Kinderbuch des Monats April 2020
„Tara und Tahnee“ von Patrick Hertweck - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Kinderbuch des Monats
Patrick Hertweck: Tara und Tahnee. Verloren im Tal des GoldesIm Oktober 1856 wird die Sierra Nevada schon von Schneestürmen durchgeschüttelt. In einer versteckt liegenden Hütte wartet die elfjährige Tahnee auf ihren Vater, der auf der Jagd ist, als sie plötzlich vor einem Kopfgeldjäger überfallen wird. Mithilfe eines Maidu-Jungen und eines entflohenen Sklaven kann Tahnee entkommen. Doch wie kann sie es schaffen, auch ihren Vater zu retten? Während sich Tahnee durch die Wildnis schlägt, sitzt die gleichaltrige Tara behütet wie eine Prinzessin auf dem Anwesen ihres Großvaters fest. Ihr Tagebuch füllt sie mit Briefen an ihre Mutter, die sie nie kennenlernen konnte. Als Tara erstmals ans Meer darf, kommt es zu einer Begegnung, nach der sich alles verändert …
Was?
„Tara und Tahnee“ ist gleichzeitig ein fast klassischer Abenteuerroman und eine geheimnisumwobene Familiengeschichte. Erzählt wird aus der Sicht der beiden Mädchen, die in gegensätzlichen Welten aufwachsen und es schaffen, sich darin jeweils auf ihre Weise zu behaupten. Der Wilde Westen zeigt seine faszinierende Seite mit Goldgräbern und Neureichen ebenso wie seine Brutalität und Gesetzlosigkeit. Doch auch hier lohnt es sich, für die gute Sache zu kämpfen.
Wie?
Selten kann man das von einem Buch behaupten: Dieses Abenteuer ist von der ersten Seite an hochspannend und bleibt es bis zum atemberaubenden Finale. Selbst wer das Geheimnis, das die Mädchen verbindet, schon erahnt, wird von der turbulenten Geschichte ein ums andere Mal verblüfft.
Für wen?
Der Autor schreibt in der Tradition von Charles Dickens und hält eher wenig von Altersangaben. Vom Verlag wird das Buch für Kinder ab zehn Jahren empfohlen – und das ausdrücklich ebenso für Jungs wie Mädchen. Ihren Spaß haben hier zudem nicht nur mutige Neunjährige, sondern eben auch abenteuerliebende Erwachsene.
Von wem?
Patrick Hertweck lebt als freier Schriftsteller mit seiner Familie in Freiburg im Breisgau. Zu seinen erfolgreichen Jugendromanen wird er vielleicht ebenso vom nahe gelegenen Wald wie von seinen drei Söhnen angeregt. Zudem recherchiert er gern auf den Spuren der Geschichte.
Und weiter?
Wer Patrick Hertweck mit „Tara und Tahnee“ entdeckt hat, kann als nächstes Buch „Maggie und die Stadt der Diebe“ verschlingen, ein ebenso spannendes historisches Abenteuer. Und der Autor bleibt seinem Genre treu. Im buecher.de-Interview berichtet er von seinem nächsten Roman, der wieder in eine düstere Ecke des 19. Jahrhunderts entführt …
Autoreninterview
Interview mit Patrick Hertweck zu „Tara und Tahnee. Verloren im Tal des Goldes“Elfjährige Mädchen in einem Wildwest-Abenteuer: Wie haben Sie den Verlag von dieser überraschenden Idee überzeugt?
Zunächst habe ich meinem Verlag von dem faszinierenden Schauplatz vorgeschwärmt, den nach meiner Ansicht das San Francisco Mitte des 19. Jahrhunderts für einen historischen Abenteuerroman bot. Dann schrieb ich den Anfang meiner Geschichte, die Szene mit Tahnee und einem mysteriösen Fremden in einer Blockhütte in einem abgelegenen Tal der Sierra Nevada. Das Setting und mein Plot gefielen den Verantwortlichen meines Verlags Thienemann-Esslinger auf der Stelle. Darum brauchte ich keine große Überzeugungsarbeit leisten.
Wie bei Ihrem Debüt „Maggie und die Stadt der Diebe“ ist das Setting in den USA des 19. Jahrhunderts angesiedelt. Wo haben Sie für diese uns doch recht ferne Welt recherchiert?
Für „Maggie und die Stadt der Diebe“, das um 1870 in New York spielt, war die Recherche einfacher, da es dazu viele zeitgenössische Texte und auch Bildmaterial gab. Die Suche nach Informationen über die Lebensumstände und nach Erfahrungsberichten aus der turbulenten Zeit des kalifornischen Goldrausches dagegen gestaltete sich deutlich schwieriger. Aber schließlich bekam ich doch ausreichend Material aus Fachbüchern und Artikeln im Internet zusammen, um in meiner Fantasie nach Kalifornien im Jahre 1856 reisen und dort mein neues Abenteuer ansiedeln zu können.
Wie muss man sich das San Francisco dieser Zeit vorstellen?
Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts stand am heutigen Standort von San Francisco das Dorf Yerba Buena. 1847 wurde Kalifornien Teil der Vereinigten Staaten und die Siedlung erhielt ihren heutigen Namen. Ein Jahr später wurde Gold in der Gegend entdeckt und kurz darauf startete der legendäre California Gold Rush. Über Nacht wurde San Francisco zum Hauptankerplatz für unzählige Schiffe mit Goldsuchern aus aller Welt. Am Hafen verließen oft nicht nur die Passagiere das Schiff, sondern auch die gesamte Besatzung, um zu den Goldfeldern in der Sierra Nevada zu eilen. Zurück blieben Hunderte Schiffe, die mit der Zeit in der Bucht zu verfaulen begannen. Andere fanden einen neuen Verwendungszweck als Läden, Hotels oder Tavernen.
Die unkontrollierte Einwanderung führte zu Zuständen, die dem Wilden Westen in nichts nachstanden. Es herrschten Anarchie und Korruption vor. Aus dem Dorf war bald eine Stadt mit mehr als 50.000 Einwohnern erwachsen. Im verregneten kalifornischen Winter verwandelten sich die engen, pflasterlosen Gassen in ein riesiges Schlammloch. Die hygienischen Zustände spotteten jeder Beschreibung. Die Digger, wie man die Goldgräber damals nannte, hausten in billigen Absteigen, Zelten und Baracken und verprassten nach Sonnenuntergang in den zahlreichen Saloons und Spielhöllen ihre kargen Einkünfte. Höchst selten begegnete man in der damaligen Stadt einem weiblichen Wesen. Kinder bekam man sogar noch seltener zu Gesicht.
Fiel Ihnen die Gratwanderung zwischen realistischer Darstellung, zum Beispiel von Gewalt, und Rücksicht auf die junge Leserschaft leicht?
Ich muss zugeben, dass ich während der Arbeit an einem Manuskript nur selten an mein zukünftiges Publikum denke. Beim Schreiben lasse ich mich von meinem Geschmack leiten. Ich versuche Bücher zu entwickeln, die mir selbst gefallen würden. Dabei ist mir wichtig, die Welt, in der meine Geschichte spielt, realistisch darzustellen. Dass mein Text am Ende keine zu brutalen Beschreibungen enthält und von Kindern ab etwa zehn Jahren ohne Bedenken gelesen werden kann, geschieht intuitiv. Immerhin bin ich dreifacher Vater, und da bekommt man ein Gefühl dafür.
Das Leben von Tahnee und ihrem Vater spricht auch die Sehnsucht nach einer Naturverbundenheit an. Könnten Sie so zurückgezogen in der Wildnis leben bzw. überleben?
Mir scheint es auch so, dass sich meine wachsende Sorge über die Auswirkungen unseres Handelns auf die Umwelt in meiner neuen Geschichte widerspiegelt. Die Erschließung des nordamerikanischen Kontinents steht nach meiner Überzeugung exemplarisch dafür. Tatsächlich sehne ich mich oft nach mehr Stille und Naturnähe in meinem Leben. Würde man mich allerdings in der Wildnis aussetzen, wäre ich nicht nur hoffnungslos verloren, sondern würde mich sicher auch rasch wieder nach den Errungenschaften des modernen Lebens sehnen. Ich bin darum nicht als Aussteiger geeignet, möchte aber dafür werben, dass wir alle mehr Verzicht üben. Nach meiner Überzeugung führt dieser nicht zu weniger Lebensfreude, sondern zum Gegenteil. Es wird Zeit, uns einzugestehen, dass unendliches Wirtschaftswachstum in einer endlichen Welt nicht möglich ist.
Gab es für Tahnee und Tara literarische – oder vielleicht filmische – Vorbilder? Und welche Abenteuerbücher haben Sie als Kind gern gelesen?
Ich muss zugeben, dass mir erst während des Schreibens aufging, dass sich Taras und Tahnees Abenteuer zu einer Wildwest-Geschichte entwickelte, denn ursprünglich sollte ein Großteil der Handlung in San Francisco spielen. Das hat mir zunächst ein paar Sorgen bereitet, denn ich hatte mit diesem Genre in meinem Leben kaum Berührung. Ich habe etwa nie Karl May gelesen und auch den Winnetou-Filmen in meiner Kindheit konnte ich nicht viel abgewinnen. Mich faszinierten eigentlich eher die Geschichten von Dickens, Wilde und Doyle aus dem Viktorianischen London oder die Piraten von Robert Louis Stevenson.
Der Roman liest sich auch für Erwachsene hochspannend. Würden Sie gern mal einen Thriller für eine jugendliche oder erwachsene Zielgruppe schreiben?
Ich freue mich sehr, dass Sie das sagen, denn ich sehe mich selbst nicht als Kinderbuchautor. Ich schreibe Romane, die zwar für Kinder geeignet sind, aber ich versuche Geschichten auf Papier zu bannen, an denen auch Erwachsene ihren Spaß haben, die abenteuerliche Geschichten mögen. Aus Marketinggründen werden Bücher heutzutage für eine Zielgruppe definiert. Solche Schubladen gab es in Zeiten von Charles Dickens oder Robert Louis Stevenson, in deren Tradition ich mein Schreiben sehe, noch nicht. Deshalb wurden deren Bücher schon seit jeher sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen gelesen. Allerdings reizt es mich durchaus, auch einmal jugendliche oder erwachsene Figuren in den Mittelpunkt einer Geschichte zu rücken. Spätestens dann wird man eines meiner Bücher nicht mehr allein in der Kinderbuchabteilung finden.
Können Sie uns schon etwas über Ihr nächstes Buch verraten?
Aktuell arbeite ich an einer Geschichte, die erneut im 19. Jahrhundert spielt, jedoch nicht in Amerika, sondern an einem sehr weit entfernten Ort. Durch reinen Zufall bin ich wieder auf ein faszinierendes Kapitel der Geschichte gestoßen und zugleich auf einen Handlungsort, der nach meiner Meinung gleichermaßen außergewöhnlich wie auch ideal für einen fesselnden historischen Abenteuerroman mit ernsten Untertönen ist …
Interview: Literaturtest, 2020
Autorenporträt
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