Autor: Vera
Datum: 25.09.2020
Tags: Empfehlung, Unser Buchtipp

Das Abenteuer beginnt, wenn der Kistendeckel aufschwingt – das trifft auf Deutschlands berühmtestes Puppentheater zu und auch auf „Herzfaden“, Thomas Hettches Roman der Augsburger Puppenkiste. So öffnet sich gleich auf der ersten Seite eine unscheinbare hölzerne Tür. Dahinter verbirgt sich eine Welt wunderbarer Geschichten – und ein dramatisches Stück Zeitgeschichte. 

Ein zwölfjähriges Mädchen, das soeben trotzig aus einer Vorstellung gestürmt ist, entdeckt durch Zufall eine Holztür im Theaterfoyer und gelangt über eine dunkle Treppe auf einen dämmrigen Dachboden. Dort trifft sie zunächst auf eine singende Marionette ohne Puppenspieler, dann auf eine wunderschöne Dame im weißen Kleid, die sich als lebendige Tote entpuppt und Spannendes zu erzählen weiß. „Das Mädchen gruselte es, doch was sollte es tun?“ Eben. Der Einstieg in Thomas Hettches fantastischen Roman ist so mitreißend, dass für beklemmende Gefühle keine Zeit bleibt – schnell umblättern!

Doppelt fantastisch

„Herzfaden“ spielt auf zwei Handlungsebenen: Das Mädchen auf dem Dachboden erlebt sein unwirkliches Abenteuer in der Gegenwart. Die Dame im weißen Kleid ist Hannelore Marschall-Oehmichen, die Tochter von Walter Oehmichen, der die Augsburger Puppenkiste 1948 gründete. Sie erzählt von einer Welt rund um die Puppenbühne und vom Leben im Jahr 1939 bis in die 1960er. 

Die gegenwärtige Erzählebene steht in roter Schrift und im Präteritum, während die Vergangenheit in blauer Schrift gedruckt ist und im Präsens erzählt wird. Das dient einerseits als Hilfestellung für die Leser. Gleichzeitig verleiht es der Gegenwart etwas Märchenhaftes und der Vergangenheit etwas Unmittelbares.

Auch erzählerisch gelingt es Thomas Hettche mühelos, zwischen beiden Ebenen hin und her zu wechseln. Mit leichter Hand sorgt er dafür, dass sich die Fäden nicht verheddern. Und mit viel Feingefühl lenkt er sein Publikum durch eine dunkle Vergangenheit, in der immer wieder der Zauber und die Unschuld von Oehmichens Marionettentheater aufleuchten.

Fazit: Thomas Hettche erzählt deutsche Nachkriegsgeschichte mit einer ausdrucksstarken Leichtigkeit, die sonst nur ein Puppenspieler beherrscht. Mit „Herzfaden“ steht er auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises.




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