Matthew Thomas
Thomas, MatthewMatthew Thomas, in der New Yorker Bronx geboren und in Queens aufgewachsen, studierte an der Universitat Chicago und Kalifornien. Er lebt mit seiner Frau und Zwillingen in New Jersey. 10 Jahre schrieb der ehemalige Highschool-Lehrer an seinem ersten Roman, und wurde dann mit "Wir sind nicht wir" uber Nacht zum umworbensten Autor des Jahres.Becker, AstridAstrid Becker hat in Berlin und Chicago Komparatistik und Amerikanistik studiert und arbeitet nach verschiedenen Stationen in der Verlagsbranche seit 1998 als Literaturubersetzerin und Lektorin. Ihre Arbeit ist mehrfach, zum Beispiel mit dem Niedersachsischen Ubersetzerstipendium 2014, gefordert worden.Betz, KarinKarin Betz, geboren 1969, ist Sinologin und literarische Ubersetzerin aus dem Englischen, Spanischen und Chinesischen, Englischen und dem Chinesischen, u.a. Werke von Mo Yan und Matthew Thomas. 2013 wurde sie mit dem Anerkennungspreis des Zuger Ubersetzerstipendiums ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.Interview Matthew Thomas - Wir sind nicht wir
"Wir sind nicht wir" (We Are Not Ourselves) wird als einer der besten Romane des Jahres gehandelt, manche vergleichen Sie mit Jonathan Franzen - und das alles bei einem Debut. Wie fuhlt sich das an?
Matthew Thomas: Ich freue mich, dass das Buch den Leuten gefallt. Aber vor allem bin ich froh, dass es endlich fertig ist, nachdem ich so lange daran gearbeitet habe, sodass ich jetzt mit etwas anderem anfangen kann. Als ich schon einige Jahre daran schrieb, hatte ich einige Monate lang so etwas wie eine Schreibblockade. Es machte mir ziemlich zu schaffen, dass das Buch immer noch nicht fertig war. Ich arbeitete als Lehrer an einer Highschool, aber das war nicht das, was ich wirklich machen wollte. Und ich dachte, dass es fur meine Freunde und auch meine Familienangehorigen - also zumindest diejenigen, die von meiner Arbeit an dem Buch wussten - so aussehen musste, als ware das, was ich als meine eigentliche Berufung ansah, namlich das Schreiben, in Wirklichkeit nur so etwas wie ein Hobby. Ich habe mich dann so auf den Wunsch versteift, den Roman endlich fertig zu bekommen und zu veroffentlichen,…mehr
Interview Matthew Thomas, Wir sind nicht wir
"Wir sind nicht wir" (We Are Not Ourselves) wird als einer der besten Romane des Jahres gehandelt, manche vergleichen Sie mit Jonathan Franzen - und das alles bei einem Debut. Wie fuhlt sich das an?
Matthew Thomas: Ich freue mich, dass das Buch den Leuten gefallt. Aber vor allem bin ich froh, dass es endlich fertig ist, nachdem ich so lange daran gearbeitet habe, sodass ich jetzt mit etwas anderem anfangen kann. Als ich schon einige Jahre daran schrieb, hatte ich einige Monate lang so etwas wie eine Schreibblockade. Es machte mir ziemlich zu schaffen, dass das Buch immer noch nicht fertig war. Ich arbeitete als Lehrer an einer Highschool, aber das war nicht das, was ich wirklich machen wollte. Und ich dachte, dass es fur meine Freunde und auch meine Familienangehorigen - also zumindest diejenigen, die von meiner Arbeit an dem Buch wussten - so aussehen musste, als ware das, was ich als meine eigentliche Berufung ansah, namlich das Schreiben, in Wirklichkeit nur so etwas wie ein Hobby. Ich habe mich dann so auf den Wunsch versteift, den Roman endlich fertig zu bekommen und zu veroffentlichen, dass das zu einem volligen Stillstand fuhrte.
Irgendwann fragte ich mich dann, was eine erfolgreiche Veroffentlichung fur mich bedeuten wurde, und mir wurde klar, dass ich dadurch Zeit zum Schreiben bekame. Und dann dachte ich: Wenn ich mich jetzt hinsetze, um ein paar Stunden zu schreiben, dann wurde ich das als erfolgreicher Autor genau so machen. Das war eine schlagende Erkenntnis: Das Wichtige an dieser Arbeit ist nicht das Ergebnis, sondern die Freude am Arbeiten. Jeder Autor, ob er nun schon etwas veroffentlicht hat oder nicht, muss am Schreibtisch sitzen oder stehen. Und dann habe ich mich wieder an die Arbeit gemacht.
Ihr Buch wird verkurzt oft als "Alzheimerroman" bezeichnet. Schmerzt Sie das oder lesen so vielleicht sogar Menschen dieses Buch, die sonst keine Literatur lesen? Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Matthew Thomas: Ich habe keinen Alzheimerroman geschrieben. Ich habe einen Roman geschrieben, in dem sich ein Erzahlstrang um Alzheimer dreht - und ich wollte keine Fallstudie vorlegen. Ich bin Schriftsteller, kein Pamphletist, und wollte ein Kunstwerk schaffen - ein Ensemble uberzeugender Charakterstudien, sorgfaltig ausgearbeitete Formulierungen. Aber wenn der Alzheimeraspekt dem Buch Leser bringt, die es sonst vielleicht nicht gelesen hatten, ist mir das durchaus recht.
Zu denken gibt mir hochstens die manchmal geau?erte Annahme, mein Buch sei im Ganzen so etwas wie eine Fingerubung im autobiografischen Schreiben. Ja, es stimmt, mein Vater hatte Alzheimer, und das emotionale Leben eines Teils der Geschichte hat seine Wurzeln naturlich in meiner eigenen Erfahrung mit dieser Krankheit. Aber meine Figuren und der Plot sind fast vollstandig fiktiver Natur. Und so uberraschtes mich dann schon, wenn behauptet wird - quasi als wusste man das aus erster Hand -, dass Ed fur meinen Vater steht. Ich fur meinen Teil habe immer den Standpunkt vertreten, dass man beim kritischen Lesen zwischen dem Autor auf der einen Seite und seinem Erzahler oder seinen Figuren auf der anderen Seite trennen muss.
Sie sind verheiratet, haben Zwillinge und unterrichteten als Highschool-Lehrer. An Ihrem Roman haben Sie zehn Jahre lang gearbeitet. Wann fanden Sie im Alltag Zeit fur das Schreiben, und was hat Sie uberhaupt zum Schreiben gebracht?
Matthew Thomas: Ich hatte uber hundert Schuler, jeden Tag Sektionssitzungen, etwa alle drei Wochen Klausuren zu korrigieren. Und ich mochte nicht mit dem Schreiben anfangen, bevor ich die Arbeiten bewertet hatte, denn man will die ja rasch zuruckgeben, weil immer schon die nachste vor der Tur steht. Um mich also guten Gewissens ans Schreiben machen zu konnen, musste ich erst mal alles fur den folgenden Tag vorbereiten, und so konnte ich oft erst gegen Mitternacht loslegen. Trotzdem habe ich versucht, jeden Tag mindestens zwei Stunden zu schreiben. Das Gute an der Angst vor Schlafmangel war, dass ich mich dann ordentlich am Riemen gerissen habe. Wenn man mude ist, lasst man sich nicht so leicht von irgendwelchen Gedanken ablenken, da entsteht dann eine seltsame Klarheit. Au?erdem gab mir das Schreiben mit der Hand zusatzlichen Schwung.
Wie ich uberhaupt zum Schreiben gekommen bin? Ich wei? nur, dass ich eigentlich schon immer schreiben wollte. Ich wollte selbst dieses tolle Gefuhl auslosen, das ich beim Lesen eines guten Buches hatte. Geschrieben habe ich eigentlich schon immer, aber die Entwicklung zum Autor begann dann wohl erst im College, weil ich mir da einen Lebensplan zurechtlegte, der im Gro?en und Ganzen das Schreiben und wenig sonst umfasste. Das hei?t, ich habe keine Praktika in den Semesterferien gemacht und auch nichts unmittelbar "Nutzliches" studiert. Als ich im vierten Studienjahr war, habe ich uberhaupt nicht daran gedacht, mich bei einem der Unternehmen zu bewerben, die sich auf den Jobmessen am College vorstellten. Und als ich meinen Abschluss machte, habe ich bewusst solche Jobs vermieden, die mich zu sehr packen und meine volle Kreativitat fordern konnten. Stattdessen habe ich nach einem Job gesucht, bei dem ich einfach meinen Scheck bekam, aber nach dem Arbeitstag noch Reserven im Tank hatte. Nach meinem Aufbaustudium musste ich dann allerdings Geld verdienen, um mir das Leben in der Stadt leisten zu konnen. Und da habe ich dann eine Stelle als Lehrer angenommen - obwohl ich das ziemlich spannend fand und die Gefahr bestand, dass ich mich in diesem Leben einrichte, weil man dabei das Gefuhl hat, etwas Sinnvolles zu tun. Aber ich wollte auch weiterhin schreiben und habe mir dafur immer die Zeit genommen.
Ihre Heldin und Hauptfigur hei?t Eileen Tumulty und stammt aus einer irisch-amerikanischen Einwandererfamilie. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, und Eileen muss schon als Kind viel Verantwortung ubernehmen, sich um die Erwachsenen kummern. Was machen diese Erfahrungen mit Eileen, was wird sie spater fur eine Frau?
Matthew Thomas: Der Einfluss von Eileens Mutter auf ihr Bewusstsein ist kaum zu uberschatzen. Aber nicht nur deren Alkoholsucht wirkt sich auf sie aus. Vielleicht haben sie bemerkt, dass ich sie nur ein einziges Mal bei ihrem Namen nenne, Bridgie. Das steht fur die langsame Ausloschung ihrer Identitat. Sie ist wichtig, einfach weil sie lebt, eine Personlichkeit ist, fur ihre Freunde wichtig ist, und sie spielt eine riesengro?e Rolle fur die Mitglieder der Anonymen Alkoholiker, denen sie hilft. Aber trotzdem geht es ihr so wie vielen Einwanderern damals: Sie verschwindet einfach im riesigen Schlund dieses neuen Landes. Ich denke, dass Bridgie schon daheim auf ihrem Bauernhof in Irland gro?e Visionen hatte. Spater dann arbeitet sie in stattlichen Herrenhausern auf Long Island als Putzfrau und traumt davon, selbst einmal darin zu wohnen. Ich glaube, sie ist eine sehr kluge Frau, hat schon zu Hause auf dem Hof Bucher gelesen und ist vielleicht intellektuell begabter, als irgendjemand ihr das zugetraut hatte. Das versuche ich anzudeuten, indem ich ihr in einem ihrer Trunkenheitsmonologe das Wort "somnambul" in den Mund lege. Das soll fur ihre ganzen begrabenen Traume stehen. Und wenn Bridgie Eileen dann sagt "Aber du wei?t wahrscheinlich nicht, was das bedeutet", und es ihr auch nicht erklart, entsteht da eine Spannung. Bridgie schwingt gewisserma?en die Keule einer aufgeblasenen Sprache, und sie erklart Eileen auch sonst nicht viel. Ich wollte vermitteln, wie dieser Intellekt und dieses Ego unterdruckt wurden. In einer spateren Zeit, selbst schon in Eileens Generation, auch wenn diese ebenfalls unterdruckt wird, hatte Bridgie bessere Chancen auf Entfaltung ihres Potenzials gehabt. Und vielleicht ist das einer der Grunde, warum Bridgie depressiv wird, nachdem sie aus dem Krankenhaus gekommen ist. Vielleicht ist ihr dort klargeworden, dass sich die Dinge nicht so entwickeln, wie sie sich das gewunscht hat. Sie wollte, dass ihr Ehemann sein Potenzial entfaltet, dass er "der Burgermeister ist", wie sie das nennt. Und so wirft schon die Beziehung zwischen Bridgie und Mike in gewisser Weise ihre Schatten auf die Ehe zwischen Eileen und Ed voraus, denn auch Eileen ist frustriert, weil Ed nicht sein Potenzial ausschopft, wie sie es sieht. Es gibt also Themen, die sich in jeder Generation wiederholen, denn Eileen furchtet, dass es ihrem Sohn genauso ergehen konnte. Fast meint man, sie ware in einer Spirale gefangen, aus der sie nicht entkommen kann, zusammen mit diesen Mannern, die ihre Moglichkeiten nicht nutzen - Moglichkeiten, die ihnen offenstehen, die Eileen aber niemals hatte. Und sie glaubt, dass sie es als Mann viel leichter gehabt hatte, das Leben zu fuhren, das sie sich wunscht.
Am Anfang der Ehe wei? man nicht so recht, was man von Ed, Eileens Mann, halten soll. Er verbarrikadiert sich hinter seiner Arbeit, lebt sparsam bis zum Geiz. Aber es gibt auch einen anderen Ed - erzahlen Sie uns von ihm?
Matthew Thomas: Ed ist in vielerlei Hinsicht ein Idealist. Das erkennen wir nicht nur an seinem Berufs-, sondern auch an seinem Privatleben -zum Beispiel in der Szene in Cooperstown, in der er Connell beiseite nimmt und ihn auffordert, das Unmogliche zu denken. Er hat ein besonderes Gespur fur die Moglichkeit des Lebensglucks, und ihm liegt viel daran, dass Connell seine Chancen darauf nutzen kann. Ich denke, er will damit die Saat fur spater legen, wenn er nicht mehr da ist und Connell vielleicht nur noch ein ausgebrannter Erwachsener ist, gezeichnet nicht zuletzt durch die Krankheit seines Vaters. Ed will, dass sein Sohn sein volles Potenzial ausschopft, und zwar nicht nur seine Chancen auf Erfolg - so wie Eileen dies fur Connell will -, sondern auch auf Entfaltung seiner Personlichkeit, seelisch und spirituell.
"Doch sie hatte immer das Gefuhl, dass fur sie andere Regeln galten, die man ihr nie erklart hatte." Woher ruhrt dieses Grundgefuhl von Eileen?
Matthew Thomas: Das klingt, als wurden Sie Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" aus seinem Romanfragment "Der Prozess" zusammenfassen. Darin versucht ein Mann jahrelang vergeblich, durch den von einem Turhuter bewachten Eingang "in das Gesetz" zu kommen. Aber erst kurz bevor er stirbt, sagt der Wachter ihm, dass dieser Eingang nur fur ihn bestimmt gewesen sei und er ihn nun fur immer schlie?en werde. Das scheint mir in der Tat auch eine passende Metapher fur Eileen zu sein. Schon seit ihrer fruhesten Kindheit ist sie sich bewusst, dass ihr viele Turen verschlossen bleiben, dass es gesellschaftliche Krafte gibt, die viel starker sind als sie - und das frustriert sie. Und in einer Art Erleuchtung wird ihr schon in jungen Jahren bei einer Fahrt mit ihrem Vater nach Jackson Heights klar, dass es auch ein anderes Leben gibt als jenes, das sie aus ihren begrenzten eigenen Erfahrungen kennt. Dieser Erkenntnismoment grabt sich dann tief in ihren Charakter ein. Zu Hause bekommt sie nicht viel Anleitung. Als sie im Teenageralter ist, halt ihr Vater sie fur sehr begabt und intelligent - bei einem Toast aufs neue Jahr sagt er scherzhaft: "Eines Tages werden wir alle fur sie arbeiten." Aber sie wird nicht wirklich ans Berufsleben herangefuhrt, sondern muss alles selbst organisieren. Das liegt zum Teil auch daran, dass sie zu einer bestimmten Generation von Frauen gehort und wei?, dass sie sich um sich selbst kummern muss.
Distanz ist ein gro?es Thema in "Wir sind nicht wir". Eine von vielen Szenen, die mich sehr beruhrt: Eileen bemerkt eine weinende Frau bei Starbucks, fuhlt sich unbehaglich deswegen, argert sich sogar leicht. Doch dann verlasst sie nach der Frau das Cafe, will ihr Mut zusprechen - schafft es aber nicht, auchnicht beim zweiten Anlauf. "So war das Leben nun mal: Mit seinem Kummer war man allein. Es war sinnlos, das zu leugnen." Was macht diese Distanz aus und warum ist es fur Eileen besonders schwer (oder unmoglich), diese Distanz zu uberwinden?
Matthew Thomas: Ich denke, dass die Erfahrungen ihrer fruhen Kindheit sie unentrinnbar pragen. Ihre Fahigkeit, so auf andere zuzugehen und sie anzunehmen, wie sie das tief in ihrem Inneren mochte, ist durch ihre Enttauschungen oder ihre Angst vor Zuruckweisung erstickt worden. Und ihre ehrgeizigen Vorhaben haben viel von ihrer Energie und ihrer Tatkraft absorbiert. Fast im ganzen Buch ist sie immer nur am Hetzen, und der einzige Moment, den ich ihr zum Stillsitzen und Genie?en gonne, kommt in der letzten Szene, als sie zusammen mit der indischen Familie, die ihr altes Haus gekauft hat, am Esstisch sitzt. Da ist sie einfach nur Gast, und obwohl sie eigentlich wutend daruber sein konnte, was sie alles verloren hat, ermoglicht ihr irgendetwas - nennen Sie es Gnade oder wie Sie wollen -, einfach nur dazusitzen und zu lacheln. Sie wei?, dass sie ihre Geschichte niemandem wirklich erklaren konnte - in diesem Sinne ist sie unendlich einsam, kann ihre Gedanken ebenso wenig mitteilen wie die weinende Frau trosten. Aber ich hoffe, dass das Buch ihre Geschichte erzahlen kann. Eines meiner Motive war, von einer Figur zu erzahlen, die von der Geschichte an den Rand gedrangt wird.
Oft genug mochte man als Leser Eileens Entscheidungen verhindern. So z. B., wenn sie das gemutliche Haus der Familie verkauft und dies auch fur die netten Mieter, bei denen sich ihr Sohn Connell so wohlfuhlt, bedeutet, dass sie schnell ausziehen mussen. Und das alles fur eine sehr renovierungsbedurftige Villa in einer deutlich besseren Gegend, welche die Familie uberdies finanziell uberstrapaziert. Was treibt Eileen zu diesen Obsessionen, an denen sie stur festhalt?
Matthew Thomas: Eileens Obsessionen grunden in ihrer permanenten Angst vor Veranderungen, glaube ich. Weil ihre Kindheit so chaotisch und unordentlich war, sehnt sie sich nach Ordnung und Stabilitat, und wenn ihr Gleichgewicht spater in ihrem Leben als Erwachsene gestort ist, kommt diese Angst an vielen Stellen zum Vorschein. So argert sie sich zum Beispiel uber Veranderungen in ihrem Viertel in Queens und wird daruber fast zur Rassistin. Das wollte ich psychologisch dramatisieren - wie die Furcht vor Veranderungen zur Angst vor dem Anderen fuhrt. Ich glaube, dass Angst vor der Zukunft zu dem als White flight bekannten historischen Phanomen gefuhrt hat, das unsere Gesellschaft erst heute richtig einordnen kann. Das war die Angst, dass die Verhei?ung der wirtschaftlichen und politischen Vormachtstellung der Nachkriegs-USA sich nicht erfullen konnte, dass der Kalte Krieg die Welt neu formen wurde, und diese Angst au?erte sich bei vielen wei?en Amerikanern als Angst vor Menschen, die anders aussahen als sie selbst.
Spater verwandelt sich diese Angst vor dem Anderen bei Eileen zur Angst vor dem Selbst, vor den Grenzen des Selbst. Sie furchtet, dass sie niemals das Leben fuhren kann, das sie sich wunscht, und fixiert sich stattdessen darauf, ein schoneres Haus in einer besseren Gegend zu kaufen. Sie versucht damit, eine perfekte kleine abgeschlossene Welt zu schaffen - wie diejenige, die sie als Kind einmal zusammen mit ihrer Mutter in den weihnachtlich geschmuckten Schaufenstern an der Fifth Avenue gesehen hatte, in einem der seltenen ruhigen und zartlichen Momente zwischen den beiden. Und bei all ihrem Wunschen und Streben, das sich aber nur auf der Oberflache abspielt, bekommt sie uberhaupt nicht mit, was mit Ed passiert, welches Chaos sich in ihm ausbreitet. Ihre Obsession mit dem Haus nimmt genau in dem Moment konkrete Formen an, in dem bei Ed die ersten Symptome auftreten und in dem das, was kommt, seine Schatten vorauswirft.
Sie erzahlen die Geschichte in "Wir sind nicht wir" auf knapp 900 Seiten, und neben der schonungslosen und sensiblen Schilderung der Alzheimererkrankung von Ed, dem Leben der Familie, dem Ringen von Eileen um ihren Weg, haben mich die Passagen zu Connell, seinem Leben und Erwachsenwerden, besonders gepackt. Gibt es auch fur Sie als Autor eine Figur, die Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist?
Matthew Thomas: Mir ist Connells Freund Elbert sehr nah. Er ist koreanischer Abstammung, der Sohn von Einwanderern, und ein Seelenverwandter von Eileen. Ich glaube, er wird eines Tages ein Unternehmen fuhren, sein Blick ist fest auf die Zukunft gerichtet. Und ich mag den jungen Mann, der mit seinen Freunden die Stra?e entlanglauft, dabei mit Eileen auf der Stra?e zusammensto?t und sie mit seiner Hoflichkeit vollig aus dem Konzept bringt. Eileen vermag dabei nicht zu sehen, dass die Geschichte dieser jungen Manner, ob Latinos oder Asiaten, auch ihre eigene Geschichte und die Geschichte der USA ist. Wir stehen an einem Punkt der amerikanischen Geschichte, an dem Einwanderung nicht nur aus praktischen Grunden fur das Funktionieren des Landes notig ist, sondern auch fur sein spirituelles Uberleben unerlasslich ist, fur den Fortbestand seiner Ideale. Amerika wurde von Immigranten erbaut, und auch wenn es in Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten immer wieder auch nativistische Bewegungen gab, haben die USA doch immer Platz fur hart arbeitende Menschen mit frischen Ideen und mit Energie geboten, einer Energie, die sich aus der Notwendigkeit zur Veranderung der herrschenden Umstande speist. Elbert ist fur mich daher so etwas wie eine mannliche Eileen eine Generation spater. Die Geschichte wiederholt sich, nur mit anderen Figuren.
Interview Matthew Thomas: Ulrike Bauer, Literaturtest