Autor: bücher.de
Datum: 26.10.2023
Tags: Empfehlung, Unser Buchtipp

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Heute nimmt Vigdis Hjorth Sie mit nach Norwegen und erzählt eine erschütternde Mutter-Tochter-Geschichte. Wir stellen das Buch vor und haben der Autorin vier Fragen dazu gestellt. Ihre Antworten lesen Sie weiter unten auf dieser Seite.

Wenn das Schweigen unerträglich wird

Eine literarische Annäherung an die erste aller Beziehungen

Vigdis Hjorth ist in Norwegen eine literarische Größe. Im deutschsprachigen Raum galt die Autorin lange als Geheimtipp. Das ändert sich gerade. In ihrem neuen Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ verhandelt Hjorth existenzielle Themen: Liebe, Verlust, Schuld, Traumata, Verletzungen. Wie mit den Verwundungen umgehen, die Beziehungen in Familien schlagen? Vor allem die Beziehung zu dem Menschen, der einem das Leben geschenkt hat: der Mutter. 

Sprachlich virtuos schildert Hjorth die Auseinandersetzungen in einer schmerzhaften Mutter-Tochter-Geschichte. Seite um Seite entfaltet sich ein inneres Ringen, das die Hauptfigur Johanna, eine erfolgreiche Malerin, durchlebt. Einst floh sie vor der Familienhölle und verarbeitete sie in ihren schonungslosen, für sie wahrhaftigen Bildern. Bilder, die alle Welt sehen konnte. Unverzeihlich für den Rest der Familie. Johanna zeigte ihre Wunden. Und die Familie, auch Johannas Schwester Ruth, tat und tut so, als hätte es sie nie gegeben. Bis heute. „Mutter steigt ein, und die ohnmächtige Verzweiflung zwischen ihrem offenkundigen Leiden und ihrem Verhalten, als wäre alles in Ordnung, dieser ganze Unsinn, der immer aus ihrem Mund kam.“ 

Nun ist Johanna nach Jahrzehnten der Abwesenheit wieder zurück in ihrer Heimatstadt. Dort, wo die Mutter lebt. Dort, wo der einst übermächtige und alle kontrollierende Vater begraben ist. Warum kommt sie zurück? Der Hoffnung folgend, Dinge zu klären, entscheidende Fragen? Doch für die Mutter ist die abtrünnige Tochter wie tot. Sie beantwortet ihre Anrufe nicht, lässt, wenn nicht anders möglich, Johannas Schwester Ruth für sie sprechen, schreiben. Ruth, die sich um die alte Mutter kümmert. Ruth, die das Familienschweigen immer mitgetragen hat und Johannas Verbannung verteidigt, als wäre Sprechen Hochverrat, als wäre der Wunsch, sich zu öffnen und wahrhaftig zu sein, verrückt. Immer verzweifelter versucht Johanna, Kontakt herzustellen. Hinterfragt gleichzeitig auch dieses Handeln, reflektiert die darin liegende Sehnsucht.

Vigdis Hjorth breitet diesen Versuch einer Annäherung, die Fragen und Verwerfungen, die Zerrissenheit, ihre Erkenntnisse und den Zweifel an diesen Erkenntnissen dicht und mit kühlem Feuer vor uns aus. Dass dies auch in der deutschen Fassung eindrücklich gelingt, dafür hat Übersetzerin Gabriele Haefs gesorgt. Sprachlich konzentriert, formal am inneren Gespräch sich orientierend, mal längere Abschnitte, aber immer wieder auch eine fast leere Seite. Darauf ein einzelner Satz. Die Wucht des zuvor Geschriebenen wieder aufgreifend, resümierend, in Sätzen wie: „Mutter ist tot in mir, trotzdem kommt es manchmal vor, dass sie sich bewegt.“

Interview mit Vigdis Hjorth

Wenn Sie sich entscheiden müssten: Welche Charaktere in „Die Wahrheiten meiner Mutter“ liegen Ihnen besonders am Herzen? Und warum?

Die Künstlerin Johanna ist mir nah, auch wenn sie irritierend und neurotisch ist. (So wie ich selbst.) Ich bin wütend auf sie und fühle gleichzeitig auch Mitleid mit ihr (so wie ich oft wütend auf mich selbst bin und Mitleid mit mir habe). Aber ich bin auch sehr neugierig auf Johannas Mutter und ihre Schwester, ich würde sie gerne besser kennenlernen ...

Welche Überraschung haben Sie beim Schreiben oder Recherchieren von „Die Wahrheiten meiner Mutter“ erlebt?

Wie eng Neugierde, Sehnsucht und Aggression miteinander verbunden sind.

Warum ist es eine besonders gute Idee, „Die Wahrheiten meiner Mutter“ zu verschenken?

Weil jeder, der eine Mutter hat – und die meisten von uns haben eine Mutter, in welcher Bedeutung des Wortes auch immer –, weiß, wie ambivalent unsere Beziehung zu dieser Person ist, von der wir abhängig sind. Die Frage, die sich vielleicht stellt, ist: Kann eine Mutter überhaupt sterben?

Der Herbst ist die Zeit mit den meisten Buchevents. Was war Ihr schönstes Erlebnis bei einer eigenen Veranstaltung? Und welches würden Sie am liebsten vergessen?

Im Moment, in diesem Herbst kann ich, auch jenseits eigener Erlebnisse auf Lesungen, sagen: Ich bin glücklich! Wie die meisten norwegischen Leser feiere ich, dass Jon Fosse den Literaturnobelpreis erhalten hat! Dag Solstad sollte ihn auch bekommen. Er wird wahrscheinlich nächstes Jahr dran sein. Ich drücke die Daumen!

(Interview: Literaturtest, Oktober 2023)



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