Krimi des Monats Januar 2020
„Die Wälder“ von Melanie Raabe - Von der bücher.de-Redaktion gelesen und auf Herz und Nieren getestet
Krimi des Monats
Melanie Raabe: Die WälderSkelette, Vampire und Zombiehorden sind auf den Straßen unterwegs. Kein Wunder. Es ist Halloween, und in Feierlaune scheinen die Menschen unbekümmert mit dem Tod und finsteren Mächten zu flirten. Doch die junge Ärztin Nina hat gerade das ganz reale, alltägliche Grauen hinter sich: eine extra Schicht in der Notaufnahme ihres Krankenhauses. Nur noch ein paar Minuten die anonyme Großstadt ertragen, in deren U-Bahnen und Straßenschluchten sich die Menschen noch offensichtlicher maskieren als sonst – dann könnte sie es sich zuhause mit Süßkartoffelpommes und Bill Murray bequem machen, ihrem kleinen Hund, den sie nach einem der Hauptdarsteller der legendären Gruselkomödie „Ghostbusters“ genannt hat. Aber dann kommt ein Anruf, der Ninas Leben abrupt auf den Kopf stellt. Tim, ihr bester Freund seit Kindertagen, ist ums Leben gekommen. Es war ein Unfall, so heißt es. Eine bisher noch nicht abgehörte Mailboxnachricht, die der weitgereiste Starfotograf seiner besten Freundin kurz zuvor hinterlassen hatte, spricht allerdings eine andere Sprache. Tim war in das Dorf ihrer Jugend zurückgekehrt und neuen Hinweisen auf seine Schwester Gloria gefolgt, die vor vielen Jahren spurlos in den endlosen Wäldern ihrer Heimat verschwunden war. Nun glaubte er, Glorias Mörder enttarnen zu können und bittet Nina, seine Arbeit zu vollenden, falls ihm etwas zustoßen sollte.
Erst vor eineinhalb Jahren hatte die Thrillerautorin Melanie Raabe in „Der Schatten“ eine Journalistin portraitiert, die auf der Flucht vor traumatischen Erinnerungen versucht, in Wien ein neues Leben zu beginnen. Nun lässt sie eine aus der Provinz in die Großstadt geflohene Ärztin in das Dorf ihrer Jugend zurückkehren, um sich mit traumatischen Ereignissen aus ihrer Kindheit zu konfrontieren. In erster Linie geht es um einen unheimlichen Dorfbewohner namens Wolff, den Tim wohl dringend verdächtigte, Gloria einst getötet zu haben. Andererseits war Tim immer schon jemand, der zwischen seine Fantasien und der Wirklichkeit nicht verlässlich unterscheiden konnte. Als Kind war er beispielsweise zum Gespött des Dorfes geworden, als er behauptete, im Wald einem lebendigen Tiger begegnet zu sein. Sein späterer Hang zu Drogen hatte es selbst Nina zunehmend schwergemacht, den Worten ihres Freundes zu vertrauen. Ihre Reise in die Vergangenheit wird so nicht zuletzt auch zu einer Auseinandersetzung mit den eigenen Erinnerungen, die sich eben oftmals als trügerisch erweisen können – so trügerisch wie die vermeintliche dörfliche Idylle, in der man sich untereinander kennt und auch ein Stück weit kontrolliert, wo aber trotzdem die schrecklichsten Dinge geschehen und dann kollektiv verdrängt werden können.
Um Tims letzten Willen zu erfüllen, wärmt Nina alte Bekanntschaften auf. Und so manche vermeintliche Gewissheit, die Nina aus der Ferne gehegt und gepflegt hat, erweist sich bei näherer Betrachtung als unbegründet. Der mittlerweile als Polizist arbeitende David, ein früher gern belächelter Kumpel aus Kindheitstagen, entschließt sich unvermutet, Nina unter der Hand bei ihrer Suche zu helfen. Rita, die Mutter von Tim und Gloria, erweist sich hingegen als das Gegenteil jener fürsorglich bemühten Frau, als die Nina sie immer gesehen hatte. In einer Parallelhandlung auf „Zeitzeugenebene“ beschreibt Melanie Raabe die Geschehnisse rund um den Dorfjungen Peter, der als Letzter Glorias Schreien in den Wäldern gehört hatte. So mischen sich im Laufe der Zeit märchenhafte, unheimliche Töne in Ninas und Davids streng rational gesteuerte Nachforschungen. Ausgehend von einem letzten Freundschaftsdienst entfaltet sich der Roman „Die Wälder“ zu einem vielschichtigen Thriller um Trauerarbeit – das ist ebenso berührend wie fesselnd.
Autoreninterview
Interview mit Melanie Raabe zu „Die Wälder“In unserem letzten Interview zu „Der Schatten“ haben Sie angedeutet, dass Sie in New York auf die Idee zu Ihrem neuen Buch gekommen sind. Wie viel hat „Die Wälder“ nun noch mit dem Großstadtdschungel zu tun?
Melanie Raabe: Tatsächlich gar nichts! Das ist ein bisschen kurios: Ich war in der für meine Begriffe aufregendsten Stadt der Welt – und habe dort entschieden, dass mein nächster Roman in einem winzigen Dorf und im Wald spielen soll.
Ihre Geschichte beginnt an Halloween. Welche Beziehung haben Sie als Wahlkölnerin zu diesem Tag oder auch zum Karneval?
Melanie Raabe: Mit Karneval habe ich tatsächlich wenig am Hut, aber ich mochte es schon immer, mich zu verkleiden. Als Teenager habe ich Theater gespielt und festgestellt, wie viel Spaß es mir macht, einen Abend lang in die Haut einer anderen zu schlüpfen. Halloween mag ich besonders, weil ich den unheimlichen Touch liebe, den es hat. Hexen, Vampire – all so etwas faszinierte mich schon als Kind.
Ihre Protagonistin Nina verschlägt es in das Dorf ihrer Kindheit. Sie sind 1981 in Jena geboren. Inwiefern fühlen Sie sich noch mit den Orten Ihrer Jugend verbunden?
Melanie Raabe: Die Orte unserer Kindheit prägen uns. Das ist sicher bei jeder und jedem so. Ich fühle mich den Orten, die ich hinter mir gelassen habe, vor allem durch die Menschen verbunden, die noch dort leben und die ich immer mal wieder besuche.
Ihre Protagonistin Nina ist Ärztin und war die beste Freundin eines international erfolgreichen Fotografen. Was fasziniert Sie an diesen beiden Berufswelten?
Melanie Raabe: Zum einen: Beides sind Berufe, die ich bewundere – und die ich niemals ausüben könnte. Ich bin eine grauenhafte Fotografin und hätte niemals Ärztin werden können. Dafür fehlen mir schon allein die Nerven. Ein Teil von mir hat sich allerdings immer gewünscht, einen Job machen zu können, in dem man Menschen wirklich helfen kann. Und da fällt mir immer zu allererst eben dieser ein: Ärztin!
Sie sind offizielle Botschafterin der Stiftung Lesen. Welche Erfahrungen haben Sie in dieser Funktion gemacht?
Melanie Raabe: Als Lesebotschafterin versuche ich mich für die Leseförderung einzusetzen. Das heißt auch, dass ich selbst beispielsweise an Schulen gehe, vorlese und versuche, Kinder und Jugendliche für Bücher zu interessieren. Das ist oft schön, manchmal aber auch ernüchternd. Die Studien besagen: Ein großer Teil der Kids in Deutschland hält Lesen für Zeitverschwendung. Ich hoffe natürlich, dass dennoch auch in Jahrzehnten noch eine große Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen – oder der Menschen überhaupt – viel und gerne lesen wird. Ich hoffe, dass wir den Abwärtstrend umkehren können! Und das ist vielleicht gar nicht so naiv, wie es klingt. Mehr und mehr Menschen sind erschöpft von den Reizen und der Informationsflut des Internets. Bücher bieten den idealen Gegenpol.
In Ihrem Interview-Blog „Biographilia“ stellen Sie nicht prominenten Menschen so ungewöhnliche Fragen wie: „Wem würdest du mit einer leeren Bierflasche gerne mal eins über die Rübe geben?“ Wie lautet Ihre Antwort auf diese Frage?
Melanie Raabe: Ich neige nicht zu Gewalt. Aber allen Nazis da draußen würde ich zumindest im metaphorischen Sinne gerne mal eins über die Rübe geben.
Können Sie auch schon verraten, wie Sie auf die Idee zu Ihrem nächsten Buch gekommen sind?
Melanie Raabe: Mein nächstes Buch wird ein Sachbuch über Kreativität. Mit meiner Freundin Laura Kampf betreibe ich einen wöchentlichen Podcast zu eben diesem Thema, „Raabe & Kampf“. Da lag es nahe, auch mal ein Buch dazu zu machen.
Interview: Literaturtest, 2020
Autorenporträt
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