protagonisten Roland, ein Nachkriegskind, begleiten wir Lesende durch sein Leben und erfahren vieles über die Personen rund um ihn. Während der Erzählung werden die Lebensgeschichten der jeweilig erwähnten Personen erzählt. Sü fügt sich Teilchen für Teilchen Rolands Leben vor unseren Augen zu etwas Kompletten zusammen. Immer wieder holen ihn seine Erfahrungen ein, als Jugendlicher im Internat und die dort entstehende Liaison mit seiner Klavierlehrerin. Dann überschattet das plötzliche Verschwinden seiner Ehefrau Alissa das junge Familienglück – Roland bleibt mit Lawrence, dem Baby, zurück. Langsam und Jahre später kristallisiert sich Alissas Grund
aus vielen Erzählfetzchen. Auch bei ihr stehen unverarbeitete Verletzungen in der Jugend im Vordergrund.
'Lektionen' ist ein sprachlich ausgefeiltes, für mich an keiner Stelle langweiliges Buch. Die Geschichte zieht sich über viele Jahrzehnte und verknüpft das Leben Rolands und der ihn umgebenden Personen mit verschiedenen geschichtlichen Ereignissen, z.B. Kubakrise, Tschernobyl, Widerstandsbewegung (Weiße Rose), Wiedervereinigung, Corona. Dabei beleuchtet er auch DDR-Schicksale anhand einer befreundeten Familie, die Roland einige Jahre lang im Osten besuchte und die die Willkür des Staates erleben mussten. Ungewöhnlich fand ich die Erzählstränge, die intime Erfahrungen Rolands schildern, die weit in seine frühe Jugend zurückreichen und immer wieder durch ihn reflektiert werden. Sehr beeindruckend fand ich Rolands starke Hinwendung zu seinem Sohn Lawrence, den er nach dem Verschwinden Alissas von Baby auf betreut. Ich finde, dass es Ian McEwan sehr gut gelungen ist, die verschiedenen Facetten und Lebensphasen Rolands zu beschreiben. Möglicherweise verbergen sich biografische Elemente des Autors in der Figur Rolands. Einzelne Schilderungen fand ich einerseits etwas lang, andererseits werden sie jedoch durch die bildhaften Lebenserzählungen zu den einzelnen Personen mehr als ausgeglichen.
Etwas Kritik muss ich leider zur Buchausführung üben: die Seiten sind sehr dünn und durchscheinend, das störte mich beim Lesen immer wieder; aber vielleicht ist das ja der aktuellen Ressourcenknappheit an Papier geschuldet.
Mein Fazit: 700 Seiten Lebensgeschichte erscheint zwar erstmal ziemlich viel, aber es kommt eben auf den Inhalt an. Der weitere Lebensweg einiger Figuren hat mich sogar so stark interessiert, dass ich darüber gerne noch mehr Seiten gelesen hätte. Chapeau, für dieses fulminante, perfekt geschriebene Lesewerk.
Ein großer Wurf - der neue Roman "Lektionen" von Ian McEwan; ein 700-Seiter, den ich nicht aus der Hand legen mochte! Der Abriss eines Jahrhunderts und ein ganzes Leben. Fast könnte man meinen, der Autor habe seine Leserschaft erleben lassen wollen, wie sich individuelle Lebensgeschichte auf dem Hintergrund von Zeitgeschichte entfaltet. So jagt uns McEwan durch die erschütternden Kriegsereignisse des letzten Jahrhunderts, thematisiert das geteilte Deutschland, erwähnt die Kubakrise, den Falklandkrieg, die deutsche Wiedervereinigung, die politische Situation in England, die Corona-Pandemie und den Klimawandel. Und immer wieder schimmert die persönliche Sichtweise des Autors durch, der sich hierfür die Stimme seines Protagonisten leiht und damit dem Text einen 'Lift' gibt, hin zu einer Kommentierung und Bewertung des Weltgeschehens. Die individuelle Geschichte im 'großen Zeitgeschehen' ist das Leben von Roland Baines, von seinen Eltern aus Libyen früh nach England auf ein Internat geschickt, der dort als 14-jähriger der langjährige 'Geliebte' seiner lebensälteren Klavierlehrerin wird, sich später dann als Pianist, Schriftsteller, Tennisspieler versucht - ohne die Ernte irgeneines Ruhms, auch weil er seiner Verpflichtung als Vater nachkommen möchte, als seine Frau Alissa die junge Familie verlässt, um sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Wir dürfen Roland durch sein Leben begleiten, an seinen Zweifeln teilhaben und auf den letzten Seiten mit ihm sein 'Altgewordensein' feiern, einen Zusatnd, der ihn milde werden lässt, der Vergebung meint und ihn gelassen seinem Lebensende entgegenleben lässt. Man könnte sagen, McEwan habe zuviel hineinpacken wollen, Jahrhundertrevue und komplette Leben - und vielleicht ist ja weniger manchmal mehr, wie man gemeinhin sagt; jedoch: In seiner Fülle ist der Roman ein Abbild höchster Komplexität, in der alles mit allem zusammenhängt. Und genau dafür steht der Titel - "Lektionen" in Lebensgeschichte und Zeitgeschicht.
Mir gefiel der Klappentext, deshalb habe ich mich an die 700 Seiten gewagt. Was habe ich da alles gelesen! Der Einstieg fiel leicht, die Erinnerung an eine Klavierstunde, ein kleiner Junge und die Lehrerin, die ihm nahe kommt, was für ein Start . Robert, erwachsen, verheiratet und Vater eines Sohnes, wird von seiner Frau verlassen, sie lässt ihm das Kind und ein paar Zeilen, ich war fasziniert. Der Roman ist autobiografisch gefärbt, aber es wäre mir völlig egal gewesen, wäre er reine Fiktion. Der Autor schreibt so einnehmend, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen wollte. Mir gefielen die vielen Geschichten in der Geschichte, da taucht die graue Ost-Berliner Stasizeit düster und kalt auf, die Tschernobylpanik eines jungen Vaters, die Nachkriegsgeschichte der Eltern, alles so wunderbar erzählt, dass man stets auf weitere Wendungen hofft. Die großen Fragen des Lebens stellt sich auch der Protagonist, natürlich, ich folgte ihm dabei.
Die Geschichte ist nicht nur unterhaltsam, sie bietet einen ganzen Bogen an miteinander verknüpften Ereignissen. Die Protagonisten wirken echt, wie Menschen, die man gut kennt. Mir gefielen die vielen Rückblicke, die zum Jetzt führen, miteinander verwoben und doch für sich selbst stehend. Es ist wirklich meisterhaft, bedeutende Ereignisse so klar zu beschreiben, gekonnt mit Protagonisten zu besetzen und dabei den Spannungsbogen zu erhalten. Ich habe diese Geschichte ins Herz geschlossen. Auf jeden Fall lesen!
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