Krimi des Monats März 2020
„Unter der Erde“ von Stephan Ludwig - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Krimi des Monats
Stephan Ludwig: Unter der ErdeSeit mehr als dreißig Jahren hat Elias Haack seinen Großvater Wilhelm nicht mehr gesehen. Nun hat der Bestsellerautor überraschend eine Einladung zu Wilhelms Geburtstag erhalten, die er widerstrebend annimmt – und das nicht, weil er vor Neugier auf seinen Ahnherren brennen würde. Vielmehr ist der Tagesausflug in die brandenburgische Provinz für ihn ein willkommener Anlass, seiner herannahenden Midlife-Crisis zu entfliehen. Außerdem kommen ihm beim Autofahren die besten Ideen. Und an Ideen mangelt es gerade. Der erfolgsverwöhnte Autor von Unterhaltungsromanen mag sich nicht entscheiden, ob er als Nächstes einen Krimi oder einen Zombiethriller schreiben soll. All das kommt ihm ausgelutscht vor, so wie sein ganzes Leben. Eigentlich möchte er endlich mal etwas schreiben, was auch von den angesehenen Tageszeitungen wahrgenommen und bestenfalls mit lobender Kritik bedacht wird.
Während Elias sich also an die Hoffnung auf zukünftige Anerkennung klammert, gerät seine Fahrt in das Dorf Volkow zu einem unverhofft düsteren, sowohl inspirierenden als auch lebensgefährlichen Trip in die Vergangenheit. Denn Wilhelm stirbt, kaum dass er mit seinem Enkel Elias ein wenig warm geworden ist. Irgendetwas scheint verdächtig an dem plötzlichen Tod des alten Mannes. Elias beschließt, erst einmal zu bleiben und in das Leben von Volkow einzutauchen. Doch die Bewohner behandeln ihn zunehmend wie einen Aussätzigen. Außer in einem am Ortsrand gelegenen Spaßbad hat man hier auch wirklich nichts zu lachen. Im Gegenteil: Bedrohlich graben sich im angrenzenden Tagebaugebiet die Schaufelbagger immer weiter in Richtung Dorf. Es ist nur eine Frage der Zeit, bevor die unverminderte Gier nach Kohle auch die letzten Spuren von Großvater Wilhelm für immer zerstört haben wird. Ob es Elias rechtzeitig gelingen wird, das Geheimnis dieses weltabgeschiedenen Nestes zu lüften?
Mit viel Gespür für Land und Leute erzählt „Unter der Erde“ gleich mehrere Geschichten, die zwischen der Nachkriegszeit und der Gegenwart wechseln. Hier geht es nicht nur um einen spannenden Fall, sondern auch um das schmerzhafte Abstreifen eines jahrzehntelang über den Dingen liegenden Mantels des Schweigens.
Elias Haacks Zerrissenheit zwischen dem Wunsch nach hochkultureller Anerkennung und dem großen Erfolg seiner für ein breites Publikum geschriebenen Spannungsliteratur legt einen Bezug zu seinem Erfinder Stephan Ludwig nahe. Der in Halle lebende Autor wurde mit der „Zorn“-Reihe, seinen Romanen rund um den unmotivierten Kommissar Claudius Zorn und dessen emsigen Assistenten Schröder bekannt. Dass „Unter der Erde“ nun auch von der etablierten Kritik wahrgenommen wird, scheint durchaus möglich. Schließlich ist der Kriminalroman als Sittenbild aus der vom umstrittenen Braunkohletagebau geprägten Lausitz-Region tagespolitisch relevant. Zugleich wird hier die isolierte, dem Untergang geweihte Gemeinde Volkow manchmal so zugespitzt beschrieben, dass auch Fans von Zombiethrillern Freude an diesem Buch haben werden. Ludwig sitzt also zwischen den Stühlen – und da sitzt er sehr gut.
Autoreninterview
Interview mit Stephan Ludwig zu „Unter der Erde“Sie sind vielleicht der einzige erfolgreiche Krimiautor, der keinen Wikipedia-Eintrag hat. Wäre Ihnen ein größerer Rummel um Ihre Person unangenehm?
Stephan Ludwig: Ich muss schon zugeben, dass ich am liebsten zu Hause am Rechner sitze, meine Ruhe habe und mir eine Geschichte ausdenke. Hauptsache ist für mich, dass die Bücher gelesen werden. Alles andere ist mir relativ egal. Abgesehen davon kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Wikipedia-Eintrag mein Leben grundlegend verändern würde.
Ein „missglückter Kurztrip in die Lausitz“ soll sie zu „Unter der Erde“ inspiriert haben. Können Sie das etwas genauer beschreiben?
Stephan Ludwig: Ich war dort unterwegs und hatte eine Reifenpanne. Die Gegend passte genau zu einem Setting, das ich schon seit einer Weile im Kopf hatte: ein abgelegener Ort, schwer zu erreichen, kaum Handyempfang. Eine Handvoll Bewohner, die dort aus unerfindlichen Gründen ausharren und sich merkwürdig verhalten, mitten in der Zivilisation und gleichzeitig abgeschnitten von der Außenwelt. Da passte ein Dorf am Rande eines Tagebaugebietes hervorragend.
Abseits Ihrer eher klassischen Krimireihe „Zorn“ haben Sie nun einen erfolgreichen Krimiautor zum Helden Ihres neuen Thrillers gemacht. Wieviel Stephan Ludwig steckt in diesem Elias Haack?
Stephan Ludwig: Nicht viel – und selbst, wenn es mehr wäre, würde ich es hier nicht verraten. Elias Haack schreibt wie ich Geschichten und hat ein Problem mit dem Rauchen – das habe ich auch.
Zur TV-Verfilmung Ihrer „Zorn“-Reihe hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung angemerkt, dass dort „Kraftausdrücke und Mittelfinger“ stellenweise „dann doch überhandgenommen“ hätten. Ist etwas von dieser Kritik in „Unter der Erde“ eingeflossen?
Stephan Ludwig: Ehrlich gesagt, kenne ich die Kritik gar nicht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass in den Filmen übermäßig viele Kraftausdrücke verwendet wurden. Figuren in Filmen oder Büchern müssen lebendig sein, jeder Mensch hat Emotionen und reagiert dementsprechend in gewissen Situationen. Ein aufbrausender Typ wie Zorn sagt eben auch mal „Scheiße“ und zeigt den Mittelfinger, das erscheint mir wesentlich näher an der Realität als die immer gleiche Frage deutscher TV-Kommissare: „Wo waren Sie am Dienstag zwischen siebzehn und achtzehn Uhr?“
Zu Beginn verwirft Elias Haack den Gedanken, einen Zombieroman zu schreiben, als zu unoriginell. Stattdessen taucht er in die scheinbar im Untergang befindliche Welt eines Dorfes am Rand eines Braunkohletagebaus ein. Steckt dahinter auch die Erkenntnis, dass die Realität mitunter unheimlicher ist, als es sich ein Autor ausmalen könnte?
Stephan Ludwig: Das könnte man so sagen. Gegen Ende des Buchs beschließt Elias Haack, die Geschichte aufzuschreiben. Er stellt fest, dass die Realität – also das, was er erlebt hat – erschreckender ist als alles, was er in seinen Splattergeschichten bisher aufgeschrieben hat.
Welche Bedeutung hat dieser neue Roman, der sich zu einem generationenübergreifenden Trip in die Vergangenheit deutscher Geschichte entwickelt, für Sie persönlich? Wird es auch hier eine Fortsetzung geben?
Stephan Ludwig: Die Idee, etwas anderes als eine „Zorn“-Geschichte zu schreiben, kam vom Verlag. Das fand ich spannend – und schmeichelhaft, da ich wie bei „Zorn“ komplett freie Hand hatte, was ein großes Vertrauen voraussetzt. Es hat Spaß gemacht, sich etwas ohne Zorn und Schröder auszudenken, doch die Geschichte mit Elias Haack ist abgeschlossen. Aber es wird weitere Bücher geben. Mal sehen, was mir noch einfällt …
Sie schreiben über Elias Haack, dass ihm auf Autofahrten die Ideen für neue Geschichten kommen. Wie ist das bei Ihnen? Und wenn es Ihnen wie Elias Haack gehen sollte, …, würde ein generelles Tempolimit in Deutschland Ihre Kreativität gefährden?
Stephan Ludwig: Neue Ideen kommen mir in den unterschiedlichsten Situationen. Manchmal träume ich auch von den Geschichten, was sehr schön ist, da ich dann buchstäblich im Schlaf arbeite – leider muss es dann noch aufgeschrieben werden, wozu ich dann wohl oder übel aufstehen muss. Im Auto passiert das ebenfalls, wie bei Elias Haack. Zum Glück ist das nicht von der Geschwindigkeit abhängig, insofern würde ein Tempolimit meine Kreativität nicht einschränken. Im Gegenteil, ich bin ein ziemlich mieser Autofahrer und angesichts meiner Fahrkünste ist ein Tempolimit nicht nur in meinem, sondern auch im Sinne aller Verkehrsteilnehmer.
Interview: Literaturtest, 2020
Autorenporträt
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