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Birkatpet
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Wesseling

Bewertungen

Insgesamt 89 Bewertungen
Bewertung vom 18.04.2022
Mon Chéri und unsere demolierten Seelen
Roßbacher, Verena

Mon Chéri und unsere demolierten Seelen


ausgezeichnet

Nun sitze ich hier (nachdem ich die 4 Mon Chéri gegessen und das Glas Sekt getrunken habe) und versuche meine Gedanken zu diesem außergewöhnlichen Roman zu sortieren - super Plan diese Reihenfolge, merke ich gerade. So würde es Charly Benz, die Protagonistin, wohl auch machen, jedoch wäre mindestens ein zweites Glas und eine Menge karzinogener Substanzen, wie indianische Zigaretten und verkohlte Croissants, mit am Start. Charly ist die Königin des gelebten Chaos, der Stellvertreterkriege, der Postangst und mit ihren 43 Jahren seit über 20 Jahren ‘frühvergreist’ und weit davon entfernt ihre kindlichen Verhaltensmuster an den Nagel zu hängen und das Leben, geschweige denn sich selber, ernst zu nehmen und hat ein erhebliches Problem damit sich mit Müsliriegeln zu identifizieren, aber das ist beruflicher Natur. All das hat sie, soweit möglich, gut im Griff, insbesondere ihre Postangst, denn dafür hat sie den ‘Postengel’, ihren Postverwalter Herrn Schabowski, der weit mehr als nur Ordnung in ihre Unterlagen bringt. Es könnte alles so ruhig und einsam, leer, gefrustet und mit unterirdischem Selbstwert weitergehen, wären da nicht eine Familienaufstellung, eine tödliche Diagnose, drei Männer, eine Schwangerschaft und ein Erbe. Charly und Herr Schabowski beschließen die Einschläge in ihre Blasen und Komfortzonen proaktiv anzugehen und finden überraschende, besondere Wege, die unter anderem ihren Stand auf der Esoterikskala steigen lassen, aber vor allem lernen sie sich selbst neu kennen und mit Achtsamkeit und Respekt ihren demolierten Seelen zu begegnen.

Für diesen Roman spreche ich eine ganz klare Leseempfehlung aus. Die Figuren sind eine bunte Mischung, mal nervig, skurril, lähmend, liebenswert, außergewöhnlich, großartig, vielseitig, chaotisch und einfach toll. Die 503 Seiten sind sehr kurzweilig, kaum und nur wenige Längen, diese jedoch ganz bewusst, denn sonst wäre es nicht Charly, wenn sie uns ihr Leben kurz und simpel erzählen würde. Die Sprache mochte ich sehr, die Autorin hat ein Händchen für gelungene Wortwahl, vor allem hat sie eine riesige Palette an Humor jeglicher Form und Art und ein Gespür für die Entwicklung ihrer Figuren. Ich bin mir sicher, dass dieser Roman etwas polarisiert, man liebt oder hasst ihn, ich glaube allzu viel Grau gibt es nicht dazwischen. Ich liebe ihn und seit dem Beenden des Romans fehlt mir etwas, das Zuklappen des Buches fiel mir schwer, ich wollte mich noch nicht trennen. Ich habe Tränen gelacht und Tränchen vergossen aus Rührung und Mitgefühl, ich bin in die Geschichte und in Charly’s Leben in Berlin eingetaucht und damit auf einer Achterbahn gelandet.
Lest es und lasst euch mitnehmen auf ein ganz besonderes Abenteuer.
Ein ganz klares Highlight im Frühjahr für mich.

Bewertung vom 29.03.2022
Eine gemeinsame Sache
Tyler, Anne

Eine gemeinsame Sache


ausgezeichnet

“Jede Ehe hat ihre Phasen. Man könnte fast sagen, jede Ehe besteht aus mehreren Leben. Du kannst eine gute Ehe oder eine schlechte Ehe führen, und beide Male ist es dieselbe, nur zu unterschiedlichen Zeiten.” (S.105)

Ganz klar ist dieses Buch optisch ein Blickfang und dabei auch noch so passend zum Inhalt. Mit dem Äußeren des Romans assoziiere ich eine Patchworkdecke, eine bunte, nach und nach zusammengenähte Fläche aus vielen Einzelteilen. die am Ende ein Ganzes ergeben, ob sie nun wollen oder nicht….und dieses spiegelt für mich für den Roman perfekt. Ich muss also tatsächlich bei diesem Roman etwas machen, was ich sonst nicht tue….die Hülle lobend erwähnen….im Übrigen ist die Originalausgabe optisch das komplette Gegenteil.
Aber nun schlag ich das Buch mal auf und konzentriere mich auf das Wesentliche.
Ich lande im März 2010 und stehe mit dem jungen Pärchen Serena und James am Bahnhof von Philadelphia und warte mit ihnen auf den Zug nach Baltimore, wo die beiden leben. In Philly leben James’ Eltern und heute war also das erste Kennenlernen. Am Bahnhof glaubt Serena ihren Cousin in einem Mann zu erkennen, der ebenfalls auf seinen Zug warte. Für James völlig unverständlich, wie man seine eigene Familie nicht erkennen kann, denn in seiner großen Familie kennt jede*r jede*n, ist ja schließlich Familie, ein großes Ganzes.
“Das Problem mit großen, offenen Familien war ihre Beschränktheit in Bezug auf weniger offene Familien” (S.23)
Ausgehend von diesen beiden Personen und ihrem Dialog über Familie wirft mich Anne Tyler nun ins Jahr 1959 und ich lerne die Chronik der Familie Garrett kennen mit Stopps in den Jahren 1990, 1997, 2014 und schließlich 2020. Serena’s Wurzeln und was es heißt, wenn sie meint “Selbst wenn alle Garrets zusammenkamen - der Funke sprang gewissermaßen nie über.” (S.30)

““Genau so funktioniert es in einer Familie” sagte sie. “Man erweist sich gegenseitig kleine Gefälligkeiten - verbirgt die eine oder andere unangenehme Wahrheit, sieht über diese oder jene Selbsttäuschung hinweg. Kleine Freundlichkeiten.”
“Und kleine Grausamkeiten.”
“Und kleine Grausamkeiten.” bestätigte sie….” (S. 347)

Bis ich dieses Buch aufschlug, dachte ich wirklich ich sei kaputt, habe an mir gezweifelt, denn irgendwo haben mich viele Bücher in den letzten Monat sehr begeistert, aber so der vom-Hocker-Hauer und mich in Begeisterungsstürme versetzende Roman war nicht dabei. Heute weiß ich, ich bin nicht kaputt, gefehlt hat nur ein Roman wie dieser. Hierbei ist nicht das “was” entscheidet, also nicht die Story an sich, sondern das “wie” und die Antwort ist klar : so und nicht anders. Ich feiere dieses Buch, ich feiere diese Sprache, ich feiere diese feine Beobachtungsgabe von Alltäglichem, ich feiere diesen subtilen und präzisen Stil und ich feiere mein lesendes Nichtkaputtsein dank dieser 352 Seiten.
Ich habe für mich hier gerade eine ganz tolle Erzählerin dazugewonnen und bin so gespannt, was noch alles von ihr in meinen Händen landet, aber fürs Erste genieße ich diesen Flug und das wohlige Gefühl.

PS: aus den Händen zu legen war mir fast unmöglich.

Bewertung vom 20.03.2022
Ich, Ellyn
Leyshon, Nell

Ich, Ellyn


ausgezeichnet

England, 1573
Nell Leyshon entführt mich ins England unter Elisabeth I. auf einen kleinen Bauernhof. Neben Gestank, Dreck und niedrigstem Stand treffe ich auf Licht, Stärke und Mut in Person von Ellyn, einem vorpubertären Mädchen.
Ellyn erzählt ihre Geschichte ihrer kleinsten Schwester Agnes und ich darf sie über 224 Seiten begleiten, wie sie ausbricht aus dem harten, entbehrungsreichen Leben mit gelähmtem Vater, einer Mutter, die ihr Selbst aufgegeben hat, einem älteren Bruder, der die körperliche Schwäche des Vater durch Härte ausgleichen möchte und eben Agnes, die neugeborene Schwester, welche Ellyn’s ganzes Herz erfüllt und für die sie Besseres möchte als ihre, diese Welt, in der sie lebt.
Als sie auf dem Markt für die Familie etwas verkaufen soll, hört sie in der Kathedrale Orgelmusik und bei dem Gesang bekommt sie “ein fühlen”, welches ihre ganze Welt verändert, denn neben dem Gefühl ist auch Talent in ihr. Sie erfährt von der Singschule an der Kirche, neben Gesang stehen dort auch Allgemeinbildung und Latein auf dem Lehrplan…der einzige Haken ist, dass es ein Knabenchor ist und Mädchen keinen Wert und Zutritt haben.
Für Ellyn ist die Welt eine Scheibe und natürlich könnte sie am Rand herunterfallen, aber das hält sie nicht davon ab loszulaufen für ihren Traum, das Singen und für mehr als nur die Feldarbeit und in Armut zu leben.

Das wohl Außergewöhnlichste an diesem Roman ist der Stil, denn der bewegt sich abseits von Orthografie, den Regeln der Interpunktion und Grammatik.
“ich denk dran was sie gesagt haben oh wie schade dass sie ein mädchen ist und ich denk ja ich bin ein mädchen aber ich werd nicht weinen denn ich bin stark in arm und bein und ich bin stark in kopf und in dem moment fühl ich diese sache in mir die neue sache die sich ändert ‘sist wie ein samen was gepflanzt worden ist” (S. 56)
Die ersten Seiten waren etwas holprig, aber ich war sehr erstaunt, denn wider Erwarten konnte ich die Geschichte flüssig lesen und Ellyn folgen.

Ein rundum großartiger Roman und meinen besonderen Respekt hat nicht nur Ellyn, sondern auch die Übersetzerin dieses wunderbaren Buches, Wibke Kuhn.
Mit diesem sehr außergewöhnlichen Stil sind Nell Leyshon und Wibke Kuhn, durch ihre gekonnte Übersetzung dieses Durcheinanders an Worten und Sätzen ohne Zeichen, etwas ganz besonderes gelungen: eine authentische, differenzierte, einfühlsame, ehrliche Geschichte von einem Bauernmädchen im 16. Jahrhundert und ein Highlight für mich.
Unbedingt lesen!!!

Bewertung vom 16.03.2022
Im Dorf der Schmetterlinge
Wiebusch, Michaela;Erz, Rita

Im Dorf der Schmetterlinge


sehr gut

“Beruhige deine Angsthasen. Zertrümmere deine schlechten Glaubenssätze und entscheide, welche Dinge dir im Leben wirklich wichtig sind. Und nun: Lass die Schmetterlinge tanzen und den Garten deiner Liebe blühen.”

Das Buch aufgeschlagen lande ich im Leben von Jule, die seit einiger Zeit schon das Gefühl hat, nicht weiterzuwissen und in einem Strudel geraten zu sein, aus dem sie keinen Ausweg findet, der sie aber immer weiter von sich und ihrer Freude wegtreibt. Jule ist mit Ende vierzig in den Wechseljahren, lebt mit ihrem Mann aneinander vorbei, insbesondere seit das einzige Kind das Haus verlassen hat, beruflich fühlt sie sich unwohl und zunehmend unsicher gegenüber jüngeren Kolleg*innen, zu ihrer Mutter hat sie kaum Kontakt. Die großen Fragen, welche Jule sogar den Schlaf kosten, sind : was will sie, was zählt wirklich für sie, was sind ihre Werte, wohin möchte sie?
In einer heißen Sommernacht, in welcher ihr wieder der Schlaf mangelt, legt sie sich in die Hängematte im Garten und schlummert ein, begibt sich auf eine Traumreise zu sich und ihrer inneren Welt und als sie wieder aufwacht, ist nichts mehr wie es war, obwohl sich für die Augen gar nichts verändert hat.

Gemeinsam mit Jule gehen wir, Leser*innen, auf ihre Reise, denn ohne sich selber zu begegnen ist es nicht möglich diese 224 Seiten zu lesen. Wir haben zu jedem Zeitpunkt die Wahl, wir sind frei und so haben wir, wie Jule, zwei Richtungen, zwischen denen wir an Wendepunkten wählen können…“Die eine Richtung führt direkt in dein altes Leben zurück, und der andere Weg bringt dich in dein bestes Leben….” In unser bestes Leben zu kommen, unsere beste Version von uns selber zu leben, ist wohl das schönste Ziel, jedoch auch der schwerste Weg, denn es bedeutet die Komfortzone zu verlassen, sich seinen Ängsten zu stellen, sehen, dass die Seele die Farben unserer Gedanken annimmt, was bisweilen also sehr grau sein kann, sich mit der Vergangenheit und vielen Verletzungen zu beschäftigen, kurz: sich sich selbst zu stellen.

Michaela Wiebusch und Rita Erz haben hier eine wunderbare Geschichte gestrickt, sehr schön illustriert von Gisela Goppel, in welcher ich insbesondere die bildhafte Sprache hervorheben möchte, voller Metaphern und damit greifbarer als jede lange Erklärung mit zig Worten.
So begegnet Jule u. a. ihren Ängsten in Form von panischen Hasen, richtig, Angsthasen und lernt diese zu beruhigen.

Klare Empfehlung ab einem Alter von 35, darunter auch empfehlenswert, aber aufgrund Jule’s Leben wird dann womöglich die Identifikation mit der Protagonistin was schwieriger.

Ein niedliches und angenehmes Buch über das Leben und den Wunsch nicht mehr Opfer der eigenen Historie, der Lebensumstände, Gedanken und Gefühle und inneren Mustern zu sein, sondern das Ruder selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich zu übernehmen und das Älterwerden als Geschenk mit Dankbarkeit anzunehmen und Wachstum in jedem Schritt zu erkennen.

Bewertung vom 12.10.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


ausgezeichnet

Walter Schmidt, ein misanthropischer, alter Kauz, genießt sein sorgloses Rentendasein mit seiner Gattin und Schäferhund Helmut....bis eines morgens seine Frau Barbara nicht mehr aufsteht und das gab es in 52 Ehejahren noch nie.

Was Barbara hat und wieso Walter sie morgens auf dem Badezimmerboden statt im Bett findet, weiß er nicht, aber es ist auch nicht der richtige Zeitpunkt sich direkt um die Ursache und möglichen Gründe den Kopf zu zerbrechen, denn die Kaffee-und Frühstücksfrage ist viel dringlicher. Denn egal was Barbara hat, nur mit Essen und Getränken kann sie fit werden, glaubt Walter. Ärgerlich ist allerdings, dass Walter weder weiß wo er in der Küche Kaffee findet, geschweige denn wie man überhaupt welchen kocht.

Barbara geht es auch in den nächsten Tagen nicht besser, sie schläft viel, isst kaum, ist sehr schwach und sogar die mittlerweile erwachsenen Kinder kommen vorbei um nach der Mutter zu sehen, begleiten sie zum Arzt und machen sorgenvolle Gesichter. Walter interessieren Diagnosen nicht, denn er ist sich sicher...Barabara ist robust, Barabara stirbt nicht, solange sie nur isst und entdeckt so aus der Sorge heraus einen bekannten Fernsehkoch, wird auf Facebook aktiv und verfolgt jede Sendung und alle Tricks.

Alina Bronsky nimmt Leser*innen mit auf eine ganz besondere Reise, einer Reise, die vor Augen führt, dass es nie zu spät ist die eigene Komfortzone zu verlassen, es 'nur' den richtigen Anlass/Auslöser braucht und dann alles seinen Lauf nimmt, das Leben ein Fluss ist.

Dieser Roman hat mich sehr berührt, mit einem lachenden und weinenden Auge zurückgelassen. Die Figuren sind zum Greifen nah, lebendig, bunt gezeichnet. Besonders der Held des Romans, Walter, ist, von außen betrachtet der personifizierte Eisblock und Ekel, intolerant, dogmatisch, rassistisch, engstirnig und kein Menschenfreund, aaaaaaber bei ihm verhält es sich wie mit so manch einem Roman, der Schutzumschlag vermag nicht zu offenbaren, was einen zwischen den Buchdeckeln erwartet.

Definitiv ein Highlight und ganz klar nicht mein letzter Roman dieser Autorin. Urkomisch, herzerwärmend, emotional und besonders. Unbedingt lesen.

Bewertung vom 22.05.2021
Die Beichte einer Nacht
Philips, Marianne

Die Beichte einer Nacht


ausgezeichnet

"Ich möchte gern mit einem anderen Menschen reden, selber höre ich ja meine Stimme und meine Worte, aber heute kann ich es nicht ertragen, dass sie ungehört zu mir zurückkommen,..."
Diese Worte richtet Heleen, eine Patientin und die Protagonistin dieses Romans eines Nachts an die Nachtschwester in der Klinik, in welcher sie seit 7 Monaten in dem großen, bewachten Saal liegt und auf Entlassung oder Verlegung in die Nervenheilanstalt wartet. Chronologisch beginnt Heleen in der Kindheit, als älteste Tochter einer sehr kinderreichen und dem protestantischen Glauben verbundenen Familie aus armen Verhältnissen, der Stubenwagen war nie lange leer und die Arbeiten zur Unterstützung der Eltern wurden immer mehr. Der Ausbruch aus diesen engen, bedrückend familiären Verhältnissen gelingt ihr bereits sehr früh, in junger Jugend beginnt sie als Näherin und das mit viel Talent. Durch sehr gute Leistungen, Mut und Glück erzielt sie einen Jobwechsel, auch ihre Schönheit und Anmut wirken dabei hilfreich und es folgt die Begegnung mit ihrem zukünftigen Mann. Sie verlässt die Familie trotz düsterer Prophezeiung durch den Vater und beginnt ein Leben in finanziellem Wohlstand. Wenig später nimmt sie ihre jüngste Schwester, Lientje, bei sich und ihrem Mann auf, da die Eltern sehr krank sind und schließlich versterben. Es ist jedoch nicht alles Gold, was glänzt und eines Tages tritt Hannes in ihr Leben und die Fahrt in ein großes Drama nimmt ihren Lauf.

Dieser Roman hat mich eiskalt erwischt und eine intensive Lesezeit geschenkt. Eine Pause und das Buch beiseite legen war fast unmöglich, denn Heleen erzählte mir ihre Geschichte, durch die Ich-Erzählung schlüpfte ich in die Rolle der Nachtschwester und immer wenn diese ihre Handarbeitssachen, die sie für die Schicht mitgebracht hat, beiseite legen wollte, waren es Passagen in denen ich versucht war auch kurz zu unterbrechen, aber ausser einer Nacht um selber zu schlafen war es nicht möglich Heleen's eindringliche Worte zu unterbrechen.
"Nein, bitte legen Sie die Näharbeiten nicht weg. Lassen Sie mich bitte noch ein bisschen bei Ihnen sitzen,...."
Der Stil hat mich begeistert und mitgenommen durch die erzählten Jahre Heleen's, atmosphärisch sehr dicht, alles greifbar, sehr bildstark und Heleen spürbar.
"Können Sie sich vorstellen, dass ich jetzt am liebsten den Kopf auf die Tischplatte legen würde, Schwester, um zu weinen, alle Tränen zu weinen, die ich in meiner Kindheit zurückgehalten habe?..."
Die Sprache sehr klar, flüssig, ergreifend, präzise, bildhaft und teils poetisch.
Die Geschichte erzählt das Leben einer Frau, eines Menschen, der irgendwann falsch abgebogen ist, deren Entscheidungen irgendwann Konsequenzen hatten, die ihre Seele nicht verkraften konnte und sie krank machten und schließlich zu einem großen, unfassbaren Unglück führten.
Der Roman ist in vielen Zügen autobiografisch, beeinflusst vom Leben der Autorin, was im Nachwort erklärt wird. Geschrieben und veröffentlicht wurde er bereits 1930, dann verboten und nun wollte die Enkelin ihrer Großmutter wieder Gehör schenken.
Gelungen und mir eine intensive, alles um mich herum vergessende Lesezeit geschenkt, zwei lange, ruhige, dunkle Abende, eine Erzählerin und ein ganzes Leben.

Bewertung vom 16.01.2021
Der Schrei der Eule
Highsmith, Patricia

Der Schrei der Eule


ausgezeichnet

Robert Forester fährt fast täglich mehrere Kilometer um die junge Jenny Thierwolf durch die Fenster ihres Hauses zu beobachten. Dass er Jenny entdeckte war ein Zufall, bewusst war er nicht auf der Suche nach einer Frau als Beobachtungsobjekt. Vom ersten Augenblick ist er fasziniert und sie ist für ihn der Inbegriff von Häuslichkeit, Ruhe, Harmonie und Lebensfreude, all jene Dinge, die ihm seit seiner Scheidung fehlen. Manchmal glaubt sie im Garten Geräusche zu hören und ihr Verlobter Greg, der an einigen Abenden Jenny besucht, durchforstet das Grundstück, jedoch zunächst ohne Erfolg. Dieses Spiel fliegt dennoch irgendwann auf, Jenny entdeckt Robert an einem Abend, an dem sie alleine ist, doch statt ihn für einen Psychopathen zu halten und die Polizei zu rufen bittet sie ihn in ihr Haus und bietet ihm einen Tee an und dies bleibt nicht ohne Folgen….

Patricia Highsmith nimmt uns mit in die 60’er in die Umgebung von Philadelphia. Als Leser*in wird man direkt in die Geschichte geworfen, ohne große Vorgeschichte oder Vorstellung der Personen. Robert hat Dienstschluss und kann der Versuchung nicht widerstehen zu Jenny’s Haus zu fahren. In großer Sehnsucht und Hoffnung, sie möge zuhause zu sein und Hausarbeiten verrichten um sie dabei beobachten zu können. Jenny liebt ihr Leben, genießt ihre Unabhängigkeit, die regelmäßige Zeit mit Greg, wenn sie auch anders als er keinen Wunsch nach Ehe hat und vor allem liebt sie ihr Haus. Für Robert scheint Jenny ein Ausgleich, seine Scheidung ist dreckig, raubt ihm Zeit und Nerven, Lebenslust und -freude hat er verloren und glaubt durch die heimliche Zeit mit Jenny diese wiederzufinden.

Die Autorin beschreibt die handelnden Personen, Situationen, Geschehnisse neutral, distanziert, beobachtend, wie durch eine Kamera. Diese Erzählweise gibt sehr viel Spielraum für Spekulationen, eigene Gedanken und vor allem entsteht viel Spannung. In dieser Geschichte überschreitet Patricia Highsmith eine gewisse Hemmschwelle, Gut und Böse sind nicht existent, weder (Vor-) Verurteilung, weder normal noch anormal. Sie arbeitet Schatten und Licht in Seelen und Herzen der einzelnen Personen brillant heraus.
Alles ist zu jedem Zeitpunkt offen, die Kamera, die Feder Highsmith’s, spielt mit Fokus und Belichtung, bis zum Ende. Kein Wort zu viel, keines zu wenig. Wie in einem reißenden Fluß war ich der Strömung des Romans erlegen und ein Entkommen unmöglich. Auch hier, in ihrem 8. Buch wieder hohe literarische Qualität!

Bewertung vom 16.01.2021
Ladies
Highsmith, Patricia

Ladies


ausgezeichnet

Die Kurzgeschichten in diesem Band sind noch vor 1951 und dem Durchbruch der Autorin geschrieben worden. Diese Stories fanden damals wenig Beachtung, sowohl von ihr selber, als auch vom potentiell Publikum, sie wurden in Schulmagazinen und Frauenzeitschriften veröffentlicht.
In “Ladies” hat der Diogenes Verlag nun 16 ihrer frühen Kurzgeschichten, darunter einige bislang unveröffentlichte, zu einer tollen Sammlung zusammengestellt. Erschienen im Oktober 2020, anlässlich des 100. Geburtstages der Autorin am 21. Januar 2021.
Alle zeichnen ein Porträt des Amerika in den 40’er Jahren und umfassen eine große Bandbreite. Kriminalistisch, spannend, psychologisch, brisant, liebenswert, skurril, humorvoll, dramatisch und bildstark, immer kurze Sequenzen im Leben der jeweiligen Menschen.
Die Personen sind bildhaft und detailliert dargestellt, äußerlich und innerlich, zum Greifen nah und zwangsläufig mit Kino im Kopf. Die Gefühle sind spürbar, die Mimik, Gestik nahezu sichtbar, es sind eher die Gefallenen der Gesellschaft, unscheinbare, gescheiterte, besondere Menschen, die in großer Hoffnung leben, dass das Leben sich ändern wird, dass zu ihrem Vorteil neu gewürfelt wird und dafür werden unvorhersehbare Wege gegangen, bei Patricia Highsmith ist immer alles möglich.
Auffällig im Erzählstil ist, schon in diesen frühen Stories, die Beobachtungsgabe der Autorin, die Fähigkeit Vergleiche anzustellen, welche die jeweilige Situation, Person, bestimmte Details noch lebhafter und intensiver gestalten. Ebenso nimmt sie in der Regel die Vogelperspektive ein, lässt uns lesen, wie durch eine Kamera beschrieben, distanziert und doch mittendrin, im Jetzt und alles ist offen, sie spielt raffiniert mit Perspektive und Fokus.
Ich kannte einige wenige Kurzgeschichten bereits aus anderen gemischten Erzählbänden des Verlages, aber mit "Ladies" begann meine Begeisterung, Liebe und Sucht für und zu dieser Autorin.
Absolute Leseempfehlung.

Bewertung vom 26.10.2020
Puls
Francis, Felix

Puls


sehr gut

“In Wahrheit war ich aber schon mehr als interessiert - langsam war ich besessen von dem Namenlosen und den Umständen seines Todes.”

Dr. Chris Rankin, 41 Jahre alt, ist Oberärztin der Notaufnahme, sie liebt ihren Job und auch ihr Privatleben lässt wenig Wünsche übrig. Sie hat einen sehr fürsorglichen und liebevollen Ehemann und zwei intelligente, muntere und pubertierende Söhne, die sie lieben. Erkrankungen sind nicht immer sichtbar und seelische Krankheiten können jeden treffen, so auch Chris. Sie ist depressiv, kämpft mit Panikattacken und wird immer weniger, denn die Magersucht hat sie fest im Griff. Nach der Einlieferung und dem Tod des Unbekannten bleiben diese Dinge niemandem mehr verborgen, die Trauer um den Toten nimmt besondere Ausmaße an, es gibt nichts anderes mehr in ihrem Leben, sie versteckt sich in der Abstellkammer der Notaufnahme um Panikattacken zu vertuschen und von Tag zu Tag besteht sie zunehmend nur noch aus Haut und Knochen. Es bleibt kein anderer Weg mehr, als sie stationär behandeln zu lassen, gegen ihren eigenen Willen, und von ihrer Arbeit wird sie ebenfalls freigestellt bis die Todesumstände des Unbekannten geklärt sind, die Untersuchungen abgeschlossen sind, denn schließlich starb er in ihrer Obhut. Doch kaum hat Chris sich behandeln lassen und ist nach vielen Wochen wieder zuhause, meldet sie sich als Notärztin während der Pferderennen um den Jockeys auf den Zahn zu fühlen, stellt Ermittlung zu dem Fall auf eigene Faus an und begibt sich damit selber in Lebensgefahr.

“Sich der Stimme zu widersetzen war ein täglicher Kampf, und wenn ich meinen zweiundvierzigsten Geburtstag erleben wollte, musste ich ihn gewinnen.”

Der Stil ist gut und die Sprache empfand ich als sehr bildhaft. Viele Informationen rund um den Pferderennsport und interessante, unterschiedliche Charaktere. Mir ist eines negativ aufgefallen, ich möchte fast sagen, ich spürte förmlich, dass dieser Krimi aus der Hand eines Mannes ist, denn Chris wird so klischeehaft und teilweise oberflächlich dargestellt, dass ich sogar darüber schmunzeln musste, nicht mal aufgebracht war. Insbesondere die seelischen Probleme und Themen wie Menopause sind doch sehr überzeichnet und abgedroschen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich hier um einen Krimi handelt und es wohl schlicht eine Protagonistin mit vielen eigenen Päckchen sein sollte ist dies jedoch verzeihlich, wenn auch unrund und etwas weniger davon hätte ich angenehmer gefunden. Der Aufbau ist anfangs etwas zäh und schleppend, nimmt ab Mitte und vor allem im letzten Viertel sehr an Fahrt auf und erreicht viel Spannung.

Felix Francis nimmt Leser*innen im Galopp mit durch eine spannende und interessante Kriminalgeschichte und zeigt seine Protagonisten mit vielen Ecken und Kanten. Sattelt die Pferde und schaut wer sich hinter dem unbekannten Toten der Rennbahn verbirgt.

Bewertung vom 03.09.2020
Muldental
Krien, Daniela

Muldental


ausgezeichnet

"Wir lesen gerne vom Scheitern - wenn am Ende ein Sieg steht."

Daniela Krien nimmt Leser*innen mit auf die Reise nach Muldental, in die ehemalige DDR um die Zeit der Wende. In zehn Kurzgeschichten erzählt sie uns von "Wendeverlierern", Menschen, welche durch die neuen Strukturen, die neue Gesellschaftsordnung entkräftet und demoralisiert wurden, die scheiterten und für die es eher ein Ende, statt ein Anfang war, die strauchelten und ins Wanken gerieten.

Mir gefällt Daniela Krien's Sprache sehr. Ich habe mit Begeisterung ihren Debütroman gelesen und auch ihr Erzählband "Liebe im Ernstfall", ebenfalls bei Diogenes erschienen, hat mir gefallen. Das Leben ist nicht immer bunt und schön, und genau dies thematisiert die Autorin, sie gibt denen eine Stimme, die trotz stärkstem Gegenwind versuchen nicht aufzugeben, kämpfen um dem Wind zu trotzen, teils durch das Raster der Gesellschaft fallen. Authentische Personen, authentische Geschichten, die man sonst lieber nur am Rand wahrnimmt, weil sie unangenehm sind, schmerzhaft und aufwühlend.

Auch in "Muldental" bleibt Daniela Krien distanziert, aber stechend präzise, lässt die Personen lebendig werden und verleiht ihnen Platz und Raum.

Ein tolles Buch, tolle Geschichten einer talentierten und sprachlich großartigen Autorin über das Scheitern, das Kämpfen ums eigenes Leben, über Mut, Lebenswillen und Kraft zur Zeit der Wende.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.