Ein halbes Herz
Elin rückt alles gern ins rechte Licht: Als Fotografin feiert sie in New York große Erfolge. Auch privat scheint es das Schicksal gut mit der 48-Jährigen gemeint zu haben. Doch das Bild trügt: Elins gegenwärtiges Leben ist inszeniert wie ein perfekt arrangiertes Foto. Die Person, die sie heute ist, verkörpert nur die halbe Wahrheit. Um Elin zu begreifen, muss man ihre Vergangenheit kennen, ihre Kindheit in Schweden. Doch die verschweigt sie sogar vor ihrem Mann und ihrer Tochter.
Einblicke
Für Elin ist es am einfachsten, die Welt durch den Sucher oder das Display einer Kamera zu erfassen. Über diesen Rahmen hat sie die Kontrolle. Sie strebt nach Perfektion – und es gelingt ihr, nur das aufs Foto zu bringen, was der Betrachter sehen soll. Das gilt auch für Elin selbst, die zunächst so unnahbar ist, dass man beim Lesen nur schwer einen Zugang zu ihren Gefühlen findet. Es scheint so, als würde sie ihr Herz hinter einer fest verschlossenen Blende verstecken, die sich nur manchmal öffnet – nur ein wenig, nur ganz kurz.
Elin ist ein Workaholic. Ihren Feierabend verbringt sie selten mit ihrem Mann und ihrer siebzehnjährigen Tochter, sondern lieber in ihrem Stammlokal. Dort bestellt sie sich einen Wein und besteht dabei auf einen ganz besonders guten Tropfen: „Ich will den Wein haben, das bin ich mir wert. Es muss der 1982er sein.“ Ihr Auftreten wirkt überheblich und kühl – bis sie langsam enthüllt, weshalb sie sich so verhält. Sie ist geprägt von einer belastenden und entbehrungsreichen Vergangenheit im Schweden der 1980er Jahre. Im Wechsel zwischen der Gegenwart und Rückblenden in die Kindheit erzählt Sofia Lundberg Elins Geschichte. Mit jedem Kapitel kann man sich besser in die Protagonistin hineinversetzen und beginnt, ein tiefes Verständnis für sie zu entwickeln.
Perspektiven und Kontraste
Es scheint kein Zufall zu sein, dass Sofia Lundberg ihre Romanheldin zur Fotografin macht. Referenzen zur Fotografie finden sich auf vielen Ebenen des Buches. Wie bei einem gelungenen Bild spielt die Autorin mit Kontrasten und achtet auf die Wahl der Perspektive.
Die Lower East Side in New York im Jahr 2017 steht dem schwedischen Visby Anfang der 1980er gegenüber. Der Alltag einer gefeierten Starfotografin, die makellose Schönheit abbildet und sich alles leisten kann, trifft auf das Leben eines kleinen schwedischen Mädchens, das in Unsicherheit lebt und zu früh zu viel Verantwortung übernehmen muss. Elin, die sich als Kind immer nach einer intakten Familie gesehnt hat, wendet sich als Erwachsene zusehends von Mann und Tochter ab. Beim Lesen wird deutlich, warum.
Ein Brief verknüpft die beiden Zeit- und Handlungsebenen in „Ein halbes Herz“. Der Brief, den Elin von einem Freund aus Kindertagen erhält, bringt vergessene Erinnerungen und verdrängte Schuldgefühle ans Licht. Zusammen mit ihrer Tochter reist Elin nach Schweden, um sich von der Last der Vergangenheit zu befreien.
Fazit: Sofia Lundberg schildert Elins Geschichte in
starken Bildern. Dabei gewährt sie den Blick vor und hinter die Kamera, die
Elin wie ein Schutzschild vor sich herträgt. „Ein halbes Herz“ ist ein sehr
berührender Roman über Schmerz, Schuld, die Macht der Erinnerung und die Kunst
des Loslassens.