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Criticaster
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Frankfurt

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Bewertung vom 06.08.2017
Mehr Licht
Müller, Olaf L.

Mehr Licht


schlecht

Bouvard, Pécuchet und Professor Müller

Eines Tages hatte Flaubert die Idee, zwei mittelmäßige Charaktere, Bouvard und Pécuchet, zu erfinden, die, ungebildet in allen Wissenschaften, das Wissen der Menschheit zusammenfassen und möglichst erweitern sollten. Der Roman wirkt heute nicht mehr sehr komisch, zu abstrus und repetitiv sind die geschilderten pseudowissenschaftlichen Albernheiten. Trotzdem gelten Bouvard und Pécuchet immer noch als Vertreter sprichwörtlicher Unbildung mit akademischem Anspruch. Als ernstzunehmende Konkurrenz zu Flauberts Roman ist vor einiger Zeit Professor Müllers Roman „Mehr Licht“ erschienen. Vier Hauptpersonen treten auf: Newton, Goethe, Quine, und der Professor M. selbst. Die Handlung ist einfach phantastisch. Man liest: Goethe war ein besserer Physiker als Newton. Newton war schlechter als sein Ruf. Er hätte Goethe zugucken sollen. Dieser Goethe hat sogar ein Theorem aufgestellt und bewiesen: Goethes Theorem. Goethe war ein genialer Experimentator, weil sogar kleine Kinder seine Experimente mit Prismen und allerlei anderen Gerätschaften nachmachen könnten. Wenn sich nicht die sog. Fachleute von Lichtenberg bis zu modernen Physikern einseitig für Newton und gegen Goethe verschworen hätten, dann gäbe es heute vielleicht eine schönere Physik! Tatsächlich werden schöne bunte Bilder in diesem Buch mitgeliefert. Goethe war aber auch ein „begnadeter“ Wissenschaftstheoretiker, weil er Quines These, dass Theoreme nicht eindeutig aus Versuchen folgen, vorausgesehen hat. Dass Letzteres bisher niemand ernsthaft behauptet hat, zählt in diesem Phantasiestück genauso wenig wie die Tatsache, dass Newton um 1700 experimentierte, Goethe um 1800, und Quine eigentlich nie (er war Philosoph). Da passt es auch gut zu Müllers kontrafaktischem Roman, dass der historische Goethe nie ein Theorem aufgestellt oder bewiesen hat und dass Professor Müller nie eine Naturwissenschaft studiert hat. Beinahe wäre er auch nie auf Goethe gekommen. Aber wie der Verfasser auf seiner das Buch begleitenden Webseite „Farbenstreit“ gesteht, habe ihm sein akademischer Karriereberater gesagt: „Du musst wenigstens ein einziges philosophiehistorisches Thema besetzen, egal welches – sonst bist Du verloren”. Daraufhin Müller: „Ich knöpfte mir Goethes Farbenlehre vor.“ Er studierte ihn also nicht, sondern „knöpfte“ ihn sich vor.
Nicht lange danach offenbarte sich, dass langes Studieren sowieso unnütz gewesen wäre: “Ich schaute (angeleitet von Goethe) durchs Prisma, plötzlich machte es Klick, und alles war klar.“ Bevor dieser Roman geschrieben werden konnte, brauchte es noch die Habilitation, und die wäre beinahe noch gescheitert, weil die Göttinger Professoren der Philosophischen Fakultät ihm „einen Strick drehen wollten“ und statt des oben genannten „Klicks“ lieber mehr ernsthaftes Studium gesehen hätte. Doch es gab ein Happy End. In Müllers eigenen Worten: „Während die professorale Debatte hinter verschlossenen Türen hin und her wogte, ließ man mich draußen vor der Tür eine lange, lange Weile schmoren. Das erlösende Verdikt [die venia legendi doch zu erteilen] wurde verkündet, als ich die Hoffnung schon hatte fahren lassen.“ Gut so, denn sonst hätte es diese lustige Farce „Mehr Licht“ nicht gegeben und Bouvard und Pécuchet wären immer noch das Paradebeispiel akademischer Bêtise.

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