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YukBook
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München

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Insgesamt 294 Bewertungen
Bewertung vom 05.04.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


ausgezeichnet

Der Schauplatz spielt in den Romanen von Kristine Bilkau eine wichtige Rolle, so auch diesmal, wie der Titel verrät. Die 25-jährige Linn, die für ein Aufforstungsprojekt arbeitet, bricht bei einem Vortrag auf einer Umwelttagung zusammen. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie eine Weile bei ihrer Mutter Annett auf einer Halbinsel im nordfriesischen Wattenmeer verbringt, um wieder auf die Beine zu kommen. Problematisch wird es erst, als Linn jeglichen Antrieb verliert und sich dauerhaft bei ihr einnistet. Annett erkennt ihre Tochter, die voller Tatendrang und Idealismus in die Welt gezogen ist, nicht wieder.

Die Autorin hat ein sehr passendes Setting gewählt, um die Komplexität einer Mutter-Tochter-Beziehung in all ihren Facetten einzufangen. Erzählt wird aus der Perspektive der Mutter, doch ich konnte mich in beide Generationen hineinfühlen: auf der einen Seite Annett, die versucht hat, ihre Tochter bestmöglich für die Welt auszurüsten, aber auch zu beschützen, voller Fürsorge und Hoffnung; auf der anderen Seite Linn, die angesichts des Betrugs am Klimaschutz und permanenten Leistungsdrucks in eine Sinnkrise fällt. Beide haben den plötzlichen Tod des Vaters noch nicht verarbeitet. Wie die beiden während eines Sommers sich und ihre Heimat neu kennenlernen, erzählt Kristine Bilkau wie schon in ihren vergangenen Romanen subtil, eindringlich und berührend. Es freut mich, dass sie für ihren hervorragenden Roman den Preis der Leipziger Buchmesse erhalten hat.

Bewertung vom 20.03.2025
Wild wuchern
Köller, Katharina

Wild wuchern


ausgezeichnet

Dieser Roman packt einen schon auf den ersten Seiten. Die Ich-Erzählerin Marie kämpft sich unter widrigen Bedingungen einen Berghang hoch. Sie sucht Zuflucht bei ihrer Cousine Johanna, die allein auf einer Tiroler Berghütte lebt. Man will dringend wissen, wovor sie wegrennt und wie Johanna auf den unerwarteten Gast reagieren wird.

Schließlich hatten beide keinen Kontakt mehr, seitdem sie als Kinder einige Sommer gemeinsam auf der Alm verbracht haben. Die verwöhnte Wienerin und die Eremitin finden jedoch nur schwer zueinander – wie auch, wenn Johanna lieber in Gesellschaft von Eulen, Mäusen und Schlangen ist statt von Menschen. So sind die Szenen, in denen sich die beiden bei kräftezehrenden Arbeiten anschweigen, aufgeladen durch Unausgesprochenes und Unverständnis gegenüber der Anderen.

Ich finde es dramaturgisch sehr gelungen, wie die Autorin den Heldinnen eine Bühne bietet, um den von ihren Müttern künstlich auferlegten Wettbewerb zwischen ihnen zu verarbeiten, Geheimnisse zu lüften und sich wieder anzunähern. Dabei kommt auch die Situationskomik nicht zu kurz. Sowohl die um Anerkennung bemühte Marie als auch die autarke Johanna und ihre gegensätzlichen Lebensentwürfe regen dazu an, das Verständnis von „Normalität“ zu hinterfragen.

Bewertung vom 16.03.2025
Die Kolonie
Magee, Audrey

Die Kolonie


ausgezeichnet

Der Londoner Maler Lloyd verbringt einen Sommer im Jahr 1979 auf einer abgelegenen irischen Insel, um sich von der Natur inspirieren zu lassen und ein besonderes Kunstwerk zu schaffen. Das klingt zunächst unverfänglich, wären da nicht die Rahmenbedingungen. Sein Auftreten bringt Unruhe in die Gastfamilie mit mehreren Generationen, die eine unterschiedliche Einstellung zur Traditionserhaltung haben. Als sich dann noch der französische Linguist Masson, der sich mit dem Aussterben der irischen Sprache beschäftigt, als weiterer Gast einquartiert, spitzen sich die Feindseligkeiten zu.

Mit entlarvender Ironie beschreibt die Autorin, wie zwei Eindringlinge Besitzansprüche auf der Insel stellen, um ihre persönliche Mission zu erfüllen. Koloniale Muster spiegeln sich nicht nur in ihrer Eitelkeit und Überheblichkeit wider, sondern auch in ihrem Umgang mit dem 15-jährigen James, der durch Lloyd sein malerisches Talent entdeckt und auf eine Zukunft außerhalb der Insel hofft. Welche Wendung die scheinbar gegenseitig bereichernde Beziehung nimmt, ließ mich sprachlos zurück.

Audrey Magee beherrscht nicht nur psychologische, sondern auch erzählerische Raffinessen. Der fließende Übergang von der dritten in die erste Person und die sprachliche Anpassung erlauben uns, in die Gedanken und Erinnerungen der verschiedenen Figuren einzutauchen und ihren Antrieb und ihre Träume zu begreifen. Auf dem Festland spitzt sich derweil der Nordirlandkonflikt zu und ist durch aktuelle Meldungen über grausame Attentate, die den Kapiteln vorangehen, ständig präsent. Ein meisterhafter Roman, der mir noch lange in Erinnerung bleiben wird.

Bewertung vom 12.03.2025
Der gefrorene Fluss
Lawhon, Ariel

Der gefrorene Fluss


ausgezeichnet

Der Roman war in mehrfacher Hinsicht ein großer Gewinn. Ich bekam nicht nur Einblick in den Alltag einer Hebamme und Heilerin, sondern lernte auch eine reale Heldin aus dem späten 18. Jahrhundert kennen: Martha Ballard aus Maine.

Ein Todesfall in der Kleinstadt Hallowell, bei dem Martha überzeugt ist, dass es sich um Mord handelt und eigene Ermittlungen aufnimmt, bildet den Spannungsbogen. Durch ihre täglichen Aufzeichnungen von Geburten, Todesfällen und Verbrechen kennt sie viele Geheimnisse, unter anderem die Vergewaltigung einer Frau vor vier Monaten, die ungesühnt geblieben ist.

In einer Zeit, in der Frauen der Macht und Willkür von Männern ausgeliefert sind, kommen Hebammen wie Martha Ballard eine umso wichtigere Bedeutung zu. Martha versteht, was Schwangere durchmachen müssen, hört ihnen zu und setzt sich besonders für verzweifelte Frauen ein, die auf sich allein gestellt sind. Was Martha aber besonders auszeichnet, ist ihr Mut, sich gegen das Patriarchat zu behaupten und die Stimme zu erheben, um Unrecht zu verhindern.

Auch sprachlich überzeugt der Roman. Der eisige Winter, die düstere Atmosphäre und die bedrohliche Gewalt lassen einen erschaudern und stehen im starken Kontrast zu der Wärme und dem Zusammenhalt, der in Marthas Familie herrscht, auch dank dem liebevollen Ehemann Ephraim. Dabei blickt auch sie auf eine leidvolle Vergangenheit zurück.

Bewertung vom 15.02.2025
Der Garten im Licht
Eden, Elena

Der Garten im Licht


ausgezeichnet

Möchte man an diesen tristen Wintertagen nicht in den Süden flüchten, zum Beispiel an die Côte d’Azur? An diesen Schauplatz führt uns dieser Roman von Elena Eden. Die Hauptfigur Alina hat den schönen Auftrag, die exotischen Gärten dort für ein renommiertes Magazin zu fotografieren.

Ihr Antrieb ist allerdings nicht nur beruflicher Art. Sie möchte mehr über ihren Großvater und Kunsthistoriker Antoine de Montaigne herausfinden, der über Monet und den Impressionismus geforscht hat. Ihre Mutter schweigt sich aus – aus gutem Grund, wie wir später erfahren. Der Leser ist meist auf dem gleichen Wissensstand wie Alina. Während sie mit der Hilfe einer Historikerin nach und nach ein Familiengeheimnis lüftet, werden wir parallel in die tragische Liebesgeschichte ihrer Großeltern, die sich 1956 in Berlin kennenlernten, hineingezogen.

In diesem bewegenden Familienroman konnte ich mich wunderbar durch die malerischen Kulissen treiben lassen und viele interessante Hintergründe über die Gartenkunst rund um Menton und die Kunstsammlerin Beatrice von Rothschild erfahren. Einige konkrete Reiseziele für meinen nächsten Frankreichurlaub stehen schon fest!

Bewertung vom 08.02.2025
Tell Me Everything: Oprah's Book Club
Strout, Elizabeth

Tell Me Everything: Oprah's Book Club


ausgezeichnet

Die Figuren aus Elizabeth Strouts Romanen sind mir so ans Herz gewachsen, dass ich sehnsüchtig auf ein neues Buch von ihr gewartet habe. Diesmal steht Bob Burgess, ein Strafverteidiger und enger Freund von Lucy Barton, im Mittelpunkt. Während der Corona-Pandemie pflegten sie ausgedehnte Spaziergänge zu machen, was sie nun wöchentlich fortsetzen.

Die beiden haben eine besondere Gabe, nämlich anderen Menschen zuzuhören. Lucy kommt diese Fähigkeit auch beruflich zugute, denn von den Geschichten, die ihr die legendäre Strout-Figur Olive Knitteridge erzählt, kann sie sich als Schriftstellerin inspirieren lassen. Bei Bob liegt die Sache etwas anders. Er hört sich nicht nur die Probleme und Fehltritte seiner Mitmenschen an, sondern absorbiert sie förmlich und wird zum „sin-eater“.

Er übernimmt die Verteidigung eines Mordverdächtigen, doch diese Handlung ist eher ein Nebenschauplatz. Es geht vielmehr um die Geschichten, die die Figuren in diesem Roman miteinander austauschen oder selbst erleben und die Frage aufwerfen, was das Leben ausmacht. Es geht um Einsamkeit, Liebe, Schuld und was die Menschen verbindet. Mit welcher Intensität, Warmherzigkeit und Melancholie Elizabeth Strout von Schicksalen einfacher Menschen und kleinen, aber bedeutsamen Gesten erzählt, ist einfach fantastisch.

Bewertung vom 05.02.2025
Mitte des Lebens
Bleisch, Barbara

Mitte des Lebens


sehr gut

Es gibt wohl kaum eine Phase, die so zwiespältige Gefühle weckt und existenzielle Fragen aufwirft, wie die Lebensmitte. Die einen stürzen in eine Midlife-Crisis, andere fühlen sich in den besten Jahren ihres Lebens. Warum das so ist und welches Potenzial das Alter zwischen 40 und 65 birgt, ergründet Barbara Bleisch in ihrem Buch.

Spätestens in diesem Lebensabschnitt wird jedem bewusst, dass das Leben begrenzt ist. Die Autorin beschreibt typische Gefühle wie Freude und Stolz auf das Erreichte, Wehmut und Bedauern über gescheiterte Träume und die Unsicherheit, wie man mit der verbleibenden Lebenszeit sinnvoll umgehen soll. Diesen Part über unsere Endlichkeit empfand ich als etwas langgezogen. Interessanter wurde es für mich, als sie auf die gewonnene Freiheit und die Bedeutung von Entscheidungen einging.

„Sich verlieren und neu finden“ beschreibt sie den Prozess, in dem wir uns der Verwirrung der mittleren Jahre hingeben, alle Aspekte unseres Lebens genau durchleuchten und aus der Fülle der Erfahrungen und der erlangten Reife schöpfen können, um die uns wichtigen Dinge in den Fokus zu rücken. Ihre philosophische Auseinandersetzung ergänzt sie durch literarische Beispiele, Erkenntnisse von Sokrates, Wittgenstein oder Simone de Beauvoir und gibt uns Tipps mit auf den Weg, zum Beispiel das Staunen nicht zu verlernen. Ich hätte mir noch mehr Einblick in ihre persönlichen Erfahrungen gewünscht.

Bewertung vom 01.02.2025
Das Buch der Schwestern
Nothomb, Amélie

Das Buch der Schwestern


ausgezeichnet

Wenn Eltern sich mit voller Hingabe lieben, sollte das doch auch für die Kinder ein Segen sein. In diesem Roman trifft das leider nicht zu, denn für die Kinder bleibt kein Platz mehr – weder in ihrem Herzen noch in ihrem Leben. Darunter leidet besonders die Erstgeborene Tristane. Die Autorin beschreibt in knappen Sätzen und doch sehr eindringlich, wie ausgeschlossen und überflüssig sie sich in ihrer Familie fühlt.

Da hat es ihre jüngere Schwester Laetitia etwas besser. Die Zuneigung, die die Eltern den Kindern vorenthalten, bekommt sie in geballter Form von Tristane und erwidert sie auch. Diese romantische Schwesternliebe, die skurrile Ausmaße annimmt, hat mich ebenso fasziniert wie die unterschiedliche Entwicklung und Charaktere der zwei. Während die temperamentvolle Laetitia genau weiß, was sie will – nämlich Rockstar werden – und zielstrebig ihren Weg geht, lässt sich die hochintelligente Tristane von den Meinungen anderer leicht verunsichern und leidet unter ihrer mangelnden Ausstrahlung. Manchmal bekommt die stark überspitzte Geschichte märchenhafte Züge, doch die kalte Gleichgültigkeit der Eltern und die Auswirkungen holen einen schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Es war mein erstes Buch von Amélie Nothomb und sicher nicht das letzte.

Bewertung vom 25.01.2025
Bogners Abgang
Platzgumer, Hans

Bogners Abgang


ausgezeichnet

Der Roman beginnt mit Arbeitsnotizen des titelgebenden Protagonisten, die sowohl Unbehagen als auch Neugier in mir weckten. Darin beschreibt der Künstler Andreas Bogner, wie er eine Pistole seines Schwiegervaters studiert, um ihre „Persönlichkeit“ und Brutalität zu porträtieren. Man hat schon ein ungutes Gefühl, dass die Waffe eine unheilvolle Rolle spielen wird, zumal es in Bogners Privat- und Berufsleben nicht zum Besten steht.

In einem zweiten Handlungsstrang lernen wir die Studentin Nicola Pammer kennen, die eines Nachts an einer Kreuzung in Innsbruck in einen Autounfall verwickelt wird. Es liegt nahe, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Figuren gibt, aber der Autor spannt uns lang auf die Folter und führt außerdem eine dritte Person – einen Kunstkritiker – ein, um dessen Anerkennung Bogner ringt.

Anhand dieser Konstellation beschreibt der Autor sehr scharfsinnig, ob und wie Menschen Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, mit Schuldgefühlen umgehen und was dabei in ihren Köpfen vorgeht. Sein Erzählstil ist prägnant und schnörkellos, was die Dramatik der Ereignisse verschärft. Ich war verblüfft, wie ich auf gerade mal 140 Seiten ein recht klares Bild der Lebenssituation zweier Menschen bekam, deren Wege sich zufällig und folgenreich kreuzen. Nahestehende können ihnen noch so viel Hilfe anbieten - am Ende müssen sie ihre Konflikte mit sich selbst ausmachen. Ein starkes Buch – dicht und intensiv.

Bewertung vom 18.01.2025
Clara
Eichel, Christine

Clara


ausgezeichnet

Ich habe schon einmal ein Buch über die Jugendjahre von Clara Schumann gelesen und hätte damals gern gewusst, wie es im Leben der gefeierten Pianistin weiterging. Dank dieser Biografie von Christine Eichel konnte ich ihren langen Weg zu einer modernen Unternehmerin mit vielen Tief- und Höhepunkten weiter verfolgen.

Diesmal brachte mich nicht nur der despotische Vater Friedrich Wieck, sondern auch die dunkle, eher unbekannte Seite Robert Schumanns aus der Fassung. Selten habe ich über eine so romantische und zugleich toxische Beziehung gelesen wie die zwischen ihm und Clara. Wie konnte eine Starpianistin, die das damals einzigartige Privileg hatte, ihrer Berufung zu folgen und Berufsmusikerin zu werden, einen Komponisten heiraten, der sie zum Hausmütterchen machte? Warum brachte eine Frau wie sie, die sich auf Konzertbühnen vor jubelndem Publikum am glücklichsten fühlte, acht Kinder zur Welt?

All die Fragen, die sich mir aufdrängten, beleuchtet die Autorin anhand von Tagebüchern und Briefen sehr genau, differenziert und vor allem mitreißend. In ihrem Text lässt sie die Funken sprühen, stellt mit modernen Ausdrücken wie „Storytelling“ oder „Regretting motherhood“ einen Bezug zur heutigen Zeit her und entlarvt einige Mythen. Ich konnte immer besser nachvollziehen, welchen Einfluss die verschiedenen Lebensstationen mit einem Vater, der sie als Einnahmequelle betrachtete, mit einem psychisch labilen Ehemann, den sie idealisierte, und mit einer Kinderschar, die sie als Belastung empfand, auf Claras Emanzipationsprozess hatten. Unter den zahlreichen Biografien in meinem Regal bekommt dieses fesselnde und aufschlussreiche Buch einen Ehrenplatz.