Krimi des Monats Juli 2019
„Die kalten Sekunden“ von Remigiusz Mróz - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Krimi des Monats
Remigiusz Mróz: Die kalten SekundenDamian Werner kann es kaum glauben, als er auf Facebook ein Foto von seiner Verlobten Ewa entdeckt. Mitten im Publikum eines Stadionkonzerts der US-amerikanischen Rockband Foo Fighters sieht sie fröhlich und unbefangen aus - als wäre nichts passiert. Zehn Jahre zuvor, an dem Abend, an dem Damian seiner Jugendliebe Ewa einen Heiratsantrag gemacht hatte, waren beide von ein paar betrunkenen Unbekannten überfallen worden. Ewa wurde mehrfach vergewaltigt - vor den Augen ihres zu Boden gezwungenen und schließlich ohnmächtig geschlagenen Freundes. Am nächsten Tag war sie verschwunden, spurlos. Damian hatte damals alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Ewa zu finden oder zumindest Gewissheit über das zu erhalten, was seit jener Nacht mit ihr passiert war. Doch die Polizei stand genauso vor einem Rätsel, wie er selbst. Schließlich hatte er sich sogar in der Bar anstellen lassen, aus der die Täter damals gekommen waren, in der vagen Hoffnung, wenigstens einen von ihnen irgendwann unter seinen Gästen wiederzuerkennen. Doch nichts war passiert - bis eben zur Entdeckung jenes Fotos, mit dem bei Damian eine neue Hoffnung zu wachsen beginnt, aber auch der alte Schmerz und die Zweifel wieder hochkommen, ob seine innige, vertrauensvolle Beziehung zu Ewa vielleicht doch nichts weiter war als eine schöne Illusion ...
Bis hierhin erzählt "Die kalten Sekunden" eine tragische Liebesgeschichte - mit Aussicht auf eine kriminalistische Schnitzeljagd, die Damian von seiner nahe der polnisch-tschechischen Grenze Heimatstadt Opole durch halb Polen führen wird. Doch als Kasandra, die Chefin einer privaten Detektei beginnt, ihn bei seiner Suche nach Ewa zu unterstützen, bekommt der Fall eine Parallelhandlung und damit eine weitere, äußerst beklemmende Dimension.
Während Damians Leben von außen, durch einen willkürlich scheinenden Einbruch roher Gewalt aus den Fugen geraten war, ist Kasandra ihrem Peiniger schutzlos ausgeliefert, Tag für Tag, in ihren eigenen vier Wänden. Ihr Ehemann sorgt zwar fürsorglich für den gemeinsamen Sohn, verwandelt sich aber dennoch fast allabendlich in einen unkontrollierbaren Psychopathen. Er lässt seinen Frust, seine Eifersucht oder auch nur sein willkürlich aufbrausendes Temperament an seiner Frau aus, mit verbalen Demütigungen, mit geradezu ritualisierten Tritten und Schlägen auf die bald darauf der ebenso ritualisiert wirkende Zusammenbruch folgt: Scham, das Betteln um Verzeihung und das Versprechen, sich zu bessern. Bisher ist Kasandra geblieben, weil sie nicht ohne ihren Sohn fliehen würde, weil sie nicht wüsste, wohin, weil sie befürchtet, das sich nach einem gescheiterten Fluchtversuch der Zorn ihres Mannes auch gegen das gemeinsam Kind richten könnte. Erst der regelmäßige Kontakt zu Damian, über einen gesicherten Chatroom im Darknet, lässt Kasandra nach und nach zu ihrem eigenbrötlerischen Klienten Vertrauen aufbauen. Ein Plan wird konkret, der beide aus ihrer verzweifelten Lage befreien könnte.
Der 32-jährige Remigiusz Mróz, ein ehemaliger Anwalt, gehört mit seinen in den letzten sechs Jahren erschienen 30 Romanen zu den erfolgreichsten Autoren Polens. Mit "Die kalte Sekunden" beweist er einmal mehr sein herausragendes Talent, das Publikum mit facettenreichen Hauptfiguren und geschickt gesetzten Cliffhangern zu bannen. Gleichzeitig gelingt es ihm, mit der ungeschönten Schilderung von häuslicher Gewalt eine Debatte über ein Thema anzustoßen, das allzu oft totgeschwiegen wird und hinter Mauern aus Scham und Angst verborgen bleibt.
Autoreninterview
Interview mit Remigiusz Mróz zu "Die kalten Sekunden"Es ist ungewöhnlich, dass ein Thriller ein gesellschaftliches Problem wie häusliche Gewalt so eingehend behandelt, wie es Ihr Buch tut. Warum haben Sie dieses Thema gewählt?
Remigiusz Mróz: Eigentlich habe ich es mir nicht ausgesucht. Es sind eher meine Bücher, die sich ihre Themen selbst aussuchen. Wenn ich zu schreiben anfange, starre ich buchstäblich auf eine leere Seite. Weder kenne ich die ganze Geschichte, noch bin ich mit den Charakteren vertraut. Es sind die Dinge, die sie tun, die das Hauptthema des Buchs entstehen lassen. In diesem Fall war das häusliche Gewalt. Warum? Weil der Ehemann der weiblichen Hauptfigur Kasandra ein Monster ist. Und warum ist das so? Das ist eine Frage, wie sie sich jeder beim Schreiben stellt. In diesem Fall steckt die Antwort wohl irgendwo tief in meiner Seele - denn meine Mutter verließ meinen leiblichen Vater wegen Missbrauchs, als ich ein kleines Kind war.
Trotz dieses schweren Themas ist "Die kalten Sekunden" ein ungeheuer fesselndes Buch. Wie haben Sie das Gleichgewicht zwischen einer persönlichen Tragödie und den Regeln des Krimigenres gefunden?
Remigiusz Mróz: Stephen King, mein größtes literarisches Idol, glaubt, dass man Geschichten findet und nicht erschafft. Das glaube ich auch. Sie existieren bereits irgendwo, und es ist Sache von Autor*innen, sie zu vermitteln. Wo sind sie? Was sind sie? Niemand weiß es. Doch das sind die Fragen, die den gesamten Prozess des Schreibens so faszinierend machen.
Damian, die männliche Hauptfigur Ihres Buches, ist viel unterwegs. Sind Sie selbst auch auf diese Reise gegangen?
Remigiusz Mróz: O Gott, nein! Ich reise nicht oft. Ich bin ein unheilbarer Workaholic. Ich glaube, dass die beiden wichtigsten Aspekte des Schreibens Empathie und Kreativität sind. Wenn man die ausbauen kann - einfach nur, indem man an seinem Schreibtisch sitzt -, ist das ideal. Nur manchmal, wenn das nicht der Fall ist, müssen die Grenzen der Vorstellungskraft durch äußere Einflüsse erweitert werden. Dann ist es an der Zeit, zu reisen.
Wie haben Sie für "Die kalten Sekunden" recherchiert?
Remigiusz Mróz: Die Recherche für dieses Buch war die härteste von allen. Ich war mir nicht sicher, ob die Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, überhaupt mit mir darüber sprechen würden. Schließlich taten sie es und erzählten mir Geschichten, die absolut erdrückend waren. Meine größte Angst war, dass ich ihnen und ihren Emotionen nicht gerecht werden könnte. Aber ihre Reaktionen haben mich erleichtert. Zudem haben wir für die Opfer von häuslicher Gewalt eine Hotline eingerichtet und den Kontakt am Ende der polnischen Ausgabe abgedruckt. Es hat mich sehr berührt, wie viele Frauen sich nach dem Lesen meines Buchs entschlossen haben, über diese Hotline Hilfe zu holen. Ich glaube, das ist eine wahre Stärke der Literatur.
Ihr eigentlicher Beruf ist Anwalt. Können Sie sich deshalb leichter mit Opfern oder sogar mit Tätern identifizieren?
Remigiusz Mróz: Vielleicht liegt der Schlüssel auch hier im Einfühlungsvermögen. Ein Anwalt zu sein hilft zu erkennen, dass die Täter auch Menschen sind, normale Menschen, denen wir jeden Tag über den Weg laufen: unsere Nachbarn, unsere Freunde, manchmal auch unsere Verwandten. Monster sehen aus wie Menschen, weil sie Menschen sind. Auch gute Leute tun schlechte Dinge, und es ist meine Aufgabe als Schriftsteller, zu verstehen, warum sie das tun. In dieser Hinsicht kommt das Schreiben der Arbeit eines Anwalts ziemlich nahe.
Empfinden Sie es als Verpflichtung, zumindest zu versuchen, dass sich manche Dinge zum Besseren verändern?
Remigiusz Mróz: Ich denke, jede*r Autor*in tut das auf die eine oder andere Weise. Ich bin Botschafter für die Kampagne "Ich liebe. Ich respektiere", die darauf abzielt, häusliche Gewalt zu bekämpfen. Wir möchten betonen, dass jede Frau das Recht hat, glücklich zu sein. So einfach ist das. Und doch ist es eines der schwierigsten Dinge, die man den Opfern vermitteln kann. In Polen kommt es alle vierzig Sekunden zu häuslicher Gewalt! Und doch werden nur 20 Prozent der Täter verurteilt. Das muss sich ändern.
Was können wir konkret gegen häusliche Gewalt tun?
Remigiusz Mróz: Wir sollten unsere Haltung ändern. Wenn wir von häuslicher Gewalt hören, ist die erste Reaktion oftmals: Was hat die Frau getan? Wie hat sie ihn provoziert? Und wenn es nicht zum ersten Mal geschah: Warum hat sie ihn nicht verlassen? Diese letzte Frage ist entscheidend. Sie zeigt, dass wir das Problem nicht verstehen. Sie kann nicht gehen. Sie ist ein Opfer, es ist nicht ihre Entscheidung, in dieser vergifteten Beziehung zu verharren. Sie hat Angst, ist eingeschüchtert und wird von dem Menschen gemobbt, den sie liebt - weil sie ihn liebt. Er hat sich am Anfang nicht als Monster gezeigt, im Gegenteil, er war charmant und liebevoll. Bis zu einem bestimmten Punkt. Es ist die Liebe, die häusliche Gewalt zu so einem schwierigen Thema macht.
Ihre Bibliografie als noch junger Schriftsteller ist beeindruckend. Wie schaffen Sie das?
Remigiusz Mróz: Ich warte nicht auf eine Inspiration, sondern setze mich einfach hin und schreibe die Geschichte, die sich in meinem Kopf abspielt. Als ich mich entschied, keine Anwaltskarriere anzustreben, habe ich einen Vertrag mit mir selbst geschlossen: Okay, du kannst alles darauf setzen, ein Schriftsteller zu werden, aber du musst jeden Tag mindestens acht Stunden lang schreiben. Ich schaffe das, weil ich bis 14 Uhr schreibe, dann eine Weile laufen gehe, um in meinem Kopf sozusagen den Resetknopf zu drücken. Dann schreibe ich nochmal bis Mitternacht. Das funktioniert gut, zumindest in der Hinsicht, dass ich noch nicht in einem Irrenhaus eingesperrt worden bin. Noch nicht [lacht].
Interview: Literaturtest, 2019
Autorenporträt
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