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Ingrid Noll
Ingrid Noll ist eine der wichtigsten Krimiautorinnen im deutschsprachigen Raum. Sie wurde 1935 als Tochter eines deutschen Arztes in Shanghai geboren und wuchs in Nanking auf, in einer "chinesischen Familienversion des Gartens Eden", wie sie spater mit Blick auf ihre Kindheit schrieb. Mit dem Umzug der Familie nach Deutschland 1949 endete das "Paradies" und wurde von einer "Trockenzeit" in einem katholischen Madchengymnasium in Bad Godesberg abgelost. Die junge Ingrid fluchtete in die Literatur und traumte davon, selbst zu schreiben. Nach dem Abitur studierte sie halbherzig Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn, brach das Studium aber ab, um den Arzt Peter Gullatz zu heiraten. Sie bekam drei Kinder, half ihrem Mann in der Praxis - und traumte weiterhin vom Schreiben. Als die Kinder flugge waren, veroffentlichte Ingrid Noll endlich ihren ersten Roman: "Der Hahn ist tot" wurde sofort ein Riesenerfolg - dem viele weitere folgten. Ihre Bucher wurden bereits in uber zwanzig Sprachen ubersetzt und zum Teil mit prominenten Schauspielern verfilmt. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin lebt heute mit ihrem Mann in Weinheim. Und schreibt.
Das meint die buecher.de-Redaktion: Die mordenden Frauen in Nolls Kriminalromanen sprechen eine gro?e Leserschaft an, weil sie sich oft gar nicht so sehr von ihren braven Geschlechtsgenossinnen unterscheiden. Die Autorin versteht es, ihre Protagonisten stimmig in ihr jeweiliges Umfeld einzubetten, und hat offensichtlich gro?e Freude an schwarzem Humor.
Interview mit Ingrid Noll
Buecher.de-Interview mit Ingrid Noll
Sie haben Ihre Kindheit in China verbracht. Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie heute an diese Zeit zuruckdenken?
Ingrid Noll: Nicht nur ein Bild, sondern viele widerspruchliche Bilder tauchen vor mir auf, uber die ich stundenlang erzahlen konnte. Uber Jahre lebten wir in Nanking, dort hatten wir einen gro?en Paradiesgarten mit einem Bambuswaldchen, Gemuse- und Blumenbeeten, Ginkgo- und Maulbeerbaumen und vielen Tieren. An unserem Haus zog oft eine Gruppe wei? gekleideter Trauergaste vorbei, weil man ganz in der Nahe die Toten beerdigte. Fur den Verstorbenen wurde alles, was er im Jenseits brauchen konnte, aus buntem Papier angefertigt und herbeigebracht: Haus, Kleider, Fahrrad, Huhner, Nahrung, Geld, Vogelbauer, Goldfische usw. Am Ende, wenn diese schonen Sachen verbrannt wurden und der Rauch wunschgema? gen Himmel stieg, blutete uns Kindern das Herz. Mit dem gro?en Bruder durften wir den Jahrmarkt besuchen und viele in Schmalz gebackene Kostlichkeiten probieren. Das chinesische Neujahrsfest feierten wir freudig mit, das europaische wurde ignoriert. Sternzeichen kannten wir nicht, dafur…mehr
Buecher.de-Interview mit Ingrid Noll
Sie haben Ihre Kindheit in China verbracht. Welches Bild haben Sie vor Augen, wenn Sie heute an diese Zeit zuruckdenken?
Ingrid Noll: Nicht nur ein Bild, sondern viele widerspruchliche Bilder tauchen vor mir auf, uber die ich stundenlang erzahlen konnte. Uber Jahre lebten wir in Nanking, dort hatten wir einen gro?en Paradiesgarten mit einem Bambuswaldchen, Gemuse- und Blumenbeeten, Ginkgo- und Maulbeerbaumen und vielen Tieren. An unserem Haus zog oft eine Gruppe wei? gekleideter Trauergaste vorbei, weil man ganz in der Nahe die Toten beerdigte. Fur den Verstorbenen wurde alles, was er im Jenseits brauchen konnte, aus buntem Papier angefertigt und herbeigebracht: Haus, Kleider, Fahrrad, Huhner, Nahrung, Geld, Vogelbauer, Goldfische usw. Am Ende, wenn diese schonen Sachen verbrannt wurden und der Rauch wunschgema? gen Himmel stieg, blutete uns Kindern das Herz. Mit dem gro?en Bruder durften wir den Jahrmarkt besuchen und viele in Schmalz gebackene Kostlichkeiten probieren. Das chinesische Neujahrsfest feierten wir freudig mit, das europaische wurde ignoriert. Sternzeichen kannten wir nicht, dafur wurde ich von meinen Geschwistern gehanselt, weil ich im Schweinejahr geboren wurde. Spater lebten wir noch weitere Jahre in Shanghai, mit 12 Jahren radelte ich taglich durch chaotischen Verkehr. Im Winter sah ich manchmal erfrorene Bettler auf dem Burgersteig liegen und gruselte mich.
Als Sie nach Deutschland ubersiedelten, waren Sie bereits ein Teenager. Haben chinesische Brauche und die Mentalitat der Menschen dort Sie in irgendeiner Weise gepragt?
Ingrid Noll: Ich kann nicht beurteilen, wie ich mich in einem anderen Land entwickelt hatte. Auf jeden Fall beklagten die Lehrer meine asiatische Gelassenheit bei vollig verhauenen Mathearbeiten. Geblieben ist die Freude an fernostlichen Farbkombinationen, an ostasiatischer Kunst, alten Teppichen, antikem Porzellan und gutem chinesischem Essen; vielleicht auch die Fahigkeit, unabanderliche Tatsachen mit Fassung zu tragen.
In einem Artikel der ZEIT sprachen Sie von konkurrierenden Lebensentwurfen - als Mutter und als Schriftstellerin. Sie verwendeten in diesem Zusammenhang den Begriff "Hypothek". Was meinten Sie damit?
Ingrid Noll: Weil ich meine Eltern liebte, wollte ich unbewusst ihre Anspruche erfullen. Das erste Kind unserer Eltern war ein Sohn - und der sollte ein echter Kerl werden. Das zweite war ich, und von mir erhofften sie sich ein "richtiges" Madchen, das spater einmal eine gute Kochin, Hausfrau und Mutter wurde. Meine jungeren Schwestern waren wahrscheinlich nicht geplant, hatten Narrenfreiheit und konnten sich ungehemmt entfalten. Meine Hypothek war wohl die zugewiesene Rolle durch die elterliche Erwartungshaltung.
Sie erwahnten einmal, dass Sie als Schulerin Dostojewski, Schiller, die franzosischen Existenzialisten und als Zehnjahrigebereits Heine gelesen haben. Wie fuhrte Ihr Weg dann weiter zum Krimigenre?
Ingrid Noll: Erst mit etwa 40 Jahren habe ich im Urlaub Kriminalromane gelesen. Nach einigen Enttauschungen hatte ich bei Patricia Highsmith ein Aha-Erlebnis. Wahrscheinlich war sie der Ansto? fur einen eigenen Versuch.
Ungefahr alle zwei Jahre erscheint ein neuer Noll-Krimi, die Leser schatzen Ihre grundlichen Recherchen. Haben Sie dennoch Zeit, zum eigenen Vergnugen zu lesen? Und wenn ja, wozu greifen Sie dann?
Ingrid Noll: Ich lese gern die Bucher mir personlich bekannter oder befreundeter Kollegen, denn das hat einen besonderen Reiz fur mich. Auch das Programm meines Verlags trifft meistens meinen Geschmack.
In "Uber Bord" glaubt die Protagonistin Ellen, ihrem Traumprinzen begegnet zu sein. Eine Rivalin wird daraufhin kurzerhand uber Bord geworfen. Ist Ellen eine kaltblutige Morderin?
Ingrid Noll: Nein, das ist sie sicher nicht, sie ergreift spontan die gunstige Gelegenheit, eine verhasste Person loszuwerden. Auf keinen Fall hat sie den Mord langfristig geplant. Im Ubrigen konnte sie nicht voraussehen, dass Erbrochenes auf sie spritzte und der Ekel eskalierte.
Ein merkwurdiges Gefuhl entsteht beim Lesen der Passage, in der Ellen und Amalia die Garderobe des Opfers zusammenpacken. Was sagt diese Szene uber die Atmosphare des Romans aus?
Ingrid Noll: Ich kann mich in die komplizierten Seelen meiner Protagonisten ganz gut einfuhlen. Und viele ihrer negativen Emotionen sind uns allen nicht ganz fremd: Neugier, Hame, Missgunst und Habgier, die in dieser Szene latent zu spuren sind.
Einmal formuliert Ellen ihre Selbstwahrnehmung mit den Worten "... im wahren Leben zur Heldin geworden, zu einer unglaublich edlen Morderin." Verrat diese Stelle etwas uber die spezifisch "Noll'sche Ironie"?
Ingrid Noll: Fast jeder malt sich ein retuschiertes Selbstportrat, verbessert die eigene Biografie, macht im Spiegel ein besonders freundliches Gesicht. Ellen konnte ihre Schuld kaum ertragen, wenn sie sich nicht mildernde Umstande und Entschuldigungen zurechtgelegt hatte. Und da sie sich insgeheim als Buhnenheldin sieht, kommt die Rolle einer edlen Morderin fur Ellen am ehesten in Betracht.Ich hoffe, dass es in diesem Roman einen Nebeneffekt gibt, wenn sich meine Leser gelegentlich ertappt fuhlen ...
In Ihren Geschichten wirken alle Personen sehr authentisch. Erzahlen Sie uns bitte etwas uber die Aspekte Ihres "Handwerks", denen sich insbesondere dieser Effekt verdankt!
Ingrid Noll: Auch ich schlupfe wie eine Schauspielerin in eine fremde Rolle. Ich stelle mir vor, wie ich an Ellens Stelle in bestimmten Situationen empfinden und handeln wurde. Mein Trick liegt einzig und allein in Menschenkenntnis und uberbordender Empathie.
In Fragen der Mode und der modernen Elektronik liegen die handelnden Personen voll im Trend. Sind Ihnen Themen des Lifestyles undder modernen Kommunikation gelaufig oder lassen Sie sich gelegentlich von "Experten" in Ihrer Umgebung uber neue Entwicklungen informieren?
Ingrid Noll: Manchmal lade ich unsere Tochter und die Schwiegertochter zum Einkaufen nach Mannheim ein. Wir machen uns einen schonen Tag, die drei jungen Frauen fuhren mir Kleidungsstucke vor, ich halte die jungste Enkeltochter auf dem Scho?, trinke einen Espresso, darf begutachten und bezahlen. Das macht uns allen Spa?, und ich kann beobachten, was jungen und nicht mehr ganz jungen Frauen gefallt. Zudem gibt es ja Mode- und Lifestyle-Zeitschriften beim Frisor, das Internet fur Recherchen. Fur rein technische Fragen habe ich zwei kompetente Sohne, aber ein wenig wei? ich inzwischen selbst Bescheid. Mein Mann ist als Arzt der perfekte Ratgeber fur schnelle, schmerzlose Mordmethoden, denn ich will ja niemandem wehtun.
Noch ein kurzer Blick in die Zukunft: Haben Sie schon einen weiteren Mord geplant?
Ingrid Noll: Was erwarten Sie eigentlich von einer Serienmorderin? Soll ich mit 77 schon in Rente gehen?