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YukBook
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München

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Insgesamt 269 Bewertungen
Bewertung vom 13.07.2024
Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
Stanisic, Sasa

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne


ausgezeichnet

In diesem Buch gab es für mich ein Wiedersehen mit Figuren aus seinem früheren Erzählband „Fallensteller“. Damals hatte ich mich noch etwas schwer getan mit dem sehr eigenen Erzählstil des Autors. Diesmal war ich gleich mittendrin in den Geschichten, die sich um ganz unterschiedliche Menschen drehen.

In der ersten Erzählung hängen vier Jugendliche mit Migrationshintergrund in den Weinbergen ab und malen sich aus, wie praktisch ein Proberaum wäre, bevor man einen bestimmten Weg in die Zukunft einschlägt. Welche Lebensoptionen verpasse ich? Diese Frage zieht sich auch durch die folgenden Geschichten. Aus scheinbar banalen Tätigkeiten wie dem Entsorgen eines Memory-Spiels oder dem Putzen eines Heizkörpers mit einer Ziegenhaarbürste entwickeln sich philosophische Gedanken über die eigene Herkunft, Freiheit, Selbstbestimmung und das menschliche Dasein.

An Fantasie und originellen Einfällen mangelt es Saša Stanišić wahrlich nicht, sei es bei spielerischen Wortkreationen, literarischen Bezügen oder der Vermischung von Realität und Fiktion. Ich hatte sehr viel Freude an diesen scharfsinnigen und teils humorvoll, teils melancholischen Geschichten, die sich zu einem Ganzen fügen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.07.2024
Am Tag, bevor der Frühling kam
Cornelsen, Ella

Am Tag, bevor der Frühling kam


sehr gut

Gerade wenn man glaubt, das eigene Leben sei festgefahren, erlebt man so manche Überraschung. So ergeht es der Ich-Erzählerin Ellinor. Ihre Ehe ist gescheitert, ihr siebzehnjähriger Sohn entfremdet sich immer mehr von ihr, und – wie viele andere in ihrem Alter – fragt sich die 58-Jährige, was sie von ihrem Leben noch erwarten kann.

Für die Pastorin stehen Beerdigungen auf der Tagesordnung. Durch den ständigen Umgang mit Trauernden und dem Tod ist ihr Bewusstsein, dass das Leben endlich ist, umso stärker ausgeprägt. Plötzlich wird sie mit zwei einschneidenden Ereignissen konfrontiert: Eines stellt einen Neuanfang in Aussicht, das andere zwingt sie zum Loslassen. Ellinors Hoffnung, eine vergangene Liebe neu aufleben zu lassen, ihre enge Beziehung zu der Nachbarin Els sowie ihr Bemühen, sich ihrem Sohn wieder anzunähern, beschreibt Ella Cornelsen zart und behutsam. Es ist ein Buch der leisen Töne, das in sehr schöner Sprache Weggabelungen im Leben aufzeigt und mit wenigen Worten Atmosphäre und Gefühle erzeugt.

Bewertung vom 06.07.2024
Der Schacherzähler
Pinnow, Judith

Der Schacherzähler


ausgezeichnet

Es ist schon lange her, dass mir ein Buch die Tränen in die Augen trieb wie bei diesem Roman. Hier treffen drei Generationen aufeinander: der neunjährige Janne, der von seiner Lehrerin gepiesackt wird, Malu, die als alleinerziehende Mutter obendrein noch um ihren Job in einem Café bangen muss, und der einsame Oldman, den der Tod seiner Frau und Schuldgefühle quälen.

Wie der aufgeweckte Janne von Oldman nicht nur das Schachspiel, sondern auch Lebensweisheiten lernt, ihn aus der Reserve lockt und sich mit ihm anfreundet, wird so charmant erzählt, dass ich ähnlich wie die beiden ihrer nächsten Verabredung entgegenfieberte. Währenddessen versuchen Malu und ihr Chef Hinnerk die drohende Schließung des Cafés zu verhindern. Es ist nicht nur ein beliebiger Coffee Shop in Bad Altbach, sondern eine wichtige Anlaufstelle für die Dorfgemeinschaft.

Die Autorin wechselt leichtfüßig zwischen den Perspektiven der Haupt- und Nebenfiguren, die alle ihr Päckchen zu tragen haben, wobei mir Jannes überbordende Fantasie und Oldmans Erinnerungen an die glückliche Zeit mit seiner verstorbenen Frau besonders gefielen. Es ist eine herzerwärmende Geschichte über Freundschaft, Zusammenhalt und die Fähigkeit, Fehler und Unvollkommenheit in seinem Leben zuzulassen.

Bewertung vom 26.06.2024
MAAME
George, Jessica

MAAME


ausgezeichnet

„Maame“ ist ein Spitzname, den die Protagonistin nicht gerne hört. Der Begriff steht für „Frau“, „Verantwortliche“, und die 25-jährige Maddie wurde von ihren Eltern viel zu früh in diese Rolle hineingedrängt. Ihre Mutter lebt in Ghana, drängt sie ständig dazu, einen passenden Ehemann zu finden und überlässt ihr die Pflege des an Parkinson erkrankten Vaters. Auch ihr Bruder James entzieht sich jeder Verantwortung und ist ihr keine Hilfe.

Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die lernt, zur Abwechslung ihre eigenen Bedürfnisse vor die der anderen zu stellen und sich neu erfindet. Die Erfahrungen, die sie erstmals in einer WG, bei ihren ersten Dates und in ihrer Arbeitsstelle sammelt, erlebt man – auch durch ihre direkte Ansprache - hautnah mit, so als ob eine Freundin uns über ihren turbulenten Alltag auf dem Laufenden hält. Verständlich, dass sie bei jeder neuen Herausforderung und Unsicherheit Google zu Rate zieht. Bei all der Tragikomik wusste ich oft nicht, ob ich weinen oder lachen soll und hätte ihr gern ein paar aufmunternde Worte zugerufen.

Es werden ernste Themen wie Einsamkeit, Care-Arbeit, Rassismus oder Trauerbewältigung angeschnitten, doch zum Glück nicht auf deprimierende Weise, denn dem setzt die Autorin einen erfrischenden Humor, wachsendes Selbstvertrauen der Heldin und die Kraft echter Freundschaft entgegen.

Bewertung vom 08.06.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Den letzten Sommer in ihrem Ferienhaus am Lake Christopher in North Carolina hat sich die Familie Starling, um die sich dieser Roman dreht, sicher anders vorgestellt. Statt all die Dinge, die sie an diesem Ort geliebt haben, ein letztes Mal zu durchleben, werden sie von einem schrecklichen Unfall auf dem See überrascht, der nicht nur ihr gemeinsames Wochenende überschattet, sondern ihr Lebenskonstrukt ins Wanken bringt.

In jedem Kapitel steht ein anderes Familienmitglied im Fokus – zum Beispiel Sohn Michael, der keinen Tag ohne Alkohol übersteht, sein Bruder Thad, der um Liebe und Anerkennung ringt oder sein Partner Jake, ein erfolgreicher, egozentrischer Künstler. Anhand der komplexen Charaktere, ihren Geheimnissen und falschen Erwartungen macht der Autor deutlich, was Menschen in ihrem Leben anstreben und wie und woran sie scheitern.

Mit welch literarischem Talent und psychologischer Tiefe David James Poissant das Menschliche und Zwischenmenschliche analysiert und mal komisch, mal spannungsreich die Entwicklung der einzelnen Figuren schildert, hat mich verblüfft und sehr beeindruckt.

Bewertung vom 05.06.2024
Unter Wasser ist es still
Dibbern, Julia

Unter Wasser ist es still


ausgezeichnet

Geschichten dieser Art wurden schon oft erzählt: Eine Frau reist in ihre Heimat, um ihr Elternhaus aufzulösen und zu verkaufen und wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Dieser Roman hat mich jedoch besonders berührt.

Eigentlich möchte die Hauptfigur Maira ihre Aufgabe in Soeterhoop so schnell wie möglich erledigen und wieder nach Frankfurt, wo sie als Restauratorin arbeitet, zurückkehren, doch so einfach ist es nicht. Erinnerungen an glückliche Tage mit ihren engsten Freunden, aber auch traumatische Erlebnisse mit ihrer kranken Mutter kommen wieder hoch. Welche Überwindung es sie kostet, nach 18 Jahren wieder ihr Haus zu betreten und sich der Ostseeküste, die ihr einst so viel bedeutet hat, zu nähern, beschreibt die Autorin sehr eindringlich und überzeugend.

Auch die Nebenfiguren sind vielschichtig angelegt und hauchen dem Schauplatz Leben ein. Mairas seelische Nöte und ihr Gefühl, andere hätten sich weiterentwickelt und ihr Leben weitergelebt, während sie selbst damit beschäftigt war, die Vergangenheit zu bewältigen, konnte ich gut nachfühlen. Sie wuchs mir immer mehr ans Herz. Die Geschichte hat für mich genau das richtige Tempo, ist trotz der emotionalen Achterbahn an keiner Stelle kitschig und bleibt durch eine ungeklärte Schuldfrage und schwierige Entscheidungsfindung bis zum Ende spannend.

Bewertung vom 01.06.2024
Marigold und Rose
Glück, Louise

Marigold und Rose


sehr gut

Wer sich fragt, was wohl in den Köpfen von Babies vorgeht, ist nach der Lektüre dieser Geschichte vielleicht etwas schlauer. Louise Glück lässt die titelgebenden Zwillingsmädchen abwechselnd aus ihrer jeweiligen Sicht erzählen, welche Erfahrungen sie in ihrem ersten Lebensjahr machen.

Marigold ähnelt eher ihrem Vater, ist nachdenklich, still und kann es kaum erwarten, Wörter zu lernen und ein Buch zu schreiben. Rose dagegen ist gesellig, extrovertiert und abenteuerlustig. Der Reiz liegt in dem Gegensatz zwischen ihren kindlichen Entwicklungsschritten und den existenziellen Fragen, die sie sich stellen. Während sie lernen zu krabbeln und zu sprechen, sinnieren sie über ihren gegensätzlichen Charakter, die mysteriöse Welt der Erwachsenen, die ihnen trotz ihres Alters noch sehr unwissend erscheinen, und ihre eigenen Gefühle.

Die Vorstellung, dass ein Baby, das noch keine Wörter beherrscht, bereits an die Schriftstellerei denkt, brachte mich zum Schmunzeln und machte mich auch nachdenklich. Der Versuch, die Welt zu verstehen, scheint bei Marigold den Drang auszulösen, sich schriftlich damit auseinanderzusetzen. Was vermutlich auf alle, aber besonders auf Säuglinge zutrifft, ist wohl die Tatsache, dass man erst etwas vermisst, wenn es nicht mehr da ist. Die stetige Erweiterung von Kenntnissen und Fähigkeiten geht einher mit Verlusterfahrungen – dies war für mich eine der vielen Weisheiten, die uns Louise Glück in dieser ungewöhnlichen Erzählung vermittelt.

Bewertung vom 24.05.2024
Das Geflüster
Audrain, Ashley

Das Geflüster


gut

Der Roman beginnt mit einer Gartenparty, auf der die Stimmung alles andere als fröhlich ist. Der Reihe nach werden die „befreundeten“ Protagonisten aus der Nachbarschaft eingeführt, die sich argwöhnisch mustern. Verschärft wird das Ganze, als die Gastgeberin ihren Sohn anbrüllt und die Gäste schockiert. Ob dieser Vorfall mit einem späteren tragischen Unfall zusammenhängt, bildet die Rahmenhandlung.

Anhand der sehr unterschiedlichen vier Frauentypen beleuchtet die Autorin das Thema Mutterschaft in allen Facetten – vom unerfüllten Kinderwunsch über Erziehungsprobleme bis hin zur Selbstaufgabe in der Mutterrolle – und dem Druck, den Erwartungen gerecht zu werden. Interessant dabei ist, wie unterschiedlich das Selbst- und Fremdbild ist.

Auf mich wirkten die Figuren ein wenig zu stereotyp. Sie sind allesamt sehr negativ eingestellt und geprägt durch Misstrauen, Wut und Hass. Vergeblich wartete ich auf einen Funken Hoffnung oder ein Quentchen Humor, was ihre Probleme und Krisen abgefedert hätte. Auch das Ende überzeugte mich nicht ganz. An den Vorgängerroman „Der Verdacht“, der mich sehr gefesselt hatte, kommt diese Geschichte leider nicht heran.

Bewertung vom 06.05.2024
Brüderchen
Dupont-Monod, Clara

Brüderchen


ausgezeichnet

Wenn von einem schwerbehinderten Kind die Rede ist, denkt man oft an die zusätzliche Belastung für die Eltern, doch selten fragt man sich, wie es dabei den Geschwistern geht. Eine vage Vorstellung davon bekam ich in diesem Roman.

Das titelgebende dritte Kind in der namenlosen Familie kann weder sehen, sprechen noch laufen. Im ersten Kapitel wird erzählt, wie der älteste Bruder damit umgeht. Der Draufgänger verwandelt sich immer mehr zu einem fürsorglichen Beschützer, der eine starke emotionale Bindung zu dem Brüderchen aufbaut und seinen ganzen Lebenssinn auf ihn fokussiert.

Seine jüngere Schwester, scheinbar fröhlicher Natur, wird auch hin und wieder erwähnt, doch wie sie die gleiche Situation tatsächlich erlebt, erfahren wir erst im zweiten Kapitel. Ihre Sicht ist eine völlig andere, und ihr Leid und ihre kämpferische Haltung haben mich schlichtweg umgehauen.

Die Autorin beschreibt, welche Auswirkungen das unangepasste Kind auf diese Familie hat: für den einen verkörpert es Unschuld, eine reine Seele und ist eine Bereicherung, für den anderen raubt es die gesamte Energie der Familie und lässt andere Mitglieder vereinsamen. Was für eine originelle Idee, die Geschichte aus der Perspektive der Mauersteine im Hof erzählen zu lassen. Dieser Roman, der die raue Natur der Cevennen mit einbezieht und gekonnt zwischen zärtlichen, archaischen und tieftraurigen Gefühlen schwankt, zählt für mich zu den stärksten, die ich in letzter Zeit gelesen habe!

Bewertung vom 23.04.2024
Der Meisterdieb
Finkel, Michael

Der Meisterdieb


ausgezeichnet

Die Geschichte klingt zu verrückt, um wahr zu sein, doch es gibt ihn wirklich: den Protagonisten Stéphane Breitwieser, der Kunstwerke in einem Wert von über einer Milliarde Euro erbeutete. Im Gegensatz zu anderen Kunstdieben, machte er seine Beute jedoch nicht zu Geld, sondern hortete sie im Dachboden des Hauses seiner Mutter und ergötzte sich an dem Anblick.

Den Wunsch, sich von Schönheit zu umgeben, kann ich als Kunstliebhaber gut verstehen – allerdings teile ich nicht seine Vorliebe für die Renaissance. Außerdem ist Kunst für alle da, doch Breitwieser sah das anders. Was seine Leidenschaft und seine Sammelwut in seiner Kindheit entfachte und was ihn antrieb, mit seiner Lebensgefährtin quer durch Europa auf Beutejagd zu gehen, erzählt der Autor einfach mitreißend. Seine Sprache ist reduziert, präzise und elegant  – genauso wie Breitwiesers Methode auf seinen Raubzügen.

Ich war fasziniert und empört zugleich, mit welchem Geschick und welcher Dreistigkeit er Skulpturen, Pokale und Gemälde mitgehen ließ, teilweise mehrere auf einen Schlag. Die farbigen Abbildungen im Mittelteil des Buches ersparten mir erfreulicherweise die Suche im Internet. Wie Psychologen seine Obsession beurteilten, fand ich ebenso interessant wie den historischen Einblick in andere Kunstdiebstähle. Das Buch liest sich wie ein Thriller und ist nicht nur für Kunstinteressierte ein großer Lesegenuss!