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Pierre Jarawan
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Am Ende bleiben die Zedern
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Ein Lied für die Vermissten
Als 2011 der Arabische Frühling voll entfacht ist, löst der Fund zweier Leichen auch in Beirut erste Unruhen aus. Während schon Häuser brennen, schreibt Amin seine Erinnerungen nieder: an das Jahr 1994, als er als Jugendlicher mit seiner Großmutter aus Deutschland in den Libanon zurückkehrte - zwölf Jahre nach dem Tod seiner Eltern. An seine Freundschaft mit Jafar, mit dem er diese verschwiegene Nachkriegswelt durchstreifte. Und daran, wie er lernen musste, dass es in diesem Land nie Gewissheit geben wird - weder über die Vergangenheit seines Freundes noch über die Geschichte seiner Familie.
»Dieser bewegende Roman ist 17 000 Menschen gewidmet, die während 15 Jahren Bürgerkrieg spurlos verschwanden. Doch Jarawan schildert auch die Schönheit und Poesie des Landes und erinnert an die große Tradition der Hakawati, der arabischen Geschichtenerzähler.« Madame
»Auf mehreren Zeitebenen erzählt Pierre Jarawan souverän und warmherzig von den Wunden des Krieges, verdrängten Traumata und dem Lebensgefühl einer Generation mit beschränkter Hoffnung« Abendzeitung München
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Pierre Jarawan
Jarawan, PierrePierre Jarawan wurde 1985 in Jordanien geboren. Im Alter von drei Jahren kam er mit seiner Familie nach Deutschland. 2012 wurde er Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Sein Romandebüt »Am Ende bleiben die Zedern« (2016) war ein Sensationserfolg.Literaturfestival - Am Ende bleiben die Zedern
Die Suche nach der eigenen Geschichte
November 1992, eine deutsche Kleinstadt. Hier lebt der kleine Samir El-Hourani mit seiner Familie. Die Eltern waren 1983 "aus dem brennenden Beirut" geflohen. Im Libanon herrscht seit 1975 Bürgerkrieg, in dem sich unterschiedliche religiöse und politische Gruppen mit aller Brutalität bekämpfen. Die Familie hat sich eine bescheidene Existenz in der neuen Heimat aufgebaut, sie lebt in einer kleinen Sozialwohnung am Rande der Stadt, in einem Bezirk, wo die Satellitenschüsseln nach "26,0° Ost" ausgerichtet sind. Samir, der wie seine sieben Jahre jüngere Schwester bereits in Deutschland geboren ist, verehrt seinen Vater Brahim.
"Weil er mich so oft teilhaben ließ an seinen beflügelnden Gedanken. Weil er mich mitnahm in Wunderwelten, die er in seinem Kopf erschuf. Weil er mich berauschte mit seinen Worten."
Eines Tages, kurz nach Samirs achtem Geburtstag, verschwindet der Vater. Er verlässt seine Familie, ohne eine Erklärung. "Und so war das Letzte, was ich von meinem Vater sah, seine Silhouette im Türrahmen und wie er liebevoll - zumindest glaube ich das heute - zu mir…mehr
Die Suche nach der eigenen Geschichte
November 1992, eine deutsche Kleinstadt. Hier lebt der kleine Samir El-Hourani mit seiner Familie. Die Eltern waren 1983 "aus dem brennenden Beirut" geflohen. Im Libanon herrscht seit 1975 Bürgerkrieg, in dem sich unterschiedliche religiöse und politische Gruppen mit aller Brutalität bekämpfen. Die Familie hat sich eine bescheidene Existenz in der neuen Heimat aufgebaut, sie lebt in einer kleinen Sozialwohnung am Rande der Stadt, in einem Bezirk, wo die Satellitenschüsseln nach "26,0° Ost" ausgerichtet sind. Samir, der wie seine sieben Jahre jüngere Schwester bereits in Deutschland geboren ist, verehrt seinen Vater Brahim.
"Weil er mich so oft teilhaben ließ an seinen beflügelnden Gedanken. Weil er mich mitnahm in Wunderwelten, die er in seinem Kopf erschuf. Weil er mich berauschte mit seinen Worten."
Eines Tages, kurz nach Samirs achtem Geburtstag, verschwindet der Vater. Er verlässt seine Familie, ohne eine Erklärung. "Und so war das Letzte, was ich von meinem Vater sah, seine Silhouette im Türrahmen und wie er liebevoll - zumindest glaube ich das heute - zu mir herüberblickte."
"Am Ende bleiben die Zedern" - eine umwerfende Familiengeschichte
In Pierre Jarawans Debütroman "Am Ende bleiben die Zedern" (Berlin Verlag) ist das plötzliche Verschwinden des geliebten Vaters der entscheidende Wendepunkt, der vor allem Samirs Leben auf tragische und schmerzliche Weise prägen und seine Persönlichkeit formen wird. Wie der 31-jährige Jarawan, Kind eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter, diese Familiengeschichte erzählt, ist umwerfend, packend und berührend, mit einer reichen, berauschenden Sprache, die in ihrer prallen Empathie die Stimmungstäler und -höhen von Icherzähler Samir auf unvergleichliche Weise plastisch werden lassen kann. Man wundert sich, wie Jarawan diese literarische Reife erlangen konnte. Schließlich ist es sein erster Roman. Bis dato hat er vor allem als Meister des "Poetry-Slams" auf sich aufmerksam gemacht.
Jarawan erzählt die Geschichte der El-Houranis, berichtet von ihrem Ankommen in Deutschland, von ihren ersten Monaten in einer Turnhalle zusammen mit anderen Flüchtlingen, von ihren libanesischen Freunden, die im selben Haus unter der Familie wohnen, von dem Viertel, in dem sie in Deutschland wohnen, zusammen mit vielen anderen Libanesen, und vom Libanon, den der Vater so sehr vermisst. Es ist eine tiefe Sehnsucht, die er seinem Sohn einpflanzt.
"Als Junge verspürte ich eine unstillbare Sehnsucht danach, den Libanon zu sehen. Es war die große Neugier nach einer unbekannten Schönheit, um die sich Legenden rankten. Die Art, in der Vater von seiner Heimat sprach, seine Leidenschaft und Begeisterung, griff wie ein Fieber auf mich über. Der Libanon, mit dem ich aufwuchs, war eine Idee.Die Idee vom schönsten Land der Welt, mit alten und geheimnisvollen Städten, die sich an der steinigen Küste entlangreihten, um sich mit ihren bunten Häfen zum Meer hin zu öffnen."
Bei einer Diashow, die der Vater eines Abends für seine Familie und Freunde vorbereitet hat, taucht urplötzlich ein Foto auf, das den Vater an ein Geheimnis aus der Vergangenheit in der alten Heimat erinnert. Der Vater verändert sein Verhalten, es gibt seltsame Anrufe, schließlich ist der Vater weg. Samir fällt in eine tiefe Trauer, die ihn nie wieder ganz loslässt und die ihm ein glückliches Leben unmöglich macht. "Die Stille, die er hinterlassen hatte, wucherte in meinem Kopf wie ein Nachtschattengewächs." Schließlich, da ist Samir bereits in den Zwanzigern, macht er sich auf in den Libanon, um seinen Vater zu suchen und die Geheimnisse, die seine Familie umgeben, zu lüften.
Eine Suche nach der Identität - die irgendwo zwischen dem Libanon und Deutschland liegt
In die Geschichte Samirs und seiner Familie bindet der Autor Jarawan gekonnt die politische und kulturelle Geschichte des Libanon mit ein - und zwar ohne dass die eigentliche Erzählung erdrückt wird. Die Suche Samirs, die Jagd nach einem romantischen Bild eines Landes und eines Vaters ist schließlich die Suche nach Samirs eigener Geschichte, nach seiner eigenen Identität - die irgendwo zwischen dem Libanon und Deutschland liegt. Es ist nicht nur ein universelles Thema des Menschseins, das Jarawan derart eindringlich und gekonnt zu entrollen weiß, sondern auch ein sehr aktuelles. Flüchtlinge, Migration, das Fremdsein, Integration - all das tangiert diese Geschichte, und zwar nicht moralinsauer, sondern sehr menschlich. Als Leser fühlt man mit, man weint, man lacht - man fühlt mit Samir in diesem wirklich außergewöhnlichen Buch, das die Kraft hat, Leben zu verändern.
Interview mit Pierre Jarawan
Vorab gleich ein Kompliment. Wenn man die Lektüre des Romans "Am Ende bleiben die Zedern" beendet hat, hat man den Eindruck, man habe mehrere Welten und Universen durchschritten. So dicht, so organisch fühlt sich Ihre Arbeit an. Wie ist die Idee zu der Geschichte entstanden?
Pierre Jarawan: Vielen Dank! Das ist ein schönes Lob, weil dieser Effekt mir beim Schreiben tatsächlich wichtig war: den Leser hineinzuziehen in die Geschichte, damit es ihm vorkommt, als würde er Samir Schritt für Schritt auf seiner Reise begleiten. Ein bisschen ging es mir beim Schreiben wie Ihnen womöglich beim Lesen. Ich konnte sehr tief in die Geschichte eintauchen, habe über viele Monate hinweg acht oder neun Stunden am Tag geschrieben und mich dabei sehr wohlgefühlt. Tendenziell ist es mir also leichtgefallen. Das ist vielleicht sogar das größte Lob, das man einer Geschichte machen kann: wenn sie so leicht erzählt daherkommt, dass man ihr die Arbeit nicht anmerkt, die in sie investiert wurde.
Was die Idee angeht, so gab es nie einen bestimmten Zeitpunkt, an dem ich sie festmachen kann. Es ist eher so, dass sie über…mehr
Interview Pierre Jarawan
Vorab gleich ein Kompliment. Wenn man die Lektüre des Romans "Am Ende bleiben die Zedern" beendet hat, hat man den Eindruck, man habe mehrere Welten und Universen durchschritten. So dicht, so organisch fühlt sich Ihre Arbeit an. Wie ist die Idee zu der Geschichte entstanden?
Pierre Jarawan: Vielen Dank! Das ist ein schönes Lob, weil dieser Effekt mir beim Schreiben tatsächlich wichtig war: den Leser hineinzuziehen in die Geschichte, damit es ihm vorkommt, als würde er Samir Schritt für Schritt auf seiner Reise begleiten. Ein bisschen ging es mir beim Schreiben wie Ihnen womöglich beim Lesen. Ich konnte sehr tief in die Geschichte eintauchen, habe über viele Monate hinweg acht oder neun Stunden am Tag geschrieben und mich dabei sehr wohlgefühlt. Tendenziell ist es mir also leichtgefallen. Das ist vielleicht sogar das größte Lob, das man einer Geschichte machen kann: wenn sie so leicht erzählt daherkommt, dass man ihr die Arbeit nicht anmerkt, die in sie investiert wurde.
Was die Idee angeht, so gab es nie einen bestimmten Zeitpunkt, an dem ich sie festmachen kann. Es ist eher so, dass sie über viele Jahre hinweg in mir gewachsen ist, bis es einfach an der Zeit war, sie aufzuschreiben.
Es ist die Geschichte des Jungen Samir, Kind einer libanesischen Familie, die 1982 vor dem Krieg in ihrer Heimat nach Deutschland geflohen ist. Samirs Vater ist Geschichtenerzähler, der von seiner alten Heimat schwärmt und der plötzlich verschwindet. Danach kommt Samir, wie es scheint, nicht mehr richtig auf die Beine. Er lebt mit dem diffusen Bild seines Vaters und dessen ominöser Lebensgeschichte. Ist dieses Bild, diese Sehnsucht nach einem Vater, der für Samir ja auch eine Heimat verkörpert (die er nie gesehen hat) und damit die Sehnsucht nach einer eigenen Geschichte, die Sinn ergibt, auch eine Metapher für viele junge Migranten, die mit einem diffusen Heimatbild in Deutschland aufwachsen?
Pierre Jarawan: Ja, ich denke, dass es vielen jungen Menschen so geht wie Samir. Man muss bedenken, dass diese Generation nicht die Wahl hatte und sich nie bewusst für Deutschland entschieden hat. Sie wächst mit den Geschichten ihrer Eltern an die alte Heimat auf, mit einem "kulturellen Gedächtnis", das womöglich auch stark verklärt wird. So entsteht eine emotionale Verbindung, die aber nicht auf Erlebtem, sondern auf Gehörtem basiert. Samir hindert diese Tatsache daran, sich vollständig in Deutschland zu integrieren. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch viele junge Menschen in Deutschland, denen es so geht wie Yasmin. Sie ist gewissermaßen das Gegenstück zu Samir: Obwohl sie den Libanon noch selbst erlebt hat, verspürt sie nicht das Bedürfnis, dorthin zurückzukehren. Sie ist bestens integriert und ihrem Vater Hakim sehr dankbar dafür, ihr durch seine Flucht ein besseres Leben ermöglicht zu haben.
Schließlich reist Samir in den Libanon und macht sich auf die Suche nach seinem Vater. Er stellt fest, dass die Bilder und Geschichten, die er von Beirut, vom Libanon, von seinem Vater und von seiner Familie hat bzw. kennt, romantisch, oberflächlich und falsch sind - ein Schockerlebnis. Dies aber ist die Voraussetzung dafür, dass Samir sich seiner Zukunft stellen kann. Kann Samir ein Beispiel für junge Leute sein, die eine ähnliche Geschichte haben und die versuchen, ihre eigene Geschichte zu finden?
Pierre Jarawan: Das weiß ich nicht. Sollten Migranten das Buch lesen und daraus etwas für sich selbst ableiten, das ihnen weiterhilft, würde mich das natürlich freuen. Für Samir dreht sich alles darum, endlich die losen Fäden der Geschichte seines Lebens zu einem sinnvollen Ende zu verknüpfen und Antworten zu finden. Wenn wir das auf die heutige Situation übertragen, dann reden wir automatisch von vielen jungen Männern und Frauen, die aus Ländern stammen, in die sie nicht in absehbarer Zeit zurückkehren können, ohne ihr Leben zu gefährden. Das ist ungleich schwieriger.
"Am Ende bleiben die Zedern" ist ihr erster Roman. Vorher waren Sie vor allem ein Meister der kurzen Form, u. a. wurden Sie auch Deutscher Meister im Poetry Slam. Woher rührte der Wunsch, sich in der langen Form und in der Prosa probieren zu wollen?
Pierre Jarawan: Aus künstlerischer Sicht war es der logische nächste Schritt. Zudem sind der Kurzform natürliche Grenzen gesetzt, die schnell klargemacht haben, dass für diese Geschichte nur ein Roman infrage kommt. Der Wunsch war also in erster Linie, diese eine Geschichte zu erzählen und der Roman war als Gattung dafür am besten geeignet.
War Ihnen relativ schnell klar, dass Ihnen das gelingen würde? Oder hat es länger gedauert, bis Sie sich in der Welt der Prosa heimisch gefühlt haben?
Pierre Jarawan: Ich wusste von Anfang an, wie die Geschichte verlaufen sollte und was wann mit welcher Figur passiert. Also habe ich mir eine detaillierte Struktur und einen Plan gezeichnet und ihn an die Wand gehängt. Aber es war ein bisschen, als hätte ich einen Stadtplan für eine Stadt, in der ich noch nie gewesen war - und als ich dort ankam, merkte ich, dass ich den Plan nicht brauchte, weil mir alles sonderbar vertraut vorkam. Vieles von dem, was im Roman zu lesen ist, ist intuitiv entstanden, ich habe mich oft von den Figuren leiten lassen - statt umgekehrt - und trotzdem ist am Ende die Geschichte herausgekommen, die ich erzählen wollte.
Sie selbst sind in Jordanien geboren, haben eine deutsche Mutter und sind im Alter von drei Jahren nach Deutschland gekommen. In dem Roman aber erzählen Sie sehr emotional über den Libanon. Was verbindet Sie mit diesem Land und warum war es Ihnen wichtig, die Geschichte dort anzusiedeln?
Pierre Jarawan: Es ist das Land meines Vaters. Die einzige Verbindung, die ich zu Jordanien habe, ist meine Geburtsurkunde. Jordanien war nur eine Zwischenstation für meine Eltern, nachdem sie den Libanon während des Krieges verlassen hatten. Ich habe den Libanon anschließend durch viele Urlaube und Besuche bei Verwandten kennengelernt und bin umgeben von vielen Libanesen in Deutschland aufgewachsen. Ich erwähne Jordanien so gut wie nie, ich bin in Deutschland und im Libanon zu Hause.
Über den Libanon und die Geschichte des Nahen Ostens sowie dessen Kultur erfährt man als Leser sehr viel in dem Roman. Es wirkt fast kinderleicht, wie Sie Samirs Geschichte im Deutschland der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit der Geschichte der dortigen Region verbinden. Wir gehen davon aus, dass es nicht leicht war, diese Verbindung handwerklich herzustellen, oder?
Pierre Jarawan: Mir ist ziemlich schnell klargeworden, dass man nicht über den Libanon schreiben kann, ohne über Politik zu schreiben. Darum war es notwendig, die Geschichte der Familie mit der großen Geschichte des Nahen Ostens zu verbinden. Die größte Schwierigkeit war es, sich in dem Wirrwarr aus Fakten und Zahlen auf einen Erzählstrang festzulegen. Ich habe mich stark auf die Geschichte zwischen dem Libanon und Syrien konzentriert, weil dabei Dinge vorgefallen sind, die bis in unsere Gegenwart hineinwirken. Genauso gut hätte ich aber auch das Verhältnis zu Israel oder zu Palästina wählen können. Der Libanon ist das Land im Nahen Osten, in dem seit Jahrzehnten die Konflikte einer ganzen Region ausgetragen werden. Die große Tragik dieses Landes ist, dass es so sehr um gesellschaftliche und religiöse Vielfalt bemüht ist, eben diese Vielfalt jedoch fortlaufend zu Konflikten führt. Ich glaube in jedem Fall, dass die Kenntnis der Vergangenheit des Libanon dabei helfen kann, unsere Gegenwart besser zu verstehen.
An einer Stelle des Romans beschreiben Sie die Zeit, welche die Familie El-Hourani nach der Ankunft in Deutschland Anfang der 1980er-Jahre in einer Flüchtlingsunterkunft verbringt, sehr eindrücklich. Man meint, dass es Ihnen ein Bedürfnis ist zu erklären, wie schwierig und einengend die Verhältnisse in solchen Unterkünften sind. Ist das so? Und haben Sie für diese Szenen heutige Flüchtlingsunterkünfte besucht?
Pierre Jarawan: Ich hoffe, ehrlich gesagt, nicht, dass es Romane braucht, um jemandem klarzumachen, wie schwierig das Leben in einer Turnhalle ist. Aber Sie haben recht: Ich habe viel Kontakt zu Flüchtlingen gehabt, auch weil ich mit einigen ein Schreibprojekt für das Münchner Literaturfest auf die Beine gestellt habe. Tatsächlich ist die besagte Stelle im Buch mit der Turnhalle ja eine von sehr wenigen, bei denen die Fluchtgeschichte der Familie explizit thematisiert wird. Samir hat in der Turnhalle die Geburtsstunde seines Vaters als großen Erzähler erlebt. Er lenkt die Menschen in der Halle von der Wirklichkeit ab, indem er fantastische Geschichten für sie erfindet und verlässt die Halle als der Geschichtenerzähler, der er für seinen Sohn werden wird.
Stimmt unser Eindruck, dass Sie sich mit diesem Roman selbst auch ein Stück weit Ihrer eigenen Geschichte und Identität vergewissert haben?
Pierre Jarawan: Ehrlich gesagt, bin ich da deutlich weniger zwiegespalten, als es der Roman vielleicht vermuten lässt. Meine Mutter ist Deutsche, mein Vater ist Libanese. Für mich war es immer selbstverständlich, in beiden Ländern zu Hause zu sein. Wenn Sie diesen Eindruck beim Lesen gewonnen haben, nehme ich das aber gerne als Kompliment, weil das wohl ein Verdienst der Authentizität der Geschichte ist, die mir so wichtig war. Und ganz freimachen kann ich mich von Ihrer Annahme natürlich nicht. Ich habe eine starke emotionale Verbindung zum Libanon und die steckt sicher auch mit im Roman, weswegen es zwar kein autobiografisches, aber doch ein sehr persönliches Buch geworden ist.
Nach solch einem sehr persönlichen Buch: Was planen Sie als Nächstes?
Pierre Jarawan: Ich freue mich jetzt auf eine sehr große Lesereise in beinahe 40 Städten. Irgendwann wird dann der Zeitpunkt kommen, das Buch und die Figuren loszulassen und etwas Neues zu beginnen. Ich werde auf jeden Fall einen zweiten Roman schreiben, eine grobe Idee gibt es auch schon, aber mehr kann ich nicht verraten, nur so viel: Der Libanon hält zahllose Geschichten bereit, die noch nicht erzählt worden sind.
Interview: Literaturtest