Krimi des Monats Oktober 2022
„Als das Böse kam“ von Ivar Leon Menger - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet.
Krimi des Monats
Ivar Leon Menger: Als das Böse kamKrimis gibt es nur, weil in noch dickeren Büchern steht, was erlaubt ist und was nicht. Ohne Gesetze wäre selbst ein Mord kein Kriminalfall, sondern kaum mehr als ein Drama. In seinem ungewöhnlichen Thriller „Als das Böse kam“ macht Ivar Leon Menger spürbar, wie Zwänge dazu verleiten können, Gesetze zu übertreten, kriminell zu werden. Dabei balanciert er auf dem schmalen Grat zwischen Krimi und Drama. Seine Heldin Juno ist gerade 16 Jahre alt. Sie lebt, solange sie denken kann, mit ihren Eltern und dem kleinen Bruder Boy auf einer einsamen Insel. Irgendwann gab es noch eine Schwester, aber Juno kennt nur deren Grab. Für Erinnerungen gibt es nicht viel Platz im Leben ihrer Familie. Es wird bestimmt von der Angst vor „den Fremden“, die irgendwo am Festland darauf lauern, die abgeschiedene Idylle von Mutter, Vater und den zwei Kindern für immer zu zerstören.
Sieben Gesetze sollen das Überleben auf der Insel sichern. Es ist zum Beispiel verboten zu lügen, fremde Beeren zu essen und Vaters Bibliothek zu betreten. „Wir müssen kurz und schmerzlos töten,“ heißt es. Und: „Wir dürfen die Insel niemals ohne Erlaubnis von Mutter oder Vater verlassen.“ Diese Gesetze wurden von den „Wächtern“ erlassen, die einst die Familie auf der Insel in Sicherheit brachte. „Als das Böse kam“ wird aus der Perspektive von Juno erzählt und versetzt einen also in den Kopf einer Heranwachsenden, deren Instinkte und Sehnsüchte von Regeln unterdrückt werden. Der Sinn dieser Regeln wird dabei immer fadenscheiniger, je mehr sie darüber nachdenkt. So wird das langsame Erwachen einer kriminellen Energie erleb bar gemacht – selbst wenn ein „Verbrechen“ erst einmal nur darin besteht, sich selbst das Schwimmen beizubringen. Heimlich natürlich. Denn wenn die Eltern davon erführen, würde es sofort den Verdacht erregen, dass Juno plant, auf eigene Faust die Insel zu verlassen.
Den Eltern entgeht nicht, was Juno bewegt. Um sie zu besänftigen, erzählt ihr Vater von seinem früheren Leben, in einem Land namens Italien. Dort habe er gegen zwielichtige Immobilienhändler ausgesagt. Seither befinden er und seine Familie sich in einem Zeugenschutzprogramm. Doch auch das könnte nur eine von jenen Geschichten sein, die erfunden werden, um zu beruhigen, um zu erklären, was vielleicht gar nicht zu erklären ist. Als dann auch noch ein geheimnisvoller Junge namens Luca auf der Insel auftaucht und Junos Vorstellung von „den Fremden da draußen“ auf den Kopf stellt, wird aus der Geschichte vieler kleiner Gesetzesbrüche nach und nach ein Kampf auf Leben und Tod. – Ivar Leon Menger zeigt in einer Mischung aus Krimi, Märchen und Coming-of-age-Drama, dass das Böse auch in dem verzweifelten Versuch entstehen kann, es fern zu halten.
Autoreninterview
Interview mit Ivar Leon Menger zu „Als das Böse kam“In Ihrem früheren Leben haben Sie nicht nur als Designer und Werbetexter sondern auch in einer Videothek gearbeitet. Was haben Sie dort über das Geschichtenerzählen gelernt?
Oh, das ist eine gute Frage, über die ich so noch nie nachgedacht habe. Auf jeden Fall hat die Zeit in der Videothek meine Menschenkenntnis geschult. Oder erschüttert, wenn ich da an ein paar Geschichten zurückdenke. Zum Beispiel an einen Kunden, der schon morgens um zehn Uhr in der menschenleeren Erwachsenen-Abteilung verschwunden ist und nach zwanzig Minuten mit offenen Hosenstall zurückkam. Aber davon abgesehen war die Videothek ein wunderbarer Ort zum Austausch von Gleichgesinnten, von Filmliebhabern. Ja, diese Zeit hat definitiv mein Geschichtenerzählen geprägt.
Als Autor sind Sie vor allem für Hörspiele und -bücher bekannt. Wie kam es dann dazu, dass Sie nun Kriminalromane schreiben?
Eigentlich hatte ich schon immer den Traum, einen Roman schreiben. Aber da ich für das Schreiben einer einzigen Seite fast fünf Stunden brauche, habe ich es immer gelassen. Bis ich vor zwei Jahren las, dass Ernest Hemingway nur eine Seite am Tag schrieb. Sofort war mein Plan gefasst: Das mache ich auch – ich schreibe jeden Tag eine Seite und dann habe ich in einem Jahr einen Roman mit 365 Seiten. So entstand „Als das Böse kam“.
Sie beginnen mit einem Zitat von Hans Christian Andersen. Sind Sie von seinen Märchen geprägt?
Nicht nur von Andersen, sondern von Märchen insgesamt. Gerade „Rotkäppchen“, „Der Wolf und die sieben jungen Geißlein“ sowie „Hänsel und Gretel“ haben mich in meiner Kindheit sehr fasziniert. Ich liebte die gruselige Stimmung – etwa wenn der Wolf seine Stimme verändert, um seinen Opfern eine Falle zu stellen.
Sie erzählen von einer Familie, die auf einer einsamen Insel von der Vergangenheit eingeholt wird. Welches Verhältnis haben Sie zur Einsamkeit? Könnten Sie so leben wie diese Familie?
Ich könnte eventuell für einen Monat in einer abgelegenen Blockhütte leben. Ich liebe die Natur und den Wald. Aber irgendwann würde es mich wieder zu den Menschen ziehen, in die Stadt, in belebte Cafés. Ich liebe das Alleinsein – aber unter Menschen. Wie die Sonne, die ich am liebsten im Schatten genieße.
Die 16-jährige Juno haben Sie als Ich-Erzählerin ausgewählt. Was ist das Besondere an ihrer Perspektive?
Es ermöglicht mir eine starke dramaturgische Fallhöhe. Ich sehe und verstehe alles nur durch das Mädchen Juno. Damit entsteht der Reiz für die Leser*innen, die es eben nur durch ihre naiven Augen sehen können. Man denkt die ganze Zeit: „Nein, nein, mach das nicht! Geh wieder zurück!“ Doch man kann sie nicht aufhalten und muss gemeinsam mit ihr in den Abgrund blicken.
Glauben Sie an „das Böse“?
Ja. Ich bin der Überzeugung, alles ist Energie. Und es gibt positiv geladene sowie negative. Anders kann ich mir unsere zerstörerische Welt nicht erklären.
Ein weiterer Roman von Ihnen ist bereits für nächstes Jahr angekündigt. Haben Sie Blut geleckt und werden nun vor allem Bücher schreiben?
Das kann ich mit einem eindeutigen Ja beantworten. Der Literaturbetrieb hat mich in seinen Bann gezogen und lässt mich nicht mehr los. Sie werden bald wieder von mir lesen.
Interview: Literaturtest, 2022
Autorenporträt
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