Krimi des Monats Juni 2022
„Das Haus der stummen Toten“ von Camilla Sten - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Krimi des Monats
Krimi des Monats JuniCamilla Sten, Das Haus der stummen Toten
Der Tod scheint der jungen Schwedin Eleanor von Kindheit an auf den Fersen zu sein. Als sie drei Jahre alt war, starb ihre Mutter Vendela. Erinnern kann sich Eleanor nur noch an ihren Geruch, und daran, dass sie einmal angeschrien wurde. Von ihrem Vater existiert nicht mehr als ein Facebook-Profil. Als dann ihre Großmutter Vivianne ermordet wird, zieht es Eleanor den Boden unter den Füßen weg. Sie ist bei Vivianne aufgewachsen, und auch wenn sie zu der herrischen, gefühlskalten Dame aus der schwedischen Oberschicht ein eher distanziertes Verhältnis hatte, so fühlt sich Eleanor doch einmal mehr verlassen und im wahrsten Sinne des Wortes mutterseelenallein. Ein wenig Halt findet sie bei ihrem Freund Sebastian, der eine behütete Kindheit hatte und seine Umwelt etwas rationaler betrachtet. Dennoch mischt sich in Eleanors Trauer eine immer größer werdende Angst: Was wäre, wenn Vivianne nicht, wie die Polizei behauptet, das zufällige Opfer eines missglückten Einbruchs geworden ist?
Tatsächlich ist sich Eleanor sicher, dass sie den Mörder ihrer Großmutter gesehen hat. Aber: Sie kann sich nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Denn Camilla Sten hat in diesem, ihrem zweiten Thriller mit Eleanor keine klassische Ermittlerfigur geschaffen, sondern eher eine sensible Sucherin mit Handicap: Eleanor leidet unter einer Gesichtserkennungsschwäche. Selbst ihren Freund erkennt sie rein äußerlich kaum, umso stärker ist sie auf andere Sinneseindrücke angewiesen – auf Stimmen, Geräusche oder Gerüche.
Einige Wochen nach dem Tod der Großmutter erfährt Eleanor, dass Vivianne ihr einen Gutshof namens Solhöga hinterlassen hat. Zusammen mit Sebastian macht sie sich mitten im Winter auf, um in der abgeschiedenen Provinz ihr Erbe in Augenschein zu nehmen. Aber dort fehlt vom erwarteten Verwalter jede Spur. Stattdessen tauchen ein wenig vertrauenswürdiger Notar und Eleanors exzentrische Tante Veronika auf. Und Solhöga selbst scheint auch manche Geheimnisse zu bergen, die Eleanors düstere Ahnungen bestätigen: Sie leidet keineswegs unter Verfolgungswahn, sondern wird von leibhaftigen Geistern der Vergangenheit eingeholt...
Camilla Sten gelingt in „Das Haus der stummen Toten“ nicht nur ein Balanceakt zwischen Thriller und Familiendrama. Sie springt auch kunstvoll in der Zeit, wenn sie zwischen Eleanors Gegenwart und Tagebuchaufzeichnungen aus den 1960er Jahren hin- und herwechselt. In ihnen berichtet das Dienstmädchen Annuschka von ihrem Alltag auf Solhöga, von dem unverhohlenen Sadismus, den die „gnädige Frau“ Vivianne an ihren Untergebenen auslebte. Dabei spiegeln die Machtverhältnisse im Haus von Eleanors Großeltern die zerstörerische Kraft einer Klassengesellschaft wider, die rücksichtslosen Ehrgeiz belohnte und gleichzeitig die Angst vor sozialem Abstieg schürte. So beleuchtet Sten eine kaum bekannte Seite des „sozialdemokratischen Musterlands“ Schweden. Und die Geschichte von Eleanor, ihrer ungewöhnlichen Heldin wider Willen, macht nachvollziehbar, wie Traumata über Generationen hinweg wirken, aber letztlich auch überwunden werden können.
Autoreninterview
Interview mit Camilla StenEleanor, Ihre Hauptfigur, scheint auf den ersten Blick das Gegenteil einer Superheldin zu sein: Sie hat eine Gesichtserkennungsschwäche. Was faszinierte Sie an dieser Idee?
Für mich war das Buch zunächst eine Art Meditation über Identität und darüber, wie Wahrnehmung diese verändern kann. Vivianne etwa wird in diese Vorstellung von der idealen schwedischen Adelsfrau hineingedrängt, eine Vorstellung von perfekter Weiblichkeit. In dieser Hinsicht ist Eleanor das Gegenteil ihrer Großeltern: Sie kann keine Gesichter erkennen und projiziert daher nicht instinktiv Etiketten wie „Schönheit“ oder „Klasse“ auf andere. Für mich war diese Idee von Schönheit als Käfig ein faszinierendes Konzept. Wenn wir die Menschen um uns herum nicht erkennen könnten, wenn wir unsere vorgefassten Meinungen nicht auf sie projizieren könnten – wäre das dann eine Schwäche oder eine Stärke?
Sie haben Psychologie studiert. Wie hat das Ihre Sicht auf die Menschen verändert? Wie wirkt sich das auf Ihr Schreiben aus?
Das Psychologiestudium hat mich gütiger gemacht; es hat mich dazu gebracht zu versuchen, andere zu verstehen, bevor ich sie beurteile. Mein gesamtes Schreiben ist von den Jahren dieses Studiums geprägt. Ich versuche nie, eine Figur zu erschaffen, ohne eine klare Motivation für ihr Handeln zu haben. Wenn ich nicht weiß, wie ein Mörder seine Handlungen vor sich selbst rechtfertigen würde, wird es auch für den Leser keinen Sinn ergeben.
In „Das Haus der stummen Toten“ geht es um eine Suche nach Spuren der Vergangenheit. Treibt einen dazu eher die Abenteuerlust, oder will man letztlich mehr über sich selbst erfahren?
Ich glaube, der Drang, sich selbst zu verstehen, ist einer der stärksten, den wir haben. Es ist ein sehr ursprünglicher Instinkt, dieses Bedürfnis zu wissen, woher wir kommen, um zu verstehen, wo wir gelandet sind. Wenn ich Goethe paraphrasieren darf: Wer die letzten 3000 Jahre der Geschichte nicht versteht, von dem kann man nicht erwarten, dass er sich selbst versteht.
Mit Ihrer zweiten Hauptfigur, Annuschka, gehen Sie zurück in die 1960er Jahre. Wer hat Sie zu Annuschka inspiriert?
Sowohl Annuschka als auch Vivianne sind von meiner Großmutter inspiriert. Ich habe das Buch nach ihrem Tod geschrieben, auch um zu versuchen, die verschiedenen Teile ihrer Persönlichkeit miteinander in Einklang zu bringen. Sie war eine starke, charismatische, überwältigend schöne Frau; sie konnte witzig, engagiert und freundlich sein – aber auch grausam, wankelmütig und kalt. Ich wollte eine Art fiktives Gedankenexperiment dazu anstellen, wie sie sich entwickelt hat. Sie wuchs als wunderschöne junge Frau in der schwedischen Oberschicht auf, aber auch als Jüdin im Stockholm der 1940er Jahre, der man immer wieder sagte, dass sie nie ganz dazugehören würde. Ich wollte diese beiden Aspekte ihrer Persönlichkeit, die schöne Gesellschaftsdame und die Einwanderin, voneinander trennen und dann sehen, wie sie zusammenkommen können.
Annuschka erinnert daran, dass in Deutschland in letzter Zeit vermehrt über das Phänomen der „gläsernen Decke“ diskutiert wird, dass Menschen höhere Positionen verwehrt werden, weil sie einer bestimmten sozialen Gruppe angehören. Wie lässt sich das ändern?
Das ist eine sehr schwierige Frage, die zu kompliziert ist, als dass eine einzige Autorin versuchen könnte, sie zu lösen. Ich bin selbst mit dem Problem der gläsernen Decke konfrontiert worden, als junge Frau, die versuchte, als Schriftstellerin ernstgenommen zu werden. Ich kann nur sagen, dass unser derzeitiges System eine Art Scheinlösung ist. Wir erwecken den Eindruck einer Leistungsgesellschaft, unterdrücken aber im Stillen alle Stimmen, die von denen abweichen, die bereits an der Macht sind. Das muss sich ändern. Ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf, wie das zu bewerkstelligen wäre.
Ihre Mutter Viveca Sten ist eine erfolgreiche Autorin. Haben Sie das Gefühl, dass Sie weiter in ihre Fußstapfen treten wollen, oder können Sie sich auch beruflich etwas ganz anderes vorstellen?
Mein 11. Buch in schwedischer Sprache erscheint diesen Herbst, und ich bin jetzt seit vier Jahren Vollzeitautorin. An manchen Tagen ist es der beste Job der Welt, an anderen ist er... nun ja, nicht der schlechteste, aber viel weniger angenehm. Ich kann nicht sagen, was die Zukunft bringen wird, aber im Moment könnte ich mir nicht vorstellen, etwas anderes zu wählen.
Auf sehr bewegende Weise widmen Sie Ihr Buch Ihrem verstorbenen Kater Rasmus. Mit Kalle Blomquist taucht auch ein zweiter Name eines Astrid-Lindgren-Helden in „Das Haus der stummen Toten“ auf. Ist das ein Zufall?
Oh, ich freue mich sehr über diese Frage! Astrid Lindgren ist immer mein Vorbild gewesen. Ich halte sie wirklich für die talentierteste Schriftstellerin des 20. Jahrhunderts. Sie schuf Kunst mit den einfachsten Worten und machte große, schwierige Konzepte für die jüngsten Kinder verständlich. Ich lese „Die Brüder Löwenherz“ jedes Jahr wieder, und ich habe es noch nie gelesen, ohne zu weinen.
Interview: Literaturtest, 2022
Autorenporträt
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