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bibliosophía

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Insgesamt 3 Bewertungen
Bewertung vom 08.02.2022
Rückkehr
Achten, Willi

Rückkehr


sehr gut

"Meine Welt war klein. Sie bestand aus dem Dorf."

"Statt also mit Plänen und Sorgen für die Zukunft beschäftigt zu sein, oder aber uns der Sehnsucht nach der Vergangenheit hinzugeben, sollten wir nie vergessen, daß die Gegenwart allein real und allein gewiß ist." So schreibt Schopenhauer und er trifft vielleicht ungewollt diese Idee des brillanten Romans von Willi Achten(1958 - ). Denn mit dem Protagonisten Jakob Kilv hintergeht Willi Achten in gewisser Weise diese Gegenwart, indem er ihn an die Stelle zurück führt, die ihm seine Jugend geschenkt hatte. Aber aus einem Grund: Zukunft. Denn Jakob weiß, was er will. Nicht allein Vergangenheit ausleuchten, er "will eine Zukunft", dazu bedarf es einer "Gegenwart, die frei ist von dem, was geschehen ist".

Diese Rückkehr zieht ihn in die Erinnerung des letzten Sommers, den er dort verbrachte und wie im Reigen der Geschehnisse deutlich wird, erkennt er diesen Ort zum ersten Mal (Eliot). Denn Achtens Motto von Eichendorff, dem Buch vorangestellt, macht bereits deutlich, dass Rückkehr heißt: nicht wissen, wohin es geht. Verdienst des Denkens jedoch ist, in die Irre zu führen, so Jakob. "Jeder sieht, was er sieht."

Genau die Suche ist es, die Jakob begleitet. Einmal das alte Elternhaus, seine Freunde von damals, nicht gewiss, ob sie es auch heute sind. Vor allem jedoch die Ereignisse, die aus heutiger Sicht noch einmal ein Spotlight erfahren. Insbesondere wird auch ein Licht auf die Freunde geworfen, die Beziehungen, die undurchsichtige und vorsichtige Liebe zu Liv, die auch im Nachhinein als ein Sehnen und Verlangen erscheint. Wohlwissend, "[d]ass nichts ans Ziel kommt, was sofort zum Ziel will."

Auch der Blick auf die Eigenschaften der Eltern, der Vater ein Liebhaber der Vogelkunde, die Mutter eine Sängerin und vielleicht auch Träumerin, in Beziehung zu ihm, Jakob, und den Freunden, besonders Bruno.

Das Dorf, sein Heimatdorf, ist in den Bergen. Die Idylle und die Natur rauschen in das Erlebnis des Lesers durch die bravouröse Sprache des Autors. So wie in "Nichts bleibt" eine Einzigartigkeit des Beschreibung wirkte, so gelingt es dem Autor auch hier. Ebenso die Dramatik einer endenden Liebe zwischen Vater und Mutter, schon in "Die wir liebten" thematisiert, erfährt auch hier neues Mitgefühl. "Wir sind Körper" heißt es an einer Stelle und schneller erfährt man, was es heißt, Asymmetrie und Fragilität in Beziehungen zu sehen.

Warum? Warum geht Jakob zurück? "Mein Herz ist seltsam treu, den Dingen wie den Menschen gegenüber." Eigentlich heißt es: Es ist noch nicht vorbei.
Ja, die Vergangenheit liegt noch unbearbeitet vor Jakob. In einer Ferne, die das Auge nur klein erkennt, die die Gedanken jedoch vergrößert zurückholt. "Beredter, [wenn] man nicht spricht."

Aber "wahr ist, was erzählt wird." Und so ist die Geschichte von Jakob Kilv, dem Ich-Erzähler, sein Leben. Anderen mitgeteilt, und doch sich selbst.

Wortgewaltig, spannend und hinreißend erzählt von Willi Achten.
Eine Empfehlung.

Bewertung vom 17.06.2020
Noli me tangere
Nancy, Jean-Luc

Noli me tangere


ausgezeichnet

"Eh ihr den leib ergreift auf diesem stern
Erfind ich euch den traum bei ewigen sternen."
(Stefan George)

Am Tage der Umarmung ein Buch zu rezensieren, welches das Gegenteil postuliert, scheint frevelhaft. Und doch, folgt man Nancy, können sich in den vermeintlichen Gegensätzen stabile Gemeinsamkeiten zeigen.

Jean-Luc Nancy (1940- ) ist französischer Philosoph. Begegnet ist der Rezensent diesem Autor in einem interessanten Werk von Derrida: "Schurken: Zwei Essays über die Vernunft". Die Dekonstruktion als Anliegen im Sinne Derridas ist auch Nancys Feld. Die Ambivalenz der Bibel in den beiden Termen: "Noli me tangere" und "Hoc est enim corpus meum" ist zu betrachten als Oxymoron oder als Paradoxon. Dieser Idee folgt Nancy bravourös, leicht und doch konsequent. Das Gleichnis als Lehrmodus aus dem Johannes Evangelium von der Auferstehung Jesu (Joh 20,11-18) wird sehr genau untersucht, mannigfaltig aus anderen Quellen gespeist und es wird in Bezug auf die Personen vielfältig profiliert. Nancy schärft dabei den Blick auf die Kunst, nämlich auf all die Gemälde im verwandtschaftlichen Verhältnis zum Titel des Buches (Rembrandt, Tizian, Dürer, u. a.) und er stellt fest, dass gerade dort, wo der Aufruf: Berühr mich nicht! präsent ist, höchste Berührung folgt. "Berühr mich nicht" wird fast zur Warnung vor einer Gefahr, nämlich zu verletzen oder verletzt zu werden. Der Imperativ ist ein Satz, der einfach berührt und letztendlich etwas sagt über das Berühren im Allgemeinen. Er trifft einen sensiblen Punkt, er ist wie die hinduistische Paria, die das Unberührbare fernhält und es doch wie Heiliges vor Augen führt. Da wo die Bibel beides, das Unberührbare im Zeichen der Auferstehung und das Vereinnahmen durch die Transsubstantiation zusammenführt, sind die Gegensätze aufgehoben. Inkommensurables wird zusammengeführt, ein Zugleich von Anwesend und Abwesend entsteht auf einer metaphysischen Ebene. Dieses zu denken, erfordert einen Aspekt des Endes, der den Zustand z.B. des Todes in eine unbestimmte Zeit packt. Berühre mich nicht wird zu einer Präsenz einer unendlichen Erneuerung oder einem verlängerten Verschwinden, so wie die Szene am Grab am Ostersonntag. Alles was Jesus durch Gleichnisse verkündet, ist eine einfachere Erklärung einer anderen Welt. Diesem Gedanken zu folgen, ist nicht einfach, aber in der Koexistenz von Berühren und Nicht-Berühren gelingt es Nancy die Facetten und Schattierungen neu zu beleuchten und all seine Überlegungen bringen neues Licht in eine Sicht auf ein bekanntes Christentum. Es ist bemerkenswert, dass Ödipus von Kolonos mit seinen Worten "Geht hin, berührt mich nimmer ..." im Sophokles Stück nahezu als Double von Jesus wirkt.

Wenn dieser Imperativ: "Berühre mich nicht" berührt, dann heißt er auch: "Ich berühre Dich" und dennoch ist diese Berührung eine, die mit der Hand auf Abstand hält. Ein weites Feld in der Singularität von Distanz und Nähe, ein Übereinanderblenden scheinbar unüberwindbarer Unterschiede. Das macht diese kurze Analyse lesenswert, sehr sogar.

Bewertung vom 14.04.2020
Die wir liebten
Achten, Willi

Die wir liebten


ausgezeichnet

"Niemand kann heimkehren zu dem, was er verloren hat."

"Edgar, du hast ja mich" sind diese liebevollen Worte, die Roman seinem Bruder Edgar, der Erzähler dieser wunderbaren Geschichte zweier Jungen, zur Sicherheit gibt. Roman, der Ältere und sein Bruder Edgar wachsen auf im westdeutschen Grenzgebiet am Niederrhein.

Dieser Roman, dreiteilig angelegt, umfasst die Lebensjahre der beiden Jungen, deren Familie und deren Umfeld in den Jahren 1971-1976. Diese Zeit: einerseits geprägt durch die noch aus der Vergangenheit bewahrten Prinzipien der NS-Zeit, zum anderen durch den Aufbruch der 68er, den Muff unter den Talaren aus dem Leben zu befreien. Zugleich gilt diese Zeit als eine Zeit der Gewalt, wie es die RAF deutlich machte. Neben der Entwicklung der beiden Jungen stehen eben politisch rechte Gesinnung wie schwarze Pädagogik im Kreuzfeuer des Romans. "Der Schoß ist fruchtbar noch", könnte man mit Brecht sagen. Jedenfalls treffen die beiden Jungen auf Personen, deren Vergangenheit vordergründig zu Ende scheint, doch deren Gesinnung sich zeigt, wenn sie in abgeschlossenen Räumen sich unter ihresgleichen sich bewegen.

Beginnen wird alles in der Schulzeit. Ein Streich, eine Strafe und das Herausbilden einer Tugend, die ein Verhängnis wird. Roman befreit wo er kann. Vögel des Lehrers entlässt er in die Freiheit, die Behandlung von Ferkeln in der Metzgerei bestraft er, in dem er eine Feier aus den Angeln hebt und die Feiernden im Rauch stehen lässt. Stoisch erträgt Roman jede Strafe, denn so vermutet Edgar: "das alles, was er tat, einem Plan folgte".

Der beiden Elternhaus in der Großfamilie mit der Großmutter versprach lange Zeit eine wunderbare Idylle. Vater führte eine Bäckerei, von Mia übernommen. Mutter eine Lotto/Toto Annahmestelle. Beide angesehen im Dorf, dem das Private fehlte, weil alles allzu schnell Öffentlichkeit wurde. So auch der Tanz in den Mai. Der Anfang der Trennung der Eltern. Unbehagen im Elternhaus, Tod der Großmutter. Ein "Schatten der Auflösung" lag über der Familie.

Die alte Dorfführung mit NS-Vergangenheit witterte Höhenluft und wollte die beiden Jungen, deren Streiche überhand nahmen, in ein Heim unterbringen. Edgar und Roman wurden in den Gnadenhof, ehemaliges Kloster und späteres NS-Erziehungsheim, überführt und sollten dort angepasst und willfährig den Vorgaben der Erwachsenenwelt gemacht werden.

Dieser Teil der Erzählung wartet auf mit den Praktiken der ehemaligen Erziehungsmethoden, deckt auf, wie in der NS Zeit Kinder ausgewählt und zu medizinischen Testzwecken missbraucht wurden. Die Jungen sind in ihrem Widerstand kraftvoll genug, dem zu entfliehen, jedoch nicht ohne vorher Vieles aufgedeckt zu haben.

Willi Achten stellt uns vor unsere noch erlebte Zeit, direkt oder indirekt. Es ist längst bekannt, dass die soziale Umgebung der Eltern Auswirkungen auf die Kinder hat. Er zeigt eine scheinbar moderne Gesellschaft im Dorf, in der die alte Zeit hinein wuchert. Das, was noch insgeheim Gültigkeit erahnen ließ, wird hier wie aus einem Käfig entlassen. Wie ein Netz lag die Vergangenheit über dem Leben, aus dem Befreiung nun notwendig wird.

Mit allem verbunden sind die Songs dieser Zeit, von Bob Dylan bis Heino. Ebenso die wunderbaren Naturbeschreibungen, wie wir sie aus dem Vorgängerroman »Nichts bleibt« so geliebt haben.

Aber es bleibt bei aller rückwärtigen Betrachtung, die Edgar auf sein Leben und das Leben von Roman und seiner Familie anstellte, eines sicher: "Niemand kann heimkehren zu dem, was er verloren hat."

Eine wunderbare Lesezeit mit einem großartigen und vielschichtigen Roman. Lesen!

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