Krimi des Monats Juni 2021
„SØG. Dunkel liegt die See / Nina Portland Bd.1“ von Jens Henrik Jensen - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Krimi des Monats
Jens Henrik Jensen: Søg – Dunkel liegt die SeeSeit zehn Jahren arbeitet Nina Portland als Kriminalassistentin bei der Polizei in Esbjerg, an der dänischen Nordseeküste. Im Rahmen einer Schulung zum Thema Schmuggel fährt sie mit 13 Kollegen und einer Kollegin aus ganz Skandinavien in die estnische Hauptstadt Tallinn. Zunächst sieht alles nach fünf etwas mühsamen Tagen in zumeist anstrengender Gesellschaft aus. Doch dann wird Portlands Reisegruppe in das Büro des örtlichen Polizeichefs eingeladen. Zufällig entdeckt Portland auf einem Überwachungsfoto der Hafenanlage ein Gesicht, das ihr unheimlich bekannt vorkommt. Offenbar steht der russische Seemann Vitali Romaniuk hier in Tallinn bei einer Reederei unter Vertrag. So beginnt eine schicksalhafte Reise in die Vergangenheit, zurück in das Jahr 1993, in dem es die so junge wie unerfahrene Kriminalbeamtin Nina Portland mit einem der mysteriösesten Fälle der dänischen Kriminalgeschichte zu tun hatte.
Damals war ein deutscher Frachter namens MS Ursula vor der dänischen Nordseeküste aufgetaucht, führungslos wie ein Geisterschiff. An Bord waren lediglich Spuren von extrem gewalttätigen Auseinandersetzungen zu finden. Anscheinend war die Besatzung mit Äxten aufeinander losgegangen. Der von der Presse umgehend „Axtschiff“ getaufte Tatort fiel in die Zuständigkeit der Polizei von Esbjerg. Nina Portland gehörte von Anfang an zum ermittelnden Team. Als einziger Überlebender der Schiffsmannschaft wurde bald jener Vitali Romaniuk in einem Rettungsboot aufgegriffen. Die 60.000 Mark, die er bei sich hatte, ließen auf einen Raubmord schließen. Romaniuk wurde angeklagt, aber letztlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Seitdem hatte Portland das Gefühl nie losgelassen, dass weder die Raubmordtheorie noch Romaniuks Aussage, dass er aus Notwehr gehandelt habe, allein den Tatsachen entsprächen. Nun sieht sie ihre Chance gekommen und macht sich auf die späte Suche, die titelgebende „Søg“, nach der Wahrheit.
Der dänische Krimiautor Jens Henrik Jensen hat jahrelang in Esbjerg als Journalist gearbeitet, bevor er mit seiner Thrillerreihe über den Kriegsveteran Niels Oxen zum international gefeierten Bestsellerautor wurde. 2004 legte er mit „Søg – Dunkel liegt die See“ den ersten Teil einer Reihe über die Kommissarin und alleinerziehende Mutter Nina Portland vor, der nun zum ersten Mal auf Deutsch erscheint. Auf der Basis wahrer Begebenheiten entspinnt Jessen einen komplexen Fall. Er schickt seine Heldin auf eine halsbrecherische Jagd durch wilde Sumpflandschaften Estlands. Von dort aus geht es in das vermeintlich zivilisierte London, in die Welt der Geheimdienste und der Terrorbekämpfung. Nicht zuletzt muss sich die resolute Beamtin auch noch auf die Spuren des längst aus ihrem Leben verschwundenen Vaters ihres zehnjährigen Sohnes begeben. Bei diesem ersten Auftritt zeichnet Jensen Nina Portland mit einer Mischung aus Ehrgeiz, Melancholie und selbstironischem Witz aus, die sie für weitere spektakuläre Fälle qualifiziert.
Das Axtschiff – die wahre Geschichte
Am 18. August 1993 entdeckten zwei Fischkutter etwa 85 Seemeilen vor der dänischen Stadt Esbjerg das führungslose Küstenmotorschiff MS Bärbel. Acht Tage zuvor war der Frachter mit einer Ladung Raps von London Richtung Rostock aufgebrochen. Am frühen Morgen des 15. August hatte Kapitän Heinrich Telkman ein letztes Mal Kontakt zu seiner Frau. Alles schien in Ordnung zu sein. Nun trieb sein Schiff weit abseits der geplanten Route, mitten in der Nordsee. An Bord fanden die Behörden Spuren von Gewalt und Brandstiftung. Als einziges Besatzungsmitglied wurde der 29-jährige russische Seemann Andrej Lapin in einem Rettungsboot aufgegriffen – mit 60.000 DM in bar. Er hatte erst am 9. August in London auf der Bärbel angeheuert. Nun schien er der einzige Überlebende der sechs Mann starken Besatzung zu sein. Er wurde des fünffachen Mordes und der Brandstiftung angeklagt.
Lapin zufolge hatten zwei andere Besatzungsmitglieder den Kapitän und den Rest der Mannschaft mit Äxten angegriffen und umgebracht. Er selbst habe die Angreifer aus Notwehr getötet. In der Ahnung, dass ihm niemand diese Geschichte glauben würde, habe er dann die Leichen ins Meer geworfen, das Schiff in Brand gesetzt und versucht, sich mit dem Rettungsboot abzusetzen. Das Geld will er zuvor mit dem Verkauf von Ikonen verdient haben. Der Fall sorgte weltweit und vor allem in den dänischen und deutschen Medien für Aufsehen. Heinrich Telkmann, der Kapitän und Eigner, der sein Schiff nach seiner Frau Bärbel benannt hatte, war Deutscher.
Der Prozess gegen Lapin zog sich über fünf Monate. 34 Zeugen und fünf Sachverständige wurden gehört. Allerdings gelang es weder der dänischen Polizei noch der deutschen Justiz, die Version Lapins zu widerlegen. Schließlich sprach das Gericht den Seemann aufgrund mangelnder Beweise frei und verurteilte ihn lediglich zu einer Bewährungsstrafe wegen Brandstiftung. Die Leichen der weiteren ermordeten Besatzungsmitglieder – des Maschinisten Mikhail Mikhailov, des Matrosen Vladislav Bogdan, des Ersten Steuermanns Viktor Varenko und des Kochs Anatolij Smolijak – wurden nie gefunden. Andrej Lapin arbeitet heute als Rettungstaucher und lebt mit Frau und zwei Kindern in Kaliningrad. 2018 sagte er in einem Interview mit einer dänischen Zeitung: „Mir tun die Familien derjenigen leid, die ich getötet habe. Aber ich bereue es auch nicht. Denn wenn ich die beiden nicht getötet hätte, würde ich heute nicht hier sitzen.“ Nach einigen Umbenennungen und Eigentümerwechseln ist die einstige Bärbel nun als MS Stadum unter der Flagge Vanuatus unterwegs.
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