Autor: bücher.de
Datum: 01.12.2023
Tags: Empfehlung, Krimi des Monats

Wie Sterben geht

»Kaum ein Autor kennt die Gesetze und inneren Strukturen der internationalen Geheimdienste so gut wie Andreas Pflüger - und kann so brillant darüber schreiben.« Hans-Ludwig Zachert, Ehemaliger Chef der Spionageabwehr des BKA
Winter 1983. Auf der Glienicker Brücke ist alles bereit für den spektakulärsten Agentenaustausch der Geschichte. KGB-Offizier Rem Kukura - Deckname Pilger - soll …
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Krimi des Monats

Krimitipp Dezember: Andreas Pflüger, „Wie Sterben geht“

Wenn ein neuer Thriller von Andreas Pflüger erscheint, ist oft zu lesen, der Autor spiele in einer ganz eigenen Liga. Und das stimmt. Diese Art zu schreiben, Pflüger-Sätze wie „Pullach war so tot wie ein überfahrenes Eichhörnchen“, „solche Männer lebten nach dem Kodex von Skorpionen“ oder „Obwohl es ganz und gar unmöglich war, lag die Temperatur von Wolfs Lachen noch unter der seines Lächelns“. Dazu der Plot: intelligent, herausfordernd im positiven Sinne und atemlos zu lesen. Es geht heißt her in der Welt der Geheimdienste, auch wenn die Geschichte während des Kalten Krieges spielt.

Erstmal legt Pflüger in „Wie Sterben geht“ so einiges in Schutt und Asche. Die Übergabe eines russischen Agenten ist geplant. Seine Verbindungsführerin in Deutschland heißt Nina Winter. Sie ist die Einzige, die den „Pink Star“ – also einen Ausnahmeagenten mit hochrangigen Verbindungen – identifizieren kann. Nur sie weiß, wie Rem Kukura aussieht. Eigentlich ist die Glienicker Brücke die bestgesicherte Brücke der Welt. Die Verbindung zwischen Ost und West in den Zeiten des Kalten Krieges. Hier soll der Austausch stattfinden. Rem Kukura gegen einen üblen Sprössling eines Politbüromitglieds, der Mord als Hobby sieht ... Doch plötzlich läuft die Sache komplett aus dem Ruder. Klar, dass irgendwo ein Verräter sitzen muss. Dann rollt Andreas Pflüger die faszinierende Vorgeschichte aus, bis zum Tag des Austauschs.

Nina Winter, braune Locken, groß, Läuferin, Leistungssportlerin mit einem Faible für Wondratschek. Ein „Gesicht mit diesem leidigen Ernst, den sie nicht loswurde.“ Slawistik- und Russischstudium, Promotion, Bewerbung beim Auswärtigen Amt. Sie landet im Kulturreferat Osteuropa und schreibt einen Text, der u. a. das Schweigen der Bundesregierung gegenüber Moskau anprangert, gegen die Praxis in Russland, missliebige Menschen, vor allem Schriftsteller, Künstler, in die Psychiatrie zu sperren. Schließlich gebe es in Russland keine politischen Gefangenen, nur Kranke, wie im Westen auch ... Ein kurzer Text, ein paar Sätze, auf allen Schreibtischen platziert, und Nina wird zum Vorgesetzten gerufen. Direkt nach dem Gespräch kündigt sie, will Lektorin werden. Und doch entscheidet sie sich irgendwann wieder für den BND. Aber was will ein Freigeist wie Nina beim BND? Ganz simpel: Sie sieht die Chance, etwas zu bewegen.

Fast vier Jahre vor der Übergabe auf der Glienicker Brücke: BND-Präsident Schmücke will Nina sehen. Noch mit im Raum: Julius Boehnke, Chef der Aufklärung. Das, was Nina nun erfährt, wissen bislang nur Boehnke und Schmücke. Es geht um die Quelle in Moskau, Deckname „Pilger“. Es ist Rem. Und er will Nina als Verbindungsführerin, sonst keine. Klar, Nina spricht besser Russisch als Puschkin, wie Boehnke behauptet. Aber sie ist dafür gar nicht ausgebildet. Reizt es Nina? Natürlich. Schließlich ist die aktuelle Weltlage nicht ohne. Die Sowjetarmee ist gerade in Afghanistan einmarschiert. NATO-Doppelbeschluss. Der Westen bricht alle Brücken nach Moskau ab. Nina muss sich entscheiden: Will sie die wichtigste Mission, die derzeit beim BND zu vergeben ist, annehmen? Sie will. Nun ist sie in einer Geheimhaltungsstufe, die offiziell nicht einmal existiert. Natürlich muss Nina nun in einen Agenten-Crash-Kurs. Zwei Monate, ihr Trainer nennt sich Thräne, ist eine Legende und ein harter Hund. Alle Versuche, ihn bei Verfolgungen abzuschütteln, scheitern anfangs. Aufgeben ist aber für Nina keine Option. Und so lernt sie wie besessen und kommt, wie geplant, nach Moskau. Das Spiel der Geheimdienste beginnt …

Am besten, Sie starten mit dem Buch an einem Wochenende – denn Sie werden es nicht mehr aus den Händen legen wollen, bis zum Schluss. In „Wie Sterben geht“ hat Andreas Pflüger wieder einmal gezeigt, dass er definitiv in einer ganz eigenen Liga schreibt.

Autoreninterview

INTERVIEW ANDREAS PFLÜGER

Nina Winter, alias Elsa Opel, ist die Hauptfigur in „Wie Sterben geht“. Was ist Nina für ein Mensch, was treibt sie an – in fünf Worten?


Mut. Angst. Freundschaft. Bedingungslosigkeit. Hoffnung.

Die Welt der Geheimdienste fasziniert viele Menschen. Warum fasziniert sie Andreas Pflüger?

Es ist ein Kompendium menschlicher Leidenschaften und Abgründe. An den Schaltstellen sitzen Männer, manchmal auch Frauen, die „Moral“ im Duden nachschlagen müssten. Vordergründig gesehen spielen sie ein Spiel, aber eins, bei dem das eigene Leben und das von anderen als Einsatz dient. Wie beim Schach werden Figuren geopfert, mitunter gar die Dame. Mit allen Mitteln wird versucht, den Gegner zu dominieren, ihm den eigenen Willen aufzuzwingen. Im Roman lasse ich Nina Winters Ausbilder sagen: „Wir führen Krieg mit unserem Verstand. Es geht darum, in den Kopf des Feindes einzudringen, nicht in seine Tresore.“ Genau das versuche ich auch als Autor bei meinen Figuren. Ist Romaneschreiben also eine Art Krieg? Ja, manchmal.

„Pullach war so tot wie ein überfahrenes Eichhörnchen“, ist so ein Pflüger-Satz. Wie gut kennen Sie die BND-Zentrale?

So gut es jemandem möglich ist, dem erlaubt wurde, das Pullacher Camp zu besuchen. Das war im September letzten Jahres – und eine ungewöhnliche Geste für einen Dienst, bei dem Geheimhaltung fast religiöse Züge trägt. Ich stand in einem Atombunker aus den Sechzigern, im früheren Schlafzimmer von Martin Bormann (nach dem Krieg Amtszimmer aller BND-Präsidenten) und im Büro meiner Romanheldin Nina. Aber das alles ist ja nur die äußere Hülle. Viel wichtiger war, sich in die Zeit hineinzufühlen, sich vorzustellen, wie dieser seltsame Ort, an dem noch die Gespenster der braunen Vergangenheit hausen, die Menschen geformt hat, die dort ihre gefährlichen Schachzüge geplant haben.

In all Ihren Büchern wird sehr klar, dass Sie bis ins kleinste Detail recherchieren. Wie schwer ist es, danach die Freiheiten zu nutzen, die Sie als Autor haben?

Recherche gehört zum Handwerk, sie ist die Grundvorrausetzung, ohne die meine Romane nicht möglich wären. Ich habe das nie als Beschränkung empfunden, im Gegenteil: Recherche macht mich erst frei in meinem Erzählen. Um fliegen zu können, müssen wir wissen, warum die Luft uns trägt, und manchmal breitet auch die Wirklichkeit ihre Schwingen aus. Menschen, die wirklich gelebt und gewirkt haben, treten in meinen Büchern genauso auf wie erdachte Personen. Ich mache da keine großen Unterschiede, denn in einer literarischen Erzählung wird jeder Mensch zwangsläufig zu einer Erfindung.

Ihr Wissen um Geheimdienste ist enorm. Was mussten Sie für „Wie Sterben geht“ neu recherchieren und was hat Sie bei der Recherche überrascht?

In der Welt der Geheimdienste bin ich seit meinem ersten Roman „Operation Rubikon“ zuhause. So wie ein Maurer nicht jedes Mal neu lernen muss, wie man eine Wand hochzieht, habe ich mein Rüstzeug parat, wenn ich über Spionage und Gegenspionage schreibe. Für „Wie Sterben geht“ habe ich mich allerdings noch einmal gezielt mit Struktur und Methodik des KGB in den Achtzigern beschäftigt. Und dabei hat mich am meisten überrascht, nein, schockiert, wie blauäugig ich in meinen pazifistischen jungen Jahren war, als ich gegen die NATO protestiert habe und nicht wusste, dass der KGB die Friedensbewegung in Westeuropa gesteuert und manipuliert hat. Am herausforderndsten war natürlich das Moskau von 1980–1983, der Hauptspielort des Romans. Wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine konnte ich eine geplante Recherchereise nicht mehr antreten und musste mir anders behelfen: Literatur, Filme, Gespräche mit Menschen, die damals dort gelebt haben. Am Ende hat mein Handwerk als Erzähler den Ausschlag gegeben. Ich habe schon größere Herausforderungen angenommen als diese, mit Jenny Aaron die Welt aus der Sicht einer Blinden zu beschreiben beispielsweise. Auf meiner persönlichen Schwierigkeitsskala von eins bis zehn kriegt Moskau eine stabile sieben.

Gibt es, neben all der Rechercheliteratur, auch Zeit für das Lesen anderer Bücher? Literatur? Thriller? Wenn ja, was lesen Sie aktuell oder würden es gerne lesen?

Ich komme kaum zum Lesen schöner Literatur, weil ich in der Tat fast ständig recherchiere. Der letzte Thriller, den ich auf dem Nachttisch liegen hatte, war „Fünf Winter“ von James Kestrel, ein sehr gutes Buch, das mir Freude bereitet hat. Ansonsten gehören Thriller nur selten zu meiner Lektüre. In den Achtzigern habe ich mein Geld sieben Jahre lang als Taxifahrer verdient und versichere Ihnen, dass ein Taxifahrer nach der Schicht keine Lust mehr hat, einen Roman zu lesen, der vom Taxifahren handelt.

Woran arbeiten Sie aktuell oder demnächst?

Mein Leben verläuft im immergleichen Rhythmus: vor dem Roman, im Roman, nach dem Roman. Die Phase nach dem Roman ist die schwerste, weil ich dann kaputt bin und gleichzeitig Abschied von meinem Text und vor allem von den Figuren nehmen muss, die mich so lange Tag und Nacht begleitet haben. Das ist Trauerarbeit. Dann Buchmesse, Interviews, Auftritte, Lesereisen, eine Zeit, in der ich nicht dazu komme, mich ernsthaft mit einem neuen Roman zu beschäftigen. Erst jetzt, Ende November, stehlen sich wieder Bilder und neue Figuren in meine Träume, das ist schön, aber ich drücke das noch weg. Im Zen heißt es, dass eine Tasse erst ganz leer sein muss, um sie zu füllen. In meiner Tasse ist noch eine Pfütze auf dem Boden – ich denke, dass sie etwa Anfang Februar wieder gefüllt werden kann.

Interview: Literaturtest, 2023

Autorenporträt

Andreas Pflüger wurde 1957 in Thüringen geboren. Er wuchs im Saarland auf und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Zu seinen Werken zählen Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher, Dokumentarfilme und Romane. Nach dem Spionagethriller Operation Rubikon, seiner preisgekrönten Bestseller-Trilogie um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron und Ritchie Girl legt Pflüger nun seinen sechsten Roman vor.

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