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leseleucht
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Alfter

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Insgesamt 137 Bewertungen
Bewertung vom 23.01.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


sehr gut

"und sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen"
Ginsterburg ist eine kleine Stadt mit historischem Kern (n)irgendwo in Deutschland. Mosaikartig entfalten sich vor des Lesers Augen Lebensausschnitte unterschiedlicher Bewohner. Anhand von drei Stichproben aus der Zeit des 1000jährigen Reiches: Aufstieg 1935, Höhpunkt 1940 und Fall 1945 zeigt Arno Frank, wie es den Bewohnern ergeht: aus den Kindern werden Kriegshelden oder -opfer, aus den Politikern und Industriellen werden Profiteure und Kriegsgewinnler, denen aber private Tragödien nicht erspart bleiben, manch einer macht Karriere im Reich, andere verlieren ihre Existenz oder auch ihr Leben. Schon in der scheinbaren Idylle im Jahre 1935, als alles noch ganz harmlos schien und es so langsam wieder aufwärts ging mit dem von Ersten Weltkrieg gebeugten Deutschen Reiches, tauchen Vorahnung auf das bevorstehenden Grauen in einzelnen lakonischen Sätzen auf. Auch 1940 ist der Krieg wenig präsent in Ginsterburg. Er dringt eher in Form von Meldungen über Heldentaten an die Bewohner. Auch wenn der Held dann auch den Heldentod gestorben ist. Die Verbrechen, die den Aufstieg des Deutschen Reiches begleiten, werden mehr angedeutet als ausgeführt. Ab und an schleicht sich ein leiser Zweifel ein bei dem ein oder anderen, wird aber nicht lauter. Und 1945 geht dann alles ganz schnell. Die einen feiern noch die letzten Orgien vor dem Fall und dann schreitet Gott mit lautem „Bumbumbum“ durch das Paradies Ginsterburg auf der Suche nach den sündigen Menschen, die sich versteckt haben, weil sie etwas Verbotenes getan haben. Auch Ginsterburg geht unter wie der Rest des Reiches. Und wie im Rest des Reiches sterben auch die Unschuldigen und die Opfer und überleben die Schuldigen.
Arno Frank erzählt in gewohnt begeistertem Stil, der den Leser leicht durch Schweres und Tiefgehendes führt. Franks Figuren sind menschlich, keiner ist gut, schillernder Held, oder widerwärtig und böse, der reine Antagonist. Menschlich, allzu menschlich sind die Figuren. Und die Menschen sind eben gut und böse, die einen mehr, die anderen weniger. Gerade hinter dem Menschlichen verbirgt sich auf die Unmenschlichkeit, der Abgrund, der sich in Franks Erzählung zwischen den Zeilen manchmal auftut und in einzelnen Sätzen. Sein leises, feines Erzählen kommt ohne gewaltige Bilder, übermächtiges Grauen und große Gebärde aus. Dafür bleibt es lange im Kopf, lässt lange die Gedanken über das Gelesene nachdenken. Und doch nicht so ganz begreifen. In dem Figurenmosaik fällt es bisweilen schwer, den Faden der einzelnen Figuren zu verfolgen.Viele Fragen bleiben am Ende offen.Am Modell, quasi en miniature, zeigt Frank ein beeindruckendes Bild des Gesamtdeutschen Reichs in seinen drei Etappen, des 1000jährigen Reichs, das innerhalb von 12 Jahren Aufstieg, Höhepunkt und Untergang hingelegt hat und dabei ganz unterschiedliche Gesichter seiner Bewohner zum Vorschein gebracht hat. Es geht mehr um das Schildern und das Beobachten von Entwicklungen, von Schicksal, Fügung, Glück und Unglück, von Plänen und Zufällen, weniger um das Bewerten und Urteilen von Gut und Böse. Am Ende nach gefallenem Vorhang sieht sich der Leser mit vielen offenen Fragen, ohne tragischen Helden und ohne Moral von der Geschicht.

Bewertung vom 04.01.2025
Triebwasser
Altmann, Sandra

Triebwasser


sehr gut

Düster und wenig fortschrittlich
„Triebwasser“ – so der Name des Romans von Sandra Altmann – ist das Wasser, das in einem Elektrizitätswerk das Wasser zur Stromgewinnung antreibt, vereinfacht erklärt. Um den Bau eines solchen geht es in dem Roman. Dieser sorgt unter den Einwohnern des kleinen Dörfchens am Wallersee für Konflikte. Da sind die, die am Fortschritt teil- und Nutzen von ihm haben wollen. Und da sind die anderen, die darin eine Gefährdung ihres Bestandes sehen. Allerdings geht es beiden Seiten weniger um den Nutzen, den der Fortschritt im Allgemeinen für die Gemeinschaft haben könnte, oder dessen Schaden. In der Regel geht es um persönliche Belange, um Gewinnsucht, Existenzangst, durchmischt von Aberglauben, der auch zur Erhaltung des Status quo und zur Erziehung eingesetzt wird. Schon die Kinder lassen sich in ihren Handlungen vom Aberglauben leiten, beschwören Naturgötter zur Heilung der kranken Mutter, sehen in Naturgewalten das Wirken von Naturgeistern. In der Regel zur Strafe für vermeintliche Sünden. Schon dadurch entsteht ein lastender Druck auf der Gemeinschaft. Liebe und Eifersucht, Neid und Missgunst, Trunksucht und Grobheit tun ihr übriges die Dynamiken im Dorf aufs äußerte zu spannen, bis sich in einem unerwarteten Ende die Spannung auf tragisch-komische Weise entläd. Jeweils abwechselnd wird die Handlung in einem Kapitel pro Monat entfaltet und dann in Anlehnung daraus eine der Figuren aus dem Dorf: sieben Männer, drei Frauen und sechs Kinder aus drei Familien vorgestellt, indem die Autorin sie aus ihrer eigenen Perspektive heraus erzählen lässt. So ergibt sich ein interessanter multiperspektivischer Blick auf die Geschehnisse. Dabei verleiht sie jeder Figur eine authentische Sprache, mit Hilfe der diese ungeschönt ihre Gedanken verrät. Dabei geht es häufig derb und lieblos zu, was schon eine gewisse abschreckende Wirkung auf den Leser hat. Die Kinder wirken häufig dumm, zänkisch oder auch vom Aberglauben hysterisch. Die Frauen sind verhärmt vom Schicksal, häufig gefühlskalt oder gar bösartig. Die Männer, die gerne über den Durst trinken, sind grob, lieblos, triebgesteuert oder auch von hinterlistiger Schläue. Es gibt kaum eine Figur, die den Leser zur Identifikation einläd. Man kann sich schon vorstellen, dass ein hartes, der Natur abgerungenes Lebens als Fischer oder Holzbauer Menschen so werden lässt, aber eigentlich möchte man sich das so gar nicht so gerne vorstellen. Dass es der Fortschritt schwer hat bei solchen Menschen, ist offensichtlich. Auch der Lehrer, der sich immer mehr der Dorfgemeinschaft assimiliert, vermag kaum, einen rationaleren oder humaneren Standpunkt zu vermitteln. Die Geschichte verliert sich immer mehr in der Atmosphäre eines düsteren Heimatromans à la Andrea Maria Schenkel oder Franz Xaver Krötz und verliert den Anbruch einer neuen Zeit zunehmend aus den Augen.
Eine nicht unspannende, düstere, allerdings wenig erbauliche Lektüre!

Bewertung vom 04.01.2025
Berlin war meine Stadt
Mann, Klaus

Berlin war meine Stadt


ausgezeichnet

Toll zusammengestellte Auswahl
In dem Bändchen „Berlin war meine Stadt“ hat der Herausgeber und Vorsitzende der Klaus Mann Initiative Berlin e. V. aus verschiedenen Werken Klaus Manns Texte zusammengestellt, die die Affinität des Schriftstellers zum Berlin der wilden 20er Jahre zum Ausdruck bringen. Dezent eingeleitet, kann auch der Nicht-Kenner der Gesamtwerke direkt folgen, und es entsteht ihm nicht nur ein Bild Berlins, sondern auch des Autors Klaus Mann von seinen Jugendjahren bis hinein ins Exil. Die ausgewählten Texte sind nicht nur autobiographisches Zeugnis, in denen sich die Faszination und gleichzeitige Orientierungslosigkeit der Jugend in der haltlosen Zeit nach Ersten Weltkrieg und dem Ende des Kaiserreiches spiegeln. In diesen Ausschnitten äußert sich auch der politische Klaus Mann. Dabei geht es nicht nur um die historisch bedingte Kritik am Nationalismus und Nationalsozialismus, die ihn konsequent ins Exil trieben. Dies wird im eindrucksvollen Schlusskapitel, das auch literaturhistorisch spannend ist, lebendig geschildert. Klaus Mann vermag es, seine und die Position der emigrierten Schriftsteller als absolut klar, keineswegs opportun und notwendig deutlich zu machen. Darüber hinaus ergeben sich aus seiner liberalen, europäisch ausgerichteten Geisteshaltung manch Gedanken, die auch heute noch von absoluter Aktualität sind: „Wenn Europa liebenswert und groß gewesen ist, diesem zweifachen Erbe dankt es seinen Glanz. Golgatha und die Akropolis sind die Garanten europäischer Zivilisation, europäischen Lebens. Der Kontinent setzt seine Würde, ja seine Existenz aufs Spiel, sobald er diese doppelte Basis und Verpflichtung – Hellas plus Christentum – verleugnet und vergisst.“ (S.82). Vielleicht können solche Sätze in Zeiten neuer Orientierungslosigkeit Perspektive und Maßstab verleihen!
Die kleine Anthologie zeigt auf jeden Fall ein Bild von Klaus Mann, der bei aller Unstetheit, Nonkonformität, Todessehnsucht und Morphiumabhängigkeit ein scharfgesichtiger Denker und meisterhafter Schreiber ist, der sich nicht hinter seinem großen Vater zu verstecken muss. Auf jeden Fall bekommt man Lust, die Werke Klaus Manns wieder oder neu zu lesen.

Bewertung vom 31.12.2024
Über allen Bergen
Goby , Valentine

Über allen Bergen


gut

Imposante Beschreibungen, bisweilen aber sehr langatmig
Vadim ist Sohn eines jüdisch-russischen Emigranten in Paris. Sein Vater muss abtauchen, als die Deutschen Paris besetzen und die Restriktionen gegen Juden immer mehr zunehmen. Seine Mutter bringt Vadim in einem abgelegenen französischen Bergdorf unter. Als Vincent erlebt er dort einen langen, kalten weißen Winter, einen sich zögerlich durchsetzenden grünenden Frühling und einen heißen, gelben Sommer. Nur den Herbst darf er dort nicht mehr erleben, als die Deutschen immer näher rücken und damit sein Leben bedrohen.
Die Autorin Valentine Goby beschreibt das urtümliche Leben im Dorf und auf den umgebenden Almen im Laufe der Jahreszeiten sehr detailliert und anschaulich. Neben den alltäglichen Verrichtungen der Bewohner liegt auf den Farben und Erscheinungsformen der Natur ein besonderer Augenmerk. Durch Vincents unverstellten Blick, der die Berge, die Schneemassen, die Blumen, die Vögel und Insekten alle zum ersten Mal wahrnimmt, sieht auch der Leser die Bergwelt im Wandel der Zeiten. Den Gestus des Staunens und Starrens betreibt die Autorin allerdings mit wahrer Obsession. Teils mikroskopisch seziert werden die Lebewesen und die unbelebte Natur. Vincent hatte schon als Kind die Angewohnheit, die Dinge, die er zeichnet, in ihre kleinsten Linien, Schattierungen, Formen zu zergliedern. Er sieht beim Klang der Wörter Farben und hat Visionen von den Dingen, die er nicht oder noch nicht sehen kann, wie der Zukunft oder der Beschaffenheit des Tales unter dem Schnee. Bis in die Betrachtung der letzten Poren verlieren sich bisweilen die Beschreibungen, und zwischendurch wird das Lesen zur mühsamen Geduldsprobe. Ähnlich wie der Frühling im Tal mehr als 20fach vom wieder einsetzenden Winter verdrängt wird, so wird die Handlung immer wieder von Beschreibungen, Farbvisionen und Bildern unterbrochen. Dabei ist der Plot des vor den Deutschen geflohenen Jungen, der in dem engen Bergdorf, in dem sich alle genauestens kennen und dem es keine Geheimnisse zu geben scheint, seine Identität verbergen muss, ein sehr spannender. Allerdings gerät dieser Teil der Geschichte immer wieder in Vergessenheit. Die Geschichte ist zu wenig entschlossen zwischen modernem Heimatroman, historischem Roman, Künstlerroman und Coming-of-Age-Geschichte.

Bewertung vom 28.12.2024
Wir leben unsere Träume / Himmelsstürmerinnen Bd.2
Lark, Sarah

Wir leben unsere Träume / Himmelsstürmerinnen Bd.2


ausgezeichnet

Eine phantastische Erzählerin
Sarah Lark ist bekannt für ihre epischen Familiensagas auf unterschiedlichen Kontinenten mit unterschiedlichen historischen Backgroundgeschichten. Und nie wird es langweilig. Das ist schon eine hohe Kunst bei der Vielzahl an Seiten, die da im Laufe ihres Schriftstellerinnenlebens zusammengekommen sind.
Da macht der zweite Band der „Himmelsstürmerinnen“ keine Ausnahme. Ihr Ansinnen, wenig bekannten Episoden aus der Geschichte in ihren Romanen Gehör zu verleihen, hat sie auch hier vollumfänglich erfüllt.
Die Himmelsstürmerinnen gehen in die nächste Generation. Es beginnt mit der jungen Mary Ann, deren Odyssee von einem New Yorker Waisenhaus nach Frankreich in ein Lazarett des 1 Weltkrieges und von dort nach Chicago in den Schoß der verloren geglaubten Familie führt. Dort arbeitet sie im Hull House, einer Organisation für benachteiligte Frauen aus den Einwandererfamilien.
Das Schicksal verschlägt Ailis, bekannt aus Band 1, nach Südafrika, um die Sterne des Südhimmels zu beobachten. Wir erfahren von den Burenkriegen und der Beulenpest, die Ailis zwei Adoptivtöchter beschert. Ihr Sohn reist zu seinen schottischen Wurzeln und von dort zurück nach Chicago, wo er als Anwalt gegen das Bandenwesen in den Zeiten der Prohibition antritt.
Donella, ebenso bekannt aus Band 1, und ihr Mann spielen in der Luftfahrt des ersten Weltkrieges eine große Rolle mit ihren fliegenden Luftschiffen. Dabei riskieren sie mehr als einmal ihr Leben.
Auch die Söhne ihrer Schwester Emily, die mit einem Schwarzen verheiratet ist, müssen in den Krieg. An ihrem Beispielen erfahren wir die Ressentiments gegenüber Schwarzen in der Armee. Auch die Rassenunruhen in Chicago werden zum Thema in diesem so vielseitigen, wie spannenden Buch.
Eine großartige Lektüre, unterhaltsam, fesselnd, lehrreich und interessant, inspirierend sich mit den hier angerissenen, so vielfältigen Themen weiter zu beschäftigen, mit sympathischen Charakteren, deren Schicksal Anlass zum Mitfiebern gibt, nie langatmig, nie schwülstig, sonst mit einem guten Gespür für das rechte Maß an Emotionen, das die Figuren brauchen, um lebendig zu wirken.
Ich hoffe stark auf eine Fortsetzung mit 3. Band!!

Bewertung vom 21.12.2024
Kein Hufloser ist auch keine Lösung!
Bourdeaux, Sarah-Katrin

Kein Hufloser ist auch keine Lösung!


ausgezeichnet

Der Mensch, aus den Augen eines Pferdes betrachtet
Er ist schon eine komische Spezies dieser Mensch, auch wenn er nicht die Angewohnheit hat, sich als Angestellter seines Pferdes zu verdingen. Dies bietet viel Anlass zum Schmunzel und Lachen in Sarah-Katrin Bourdeaux’ neuem Buch „Kein Hufloser ist auch keine Lösung“, ein Ratgeber für Pferde von dem menschenkundigen Experten Dr. Sharif, den Pferdebegeisterte vielleicht schon aus dem Bändchen „Essen Pfützen kleine Pferde?“ kennen. In Fortsetzung zum ersten Band sehen wir hier nicht die Welt aus den Augen des Pferdes, sondern uns selbst mit all unseren liebenswürdigen Macken, pathologischen Fehlern, unserer Angst und gleichzeitigen Größenwahn, unsere minimierten Sinne und unser maximiertes Hirn, das mehr stört, als nutzt. Wenn man es denn nicht richtig in Anwendung bringt. Und dabei kann Dr. Sharif mit seinem nüchternen Blick und seinem verständnisvollen Humor eine Menge beibringen.
Wie schon im ersten Band zeigt die Autorin – mit Hilfe von Sharif – nicht nur einen großen Pferdeverstand, sondern auch gute Menschenkenntnis. Hatte sie bereits in Band eins ein paar treffende Bemerkungen zur aberwitzigen Reiterwelt, dem Kampf der Reitweisen und den verschiedenen Typen von Pferdebesitzern gemacht, so geht es diesmal genau darum: Illustriert von witzigen Bildern führt sie dem Pferdenarren oder auch dem Betrachter des alltäglichen Stallwahnsinns auf humorvoll sympathische Art eben diesen vor Augen. Dabei widmet sie sich neben der Geschichte in der Beziehung zwischen Mensch und Tier Aspekten der Biologie, der Erziehung und Kommunikation. Durch die gewählte Perspektive und den Humor gelingt es ihr, dass der Leser sich immer wieder in seinen Schwächen und Spleens erkennt fühlt, ohne sich angegriffen zu fühlen. So kommt er gar nicht erst in eine abwehrende Verteidigungshaltung, sondern fühlt sich verstanden und beginnt zu verstehen. Ich denke, damit erreicht man wesentlich mehr, als mit dem Zeigefinger stets auf die anderen Reiter und ihre Reitweisen zu zeigen und Schuld zu zuweisen und die eigene Unzulänglichkeit mit immer mehr (unnützem) Equipment, Konsultation von Spezialisten verschiedenster Art und dem Ausprobieren sämtlicher Reitvermeidungsweisen zu kaschieren. Das Buch sei jedem empfohlen, der etwas über sich und darüber, wie (seine) Pferde ihn wahrnehmen, wissen will. Es zeigt uns, wie wir mit viel Humor und Verständnis die Welt für Pferde und ihre Huflosen leicht ein bisschen besser machen könnten.

Bewertung vom 21.12.2024
Der Herzschlag der Toten
Dorweiler, Ralf H.

Der Herzschlag der Toten


ausgezeichnet

Totenphotographie
Dass es diese wirklich gegeben hat, glaubt man erst, wenn man das Nachwort von Ralf Dorweilers Krimi „Der Herzschlag der Toten“ gelesen hat. In der heutigen Zeit ist die Vorstellung, Tote in lebendige Ensembles hinein zu platzieren und sie wie Lebendige aussehen zu lassen, schon recht makaber und erhöht den Gruselfaktor des Krimis ungemein.
Die Totenphotographie spielt in dem Krimi eine entscheidende Rolle, sie gibt den Hinweis auf den Täter an einer unbekannten Frau. Dieser Fall konfrontiert den Criminalcommissar Hermann Rieker nicht nur mit seiner Vergangenheit, er könnte ihn auch, sollte er scheitern, seine Karriere Kosten. Die Hilfe der ebenso engagierten wie eigensinnigen Richtertochter Johanna Ahrens ist ihm nicht immer willkommen. Zwar kennt sie das Opfer, das Schülerin in ihrer heimlich gegründeten Schule für Frauen aus der Unterschicht war. Aber zugleich bringt sie nicht nur ihr Leben, sondern auch wieder die Karriere Riekers in Gefahr, als sie sich in die Ermittlungen einmischt und den Lockvogel gibt.
Mit den beiden Protagonisten hat Dorweiler spannende Charaktere geschaffen, die auf jeden Fall Zugpferd für die beginnende Krimireihe darstellen. Der Fall ist skurril und spannend. Wer glaubt, dass man einen Spannungsbogen kaum halten kann, wenn man als Leser ab Mitte des Romans zu wissen glaubt, wer der Täter ist, wird hier durch eine unerwartete Wende und einen actionreichen Schluss eines besseren belehrt.
Der Krimi ist nicht nur für Krimifans, die sich gerne ein wenig gruseln, sondern vermittelt auch sehr gelungen Einblicke in das Leben und die Zeit zu Ende des 19. Jahrhunderts. Eine spannende Lektüre für gute Unterhaltung mit Hintergrund!

Bewertung vom 10.12.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


sehr gut

Für Geschichtsliebhaber
Tore Renberg hat jahrelang akribisch den wahren Fall der Anna Voigt, die des Kindsmordes beschuldigt wurde, recherchiert und zu rekonstruieren versucht. Diese intensive Auseinandersetzung hat Eingang gefunden in seinen Roman „Die Lungenschwimmprobe“, der damit zugleich dem Beginn der Rechtsmedizin ein Denkmal setzt. Die eher unbekannte Methode der „Lungenschwimmprobe“ wird eingesetzt, um ermitteln zu können, ob ein Kind bei der Geburt noch lebte oder bereits tot war.
Dass derartige Beweise Zulassung vor Gericht in der Mitte des 17. Jahrhunderts fanden, ist eine der Neuheit, die der Roman schildert, und in der sich der Zusammenprall vom Glaube und Aufklärung und der Beginn einer neuen Zeit manifestieren. Von daher ist eine Stimme aus dem Chor der damaligen Zeit, die in diesem Roman Gehör finden, die des Arztes Schreyer. Daneben geht es um den Anwalt Thomasius, der sich als Wegbereiter der Aufklärung gegen Hexenprozesse und Folter ins Feld zog und sich hier des Falls der Anna Voigt annahm. Unter anderem auch, weil Annas Vater ein reicher und einflussreicher Mann war, der nicht nur die Ehre seiner Tochter und damit seine verteidigen wollte, sondern auch gegen seinen persönlichen Widersacher ins Feld zieht. Mit den Stimmen der Aufklärung konkurrieren die, die am Althergebrachten, an der Tradition, den unerschütterlichen Grundpfeilern des Glaubens festhalten wollen, wie die Köchin aus dem Haushalt von Voigt, die für das dumm gehaltene, abergläubische Volk steht, sowie der Ankläger, der
Gesetz auch mit zweifelhaften Methoden „zum Recht“ verhelfen will. So entspannt sich ein spannender Konflikt zwischen Alt und Neu, Tradition und Fortschritt, Glaube und Vernunft, Kirche und Aufklärung. Dass es das Neue und Fortschrittliche in einer engen, mit starren Griff der Kirche gehaltenen Zeit, wo Unwissenheit und Aberglaube gern genutzte Mitteln der Manifestation der eigenen Macht darstellten, nicht leicht hatten, machen die Person des Arztes und des Anwalts deutlich, die bereit sind, für ihre Ideale auch die drohenden Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Dabei geht es allerdings mehr um die Idee als um den konkreten Fall oder die konkrete Person der Anna Voigt, die bisweilen etwas in Vergessenheit gerät, und nicht nur Opfer von Verleumdung und Doppelmoral ihrer Zeit wird, sondern auch Opfer im Kampf von Überzeugungen. Es geht hier weniger um die Einfühlung in ihre Sicht der Dinge als stimmlose Frau, die den Männern, dem Aberglauben und den Moralvorstellungen der Zeit unterlegen ist.
Dem Autor geht es um die großen Ideen und den Fülle an Informationen, die er über diese Zeit zusammengestellt hat und der er sowohl bis in die äußeren Gestaltung des Covers und den Schreibstil beeindruckend Rechnung trägt. Allerdings muss der Leser der Leidenschaft für das historische Detail bisweilen über die 700 Seiten mit ein wenig Beharrlichkeit und Ausdauer folgen. Die Menschen sind zu sehr Träger von Überzeugungen, als lebendige Figuren, die den Leser packen und das Geschehen lebendiger machen könnten.
Sicherlich eine großartige literarische und historische Leistung für ein versiertes Publikum!

Bewertung vom 10.12.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


ausgezeichnet

Thomas Mann, neu belebt
Die Idee, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Zauberberges und seines bevorstehenden hundertfünfzigsten Geburtstages neues Leben in das Thomas-Mann-Universum zu bringen, halte ich für sehr gelungen. Auseinandersetzungen mit Autor und Werk gibt es unzählige, sowohl wissenschaftliche als auch massentaugliche, in Wort und Bild. Es erscheinen auch immer wieder literarische Adaptionen seiner Werke, wie zuletzt „Zauberberg 2“ von Heinz Strunk, auf dessen Lektüre ich mich freue.
Aber Tilo Eckards Roman „Gefährliche Betrachtungen: Der Fall Thomas Mann“ ist gleich in mehrfacher Hinsicht originell: Auch wenn der Roman dann doch nicht so viel Krimi ist, wie der Untertitel nahelegt, trägt die Handlung doch Züge eines Krimis, die für Spannung sorgen. Da ist die Begegnung zwischen Thomas Mann und dem litauischen Übersetzer, den ich hier der Einfachheit halber, wie auch im Roman, „Müller“ nenne. Dieser verliert Thomas Manns Redemanuskript wider die Entwicklungen im Deutschen Reich und damit einen brisanten Stoff. Die Suche danach und das Verschwinden einer Person aus dem Haushalt Thomas Manns bieten also Stoff für Spürnasen.
Zum anderen legt Tilo Eckard die Handlung auf den abgeschiedenen Schauplatz des Ferienhäuschens der Familie Mann auf der Halbinsel Nidden, das Mann vom Geld für den Literaturnobelpreis erworben hatte, aber nur einmal besuchen konnte, da es für ihn durch den Aufstieg des Nationalsozialismus und seines Exils bald in unerreichbare Ferne rückte. Dieser Schauplatz bietet nicht nur genügenden Qualitäten für eindrückliche Naturbeschreibungen, ist es doch landschaftlich ein sehr reizvoller Ort. Nidden war darüber hinaus Künstlerkolonie und damit Rückzugsort für viele Andersdenkende, feinfühlige Köpfe, die hier ihre Ruhe und Distanz zum aufkommenden braunen Barbarismus suchten.
Damit bietet sich für Eckard ein phantastisches Panorama der Geistes- und Kulturgeschichte auf einer seiner Höhepunkte vor dem bodenlosen Fall in die Unkultur und in Spannung zu der gesamtgeschichtlichen Entwicklung der Welt mit dem aufkommenden Faschismus. Feinfühlig und voller Kennerschaft zeichnet der Autor ein differenziertes Bild, in dem der Wunsch des Künstlers nach Rückzug, Ruhe und musische Inspiration mit der empfundenen politischen Verantwortung wider den undeutschen Geist in Wettstreit tritt.
In meinen Augen eröffnet der Roman einem breiten Publikum, das nicht nur Thrill und Blutrünstigkeit als Anspruch an einen Krimi hat, die Möglichkeit, Thomas Mann in den Spannungen seiner Zeit zu begegnen und eingeführt zu werden in eine (auf andere Art) spannende Welt der Kultur- und Geistesgeschichte, die vor den politischen Hintergründen zur Stellungnahme aufgefordert ist. Ein auch heute (wieder) aktuelles Thema!

Bewertung vom 10.12.2024
Lina und der Schnee-Engel
O'Farrell, Maggie

Lina und der Schnee-Engel


ausgezeichnet

Wunderschöne Aufmachung
Ein alter Glaube besagt, dass der Schneeengel für den Menschen, der ihn gemacht hat, zum Schutzengel wird. So erscheint Linas Schneeengel ihr während ihrer langen Krankheit und gibt ihr Mut und Hoffnung, wieder gesund zu werden. Daraufhin sucht sie ihn immer wieder, um sich zu bedanken, aber sie versucht auch, anderen die Magie der Schutzengel zuteil werden zu lassen.
Die Geschichte ist manchmal ein wenig traurig, manchmal auch ein wenig furchteinflößend, wenn der Engel aus dem Nichts erscheint oder wenn Lina ihn durch gefährliche Aktionen herbeizurufen versucht. Aber ich denke, dass man das Buch mit kleineren Kindern zusammen liest und ihre Fragen und Ängste thematisieren kann.
Ich finde, dass gerade das Unbegreifliche, das ein Wunder ausmacht, in diesem Buch gut zum Ausdruck kommt. Insbesondere in der phantastischen Aufmachung. Die Bilder verbreiten einen Zauber und eine magische Kraft, die den Engel umgibt, auf beeindruckende Weise. Sie sind für mich ein Sinnbild dafür, welche Schönheit in der Welt und im Leben möglich sind, und geben allein damit schon Hoffnung darauf, dass Wunder möglich sind.
Für mich vermittelt das Buch die Freude am Schauen, am Lesen und Zuhören sowie Trost, Hoffnung und das Gefühl, nicht allein zu sein.