Krimi des Monats Oktober 2020
„Die Knochennadel / Peter Hogart Bd.3 von Andreas Gruber“ - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet.
Krimi des Monats
Andreas Gruber: Die KnochennadelDavid und Aimée wirken wie ein Geschwisterpaar aus einem klassischen französischen Film: Beide sind Anfang zwanzig, kultiviert, etwas hochnäsig und rebellisch. In dem durchtrainierten Melancholiker David staut sich jede Menge Wut, die er in langen Jahren als Internatsschüler angesammelt hat. Aimée ist auf dem besten Weg zur klassischen Femme fatale. Scharenweise kann sie die Männer um den Finger wickeln, um sie dann für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Jederzeit sind die beiden bereit, Grenzen zu überschreiten, nicht zuletzt in ihrer eigenen, äußerst intimen Beziehung. Und natürlich lauert hinter all dem ein düsteres Geheimnis: der traumatisierende Verlust beider Eltern vor fünfzehn Jahren. Nun kreuzt sich der Weg der beiden schicksalhaft mit dem des Wiener Versicherungsdetektivs Peter Hogart. Der betont altmodische Mittfünfziger wollte eigentlich nur mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Lebensgefährtin und seiner neunzehnjährigen Nichte Tatjana einen Kurzurlaub in Paris verbringen – doch nach einer spektakulären Auktion in der altehrwürdigen Opéra Garnier überschlagen sich schon bald die Ereignisse.
Zwölf Jahre sind seit Andreas Grubers „Die Engelsmühle“ vergangen. Damals ließ er seinen Serienhelden Peter Hogart den grausamen Mord an einem pensionierten Arzt untersuchen und zeigte seinem Publikum die Schattenseiten seiner Heimatstadt Wien. In Hogarts lang erwartetem dritten Fall bildet nun Paris den Hintergrund – genauer gesagt: die Welt der französischen Bourgeoisie. Mit viel Sinn für die touristischen Schauwerte der Seine-Metropole kommt das moderne Hochhausviertel La Défense genauso zu seinem Recht wie der alte Glanz von Versailles. Auch ein paar stimmungsvolle Ausflüge nach Monaco und an die Côte d’Azur dürfen nicht fehlen. Selbstredend steht aber die titelgebende Knochennadel im Mittelpunkt. Die etwa 800 Jahre alte, aus Elfenbein geschnitzte Kostbarkeit wechselt erst für den sagenhaften Preis von 7,3 Millionen den Besitzer, dann verschwindet sie spurlos, zusammen mit Elisabeth, der verantwortlichen Auktionatorin – und Peter Hogarts Lebensgefährtin.
Für Hogart wird es also unvermutet persönlich. Der Versicherungsdetektiv, der es gewohnt ist, sich ausschließlich auf sein Bauchgefühl und seine langjährige Erfahrung zu verlassen, muss hier zum einen um sein privates Glück fürchten. Gleichzeitig hat er mit seiner Nichte eine ehrgeizige Detektivanwärterin an seiner Seite, die moderne Errungenschaften wie Handy-Apps ganz selbstverständlich in ihre Ermittlungen einbezieht und somit auch Hogarts professionelles Selbstverständnis zunehmend infrage stellt. Als Tatjana dann auch noch entführt wird, beginnt ein Wettlauf mit der Zeit. Dabei zeigt sich, dass die tiefsten menschlichen Abgründe nicht nur dort lauern, wo jemand aus bloßer Gier nicht genug bekommen kann. Noch gefährlicher wird es, wenn Menschen aufgrund früher einschneidender Erfahrungen nichts mehr zu verlieren haben. Und so erweist sich Andreas Gruber in seinem neuen Peter-Hogart-Thriller nicht nur einmal mehr als Autor mit einem besonderen Talent für spektakuläre Handlungsorte und originelle Charaktere, sondern auch als versierter Kenner der menschlichen Psyche und ihrer Abgründe.
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