Autor: bücher.de
Datum: 29.10.2023
Tags: Empfehlung, Unser Buchtipp

Wir dimmen die Saalbeleuchtung und laden Sie dazu ein, sich entspannt zurückzulehnen: Am siebten Tag unseres Literaturfestivals präsentieren wir Ihnen mit Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ einen Roman, mit dem Sie ein Stück Zeit- und Filmgeschichte neu erleben können. Mehr über das Buch und den Autor lesen Sie auf dieser Seite.

Und nicht vergessen: Beim Literaturfestival gibt's was zu gewinnen! Wir verlosen fünf Buchpakete mit je sieben aktuellen Titeln. Hier klicken, um zum Gewinnspiel zu gelangen!

Von Weltruhm und Selbstaufgabe

Das Porträt eines Künstlers als irrendem Mann

Vor dem Krieg nannte man ihn den „roten Pabst“. Nun dreht der bekannte Regisseur Filme für die Nazis. Und das, obwohl er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erst nach Frankreich und dann nach Hollywood emigriert war. G. W. Pabst hatte spätere Legenden wie Greta Garbo entdeckt, ihr beigebracht, wie man an einer Rolle arbeitet, sie bekannt gemacht in seinem Film „Die freudlose Gasse“. Doch dann kehrt er zurück „ins Reich“. Warum, was war passiert? Daniel Kehlmann erzählt diese einzigartige Emigrationsgeschichte in seinem Roman „Lichtspiel“. 

In Hollywood, nach der Emigration aus Nazideutschland, hofft er. Alle kennen ihn, G. W. Pabst. Loben seine Filme. Doch viel ist dieses Lob nicht wert, das merkt Pabst schnell, obwohl er schlecht Englisch spricht. Oft genug verwechselt man ihn auch noch mit Fritz Lang und lobt „Metropolis“. Aber es gibt ein Angebot für einen Film: „A Modern Hero“. Für Pabst eine Zumutung. Das Skript sei grundschlecht, nichts habe Sinn. Auf keinen Fall will er den Film machen – und macht ihn doch. Seine Ideen interessieren niemanden. Der Film wird ein Flop, und auch die Garbo will nicht mehr mit ihm drehen. Und das, obwohl sie weiß, dass „dieser höflich distanzierte Mann ein Künstler durch und durch“ ist.

Auf einer Party in Los Angeles gibt es einen ersten Versuch, den Regisseur zurück zu locken nach Deutschland. Die Regierung sei pragmatischer, als man oft vermuten würde, heißt es. Pabst ist empört und lehnt ab. Dann ein Telegramm: Seine Mutter braucht ihn, ist krank. Die Familie, Frau Gertrude und Sohn Jakob, reist nach Österreich. Der Hausmeister des Pabst-Anwesens, Jerzabek, war als „eine Seele von Mensch“ bekannt. Nun, als Leiter der NSDAP-Ortsgruppe, schlägt seine einst übertrieben untertänige Art um in Bösartigkeit. Der Kriegsbeginn macht eine Reise zurück nach Amerika genauso unmöglich wie ein Unfall Pabsts. Als der Propagandaminister ihn sehen will, sagt er zu. All diese Andeutungen, er sei ja schließlich nicht verhaftet worden, sondern aus freien Stücken zurückgekommen. Die Angst. In Berlin sein erster „Hitlergruß“, „danach fühlte er sich beschmutzt bis ins Innerste“.

Der Minister redet Klartext: „Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann, zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem (...) bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler, jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“ Filme kosten Geld, viel Geld. Pabst fühlt „sich außerstande“ und dreht doch. Warum und wie sehr Pabst – und viele andere – sich die Situation schönreden, erstarren, wenn Kollegen von der Gestapo abgeholt werden, und danach weitermachen, als wäre all das nicht geschehen, das erzählt Kehlmann in „Lichtspiel“ vielschichtig und detailliert. Der Roman ist natürlich auch ein großes und packend zu lesendes Stück Zeitgeschichte. Auch eine Geschichte der Filmindustrie mit all ihren Intrigen und dem Klatsch und Tratsch (eine unfähige Leni Riefenstahl zum Beispiel). Dass für einen Pabst-Film am Ende Statisten aus einem Lager herangekarrt werden, lässt dem Regisseur kurz schwarz vor Augen werden. Aber dann heißt es rasch, man könne es nicht ändern, hätte es ja auch nicht angeordnet, „wir haben nichts zu tun damit“. Pabsts Sohn sagt am Ende des Buches über seinen Vater: „Wenn er inszeniert hat, wusste er immer, was die Leute zu tun hatten. Aber er selber wusste nie wirklich, was er tun sollte.“

Daniel Kehlmann: Autorenporträt

Einen Weltbestseller schreiben nur sehr wenige Autoren. Daniel Kehlmann ist es mit „Die Vermessung der Welt“ gelungen. Das Buch erschien 2005, und er erzählt darin die, auch fiktive, Geschichte um das Leben und Wirken des Forschungsreisenden und Wissenschaftsstars Alexander von Humboldt und des Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß. Dass Kehlmann sehr vergnüglich und ironisierend über von Humboldt und Gauß erzählt, dafür bekam er Kritik von Historikern. Doch einen historischen Roman nach reiner Faktenlage schreiben, das wollte Kehlmann nie. Seine schriftstellerische Freiheit zur Fiktion, auch bei historischen Figuren, ist ihm wichtig. Auch in „Tyll“ erzählt er eine fiktive Lebensgeschichte von Till Eulenspiegel. Schon zuvor (2003) hatte Kehlmann mit „Ich und Kaminski“, einer Satire auf den Kunstbetrieb, einen internationalen Erfolg gelandet. Aber es war „Die Vermessung der Welt“, die sich millionenfach verkaufte und in 40 Sprachen übersetzt wurde. Weiter erschienen von Kehlmann u. a. „Ruhm“ (2009), „F“ (2013) und „Lichtspiel“ (2023).

Kehlmann wurde 1975 in München geboren, wuchs aber größtenteils in Wien auf. Sein Vater ist der österreichische Regisseur Michael Kehlmann, seine Mutter die Schauspielerin Dagmar Mette. Nach dem Schulabschluss in Wien studierte er Philosophie und Germanistik. Sein erster Roman, „Beerholms Vorstellung“, erschien 1997 und erzählt die Geschichte des Zauberers und Magiers Beerholm. Auch Kehlmann selbst, so liest man immer wieder, interessiert sich für Zauberei und beherrscht einige Zauberstücke. Außerdem schreibt er u. a. Operntexte und Theaterstücke. Er erhielt zahlreiche Preise, u. a. den Thomas-Mann-Preis, den Kleist-Preis und den Candide-Preis. 2009 hatte Kehlmann, zusammen mit Jonathan Franzen und Adam Haslett, die Tübinger Poetik-Dozentur inne, zudem hielt er die Frankfurter Poetikvorlesungen. Nach einigen Jahren in New York lebt der Autor wieder in Berlin.



Weitere Beiträge