Autor: bücher.de
Datum: 01.12.2020
Tags: Empfehlung, Krimi des Monats


Atlanta 1956: In der pulsierenden Südstaatenhauptstadt verschärfen sich die Rassenkonflikte, als die Bürgerrechtsbewegung mit dem jungen Reverend Martin Luther King Jr. einen neuen Wortführer bekommt. In dieser ohnehin schon angespannten Lage wird Arthur Bishop, der Herausgeber der führenden schwarzen Tageszeitung ermordet. Sofort gerät der Journalist und ehemalige Cop Tommy Smith ins …
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Krimi des Monats

Thomas Mullen: Lange Nacht (Darktown 3)

Es ist, als würden ihn die Geister der Vergangenheit einholen. Zweieinhalb Jahre lang hatte Tommy Smith in der ersten schwarzen Polizeieinheit Atlantas seinen Dienst geleistet. 1948 waren er und seine sieben Kollegen aus wahltaktischem Kalkül vom Bürgermeister der Hauptstadt des US-Bundesstaates Georgia ernannt worden. Ein Büro wurde ihnen aber nur außerhalb der Polizeiwache im Keller eines YMCA-Gebäudes zugeteilt. Sie hatten in Darktown, einem Viertel mit ausschließlich schwarzer Bevölkerung, für Recht und Ordnung zu sorgen. Gegen Weiße zu ermitteln, war ihnen verboten. Die Dienstwaffen, die ihnen später zugeteilt wurden, durften sie nicht benutzen. Entnervt von einem Alltag, in dem Smith alle erdenklichen Spielarten von Rassismus zu spüren bekam, hatte er vor gut fünf Jahren das Handtuch geworfen. Als Polizeireporter arbeitet er nun für die Atlanta Daily Times, die einzige „schwarze“ Tageszeitung Amerikas. Eines Tages, im Jahr 1956, wird deren Herausgeber Arthur Bishop in seinem Redaktionsbüro erschossen. Smith ist als Erster am Tatort und gerät sogleich als Verdächtiger ins Fadenkreuz seiner ehemaligen Kollegen.

Nicht zuletzt, um der drohenden Todesstrafe zu entgehen, versucht Tommy Smith seinen ehemaligen Vorgesetzten, den weißen Sergeanten Joe McInnis, und seinen Ex-Kollegen Lucius Boggs inoffiziell zu unterstützen. Eine erste Spur scheint auf einen von Bishops letzten Artikeln zu verweisen. In ihm ging es um einen jungen schwarzen Mann, der von seiner weißen Freundin wegen Vergewaltigung angezeigt worden war. Bishops Recherchen legten nah, dass die Familie der jungen Frau diese Anzeige initiiert hatte, um die unerwünschte Beziehung zu zerstören. Im Zuge der Veröffentlichung seines Artikels hatte Bishop eine Reihe von Drohbriefen erhalten. Während hier die Ermittlungen in alle Richtungen laufen, schafft es ein anderer Fall auf die Titelseite der Daily Times. Im 250 Kilometer entfernten Montgomery hat die Polizei einen der Söhne der Stadt Atlanta, Martin Luther King jr., wegen einer angeblichen Geschwindigkeitsübertretung festgenommen. King gehört zu den Organisatoren des laufenden Busboykotts, der zu einem Meilenstein der Bürgerrechtsbewegung werden sollte, und hatte bereits einen Bombenanschlag auf sein Wohnhaus überlebt. Es sind Zeiten des Umbruchs – und es gibt Kräfte, die sich ihm mit allen Mitteln in den Weg stellen.

„Lange Nacht“ ist der letzte Teil von Thomas Mullens „Darktown“-Trilogie, die auf wahren Begebenheiten basiert. Jene erste schwarze Polizeieinheit und ihr Kellerbüro hat es in Atlanta genauso gegeben wie die Ermordung eines schwarzen Zeitungsherausgebers. Die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. bildet dabei nur den historischen Rahmen einer Kriminalgeschichte, die trotz ihres Realitätsbezugs genauso fiktiv ist wie ihre schillernden Helden. Die hier versammelten Reporter und Polizisten erinnern eher an klassische amerikanische Hardboild-Krimis von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett als an historische Romane. Aber gerade deshalb gelingt es Mullen, uns die andere Seite der US-amerikanischen Geschichte der 1950er-Jahre nahezubringen. Jenseits von Petticoats und Elvis Presley führt „Lange Nacht“ in die vibrierende, urbane Welt der Südstaaten und erzählt von einer bis in die Gegenwart reichenden gesellschaftlichen Spaltung – mit Hoffnung auf Veränderung.

Ermittlerportrait

Ermittlerportrait zur „Darktown“-Trilogie

In Thomas Mullens „Dark Town“ und „Weißes Feuer“ waren die schwarzen Polizisten Tommy Smith und Lucius Boggs und ihr weißer Vorgesetzter Joe McInnis ein Ermittlertrio, das sich unter widrigsten Umständen zu bewähren hatte. In der Südstaatenmetropole Atlanta waren Smith und Boggs 1948 vom weißen Bürgermeister öffentlichkeitswirksam als Polizisten eingestellt worden. Schließlich standen Wahlen bevor, und die im streng abgetrennten Viertel Darktown lebende schwarze Bevölkerung durfte zum ersten Mal ihr Stimmrecht wahrnehmen. Obwohl sie weder Dienstfahrzeuge bekamen, noch das Recht hatten, Weiße auch nur zu kontrollieren, wurden Smith und Boggs für einen Teil ihrer Community zu Helden; andere begegneten ihnen als Repräsentanten der Staatsgewalt mit Misstrauen. McInnis indes haderte mit seinem Außenseiterstatus als einziger weißer Polizeibeamter in Darktown. Immer wieder hatte er Probleme, Habitus und Codes seiner Untergebenen nachzuvollziehen, die ihrerseits verschiedener kaum sein konnten.

Lucius Boggs stammt aus einer Pfarrersfamilie, sein Vater ist der Familie des Bürgerrechtler Martin Luther King Jr. freundschaftlich verbunden. Boggs gilt als streng und ernsthaft. Er liest einige Tageszeitungen und vergräbt sich lieber in Polizeiakten, als Dienst auf der Straße zu schieben. Tommy Smith hat hingegen den Ruf eines Querulanten, der Vorschriften gerne als persönlichen Angriff versteht. Er ist ein notorischer Schürzenjäger und Lebemann, der immer wieder von seinen wenige Jahre zurückliegenden traumatischen Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg heimgesucht wird. Doch als marginalisierter Teil einer Behörde, in der Rassismus an der Tagesordnung und ein großer Teil der Kollegen sogar im Ku-Klux-Klan organisiert ist, werden Smith und Boggs zu einem eingeschweißten Team. Im Zweifelsfall ignorieren sie auch Weisungen von ganz oben, etwa wenn der Mord an einem schwarzen jungen Mann durch einen weißen Polizisten zu den Akten gelegt werden soll.

Obwohl in „Lange Nacht“, dem Abschluss der „Darktown“-Trilogie, Tommy Smith seinen Job längst an den Nagel gehängt hat und auch McInnis darüber nachdenkt, ob es noch Sinn macht, gegen den weiterhin grassierenden Rassismus in Atlantas Stadtverwaltung anzukämpfen, arbeiten die beiden mit Detective Boggs ein weiteres Mal Hand in Hand. Smith raucht und trinkt noch ungenierter und pflegt immerhin seine einzige stabile Beziehung – die zu Bertha. So nennt der frisch gebackene Polizeireporter seine kaum funktionsfähige Schreibmaschine. Doch nach wie vor hat sich Smith seinen kühlen Sachverstand erhalten, der ihm auch als Journalist sehr dienlich ist. Sein alter Kollege Boggs hingegen scheint durch die langen Dienstjahre abgebrühter als früher und weiß seine familiären Beziehungen geschickt für seine Ermittlungen ins Spiel zu bringen. Obwohl sich ihre beruflichen Wege getrennt haben, scheinen die Herren Smith, Boggs und McInnis für ihren letzten großen Fall also bestens gerüstet zu sein.

Autorenporträt

Thomas Mullen wurde 1974 in Rhode Island geboren und lebt mittlerweile mit seiner Familie in Atlanta. 2006 erschien sein Debutroman "Die Stadt am Ende der Welt", der von der Zeitschrift USA Today als "Bester Debutroman des Jahres" und von der Zeitung Chicago Tribune als eines ihrer "Books of the Year" benannt wurde (DuMont 2020). Mit "Lange Nacht" (DuMont 2020) legt er den Abschluss seiner preisnominierten und von der Presse gefeierten "Darktown"-Trilogie vor. Bei DuMont sind bereits die ersten beiden Bande "Darktown" (2018) und "Wei?es Feuer" (2019) erschienen.

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