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Kamura
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Bewertung vom 13.02.2019
Abenteuer der Missis Jö
Kändler, Friedhelm

Abenteuer der Missis Jö


ausgezeichnet

Das Buch kam als Geschenk zu mir und bestach beim Durchblättern zunächst durch sein Äußeres. Zahlreiche spannende Grafiken säumen die einzelnen Kapitel, ansprechend gedruckt, verschiedenfarbig und auch mal im Querformat macht es Lust auf die Lektüre.
Seinen echten Schatz enthüllte es mir beim anschließenden Lesen und zwar ab dem ersten Satz: "Wir sind, was wir sind, aber wie wissen es zu selten."
Dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch die Seiten des Romans, die sympathischen Figuren und ihre Erlebnisse. Der Autor unterscheidet dabei zwischen einer ersten und zweiten Wirklichkeit der Menschen: eine Wirklichkeit, in der man auf die Frage "Wer bist du?" mit Zahlen, Daten Fakten antworten würde und eine Wirklichkeit, die es auf die Zwischenräume absieht, auf die Welt dahinter.

Ein paar Beispiele: Eine Hauptfigur, Pierre, ist in der ersten Wirklichkeit mäßig erfolgreicher Student mit übermäßig leerem Magen und Portmonnaie. In der zweiten Wirklichkeit dagegen ein männlicher Fee, der fliegen lernt. Missis Jö ist in der zweiten Wirklichkeit eine vermutete und unendlich liebenswerte Hexe, in der ersten Wirklichkeit vielleicht aber nur eine verwirrte ältere Dame. Medam Jö wohnt im Schrank, ihr Geist ist jedoch größer als der von allen zusammen. Thimie mag Wölfe und keine Kleidung, ist in der ersten Wirklichkeit vielleicht nur ein renitenter fast 18jähriger Mann, der sein Coming Out hat.

Der Leser wird von diesen skurrilen Personen mitgenommen auf eine Reise in eine absonderliche Welt, die vielleicht aber auch ganz normal ist, je nachdem, aus welcher Perspektive man sie betrachtet. Gleichzeitig mit dem Betreten dieser Welt, die überall und auch nirgends sein könnte, ganz konkret beschrieben und doch ortlos, betrachtet man als Lesender unweigerlich sich selbst, fragt sich nach der eigenen "zweiten Wirklichkeit", und integriert sich dabei in die Welt des Romans, wird zur weiteren Hauptperson.

Antworten gibt der Autor nicht, aber unzählige Angebote, was ihm nicht zuletzt über seine Sprache gelingt. Auch hier verwendet Kändler in erstaunlicher Leichtigkeit Worte immer wieder in leicht ungewohnten Kontexten, so dass man innehält, wach wird (in meinem Fall auch wach bleibt - die Nacht war kurz, das Buch ist aus...), schmunzelt und sich (Wort)-Bedeutungen bewusst wird.

Aus meiner Sicht geht es in dem Buch nicht eigentlich um Hexen, Feen oder Werwölfe im wortwörtlichen Sinne, sondern um das, wofür die Begriffe stehen könnten. Es geht um die Frage, was es für Pierre heißt, fliegen zu können und darum, was es heißt, jemanden wie Missis Jö zu treffen, die diese Fähigkeit gar nicht in Frage stellt.

Für mich ein außergewöhnliches Buch über die Frage nach Identität und nach (überflüssigen) Grenzen. Ein intelligentes sowie unterhaltsames Vorbild für Offenheit und bedenkenloses Miteinander und damit eine Wohltat in einer Zeit, in der die Frage nach Identität häufig zur Abgrenzung und Ausgrenzung verwendet wird.