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Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 173 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2024
Mein Leben unter den Großen
Nielsen, Madame

Mein Leben unter den Großen


sehr gut

Ich bin Fangirl von Madame Nielsen seit »Lamento«. Auch mit »Der endlose Sommer« hat mich die Kunstfigur und Autorin Nielsen mit ihrer fließenden den Großenwahn streifenden, manisch- leidenschaflichen Literatur überzeugt, die gespickt ist mit Distanz schaffendem, sich dabei nicht allzuernst nehmendem Humor.

»Nein man kann aus den Erfahrungen anderer Menschen nichts lernen. Das Leben ist fürchterlich, aber wenn man hinterher davon erzählt, ist es oft doch recht rührend und lächerlich.«148

Mit »Mein Leben unter den Großen« gesellt Madame Nielsen sich unter zwölf Größen der dänischen Literaturszene und erschreibt sich selbst den Thron. In dreizehn Kapiteln begegnet Madame den anderen Großen oft flüchtig, anekdotenhaft, unterhaltsam und plaudert nebenbei über sich. Nielsen spielt dabei mit Dichtung und Wahrheit, sprenkelt Zweifel in die wahrhaftig wirkenden Begegnungen, die sich wie erwartet leichtfüßig, temporeich, erheiternd und manchmal auch geschmacklos lesen, ja WTF-Momente bieten die Erzählungen auch.
Wenn es auch ein noch größerer Genuss wäre, alle Größen zu kennen. Aber auch für Nichtauskennende der dänischen Literaturszene wir mich, ist »Mein Leben unter den Großen« ein kurzweiliges Vergnügen.

Bewertung vom 05.05.2024
WIR KOMMEN
LIQUID CENTER

WIR KOMMEN


sehr gut

Es ist eine bestechende Idee. 18 Autor:innen schreiben zusammen ein Buch über S.3xualität, Begehren und Alter, anonym und kollektiv. Auch im Prozess des Schreibens ist nicht rückverfolgbar, wer welches Thema aufgeworfen, welche Szenen beschrieben, ob sie selbst erlebt oder fiktiv sind, wer und wie viele den Faden weiter gesponnen haben und wie der Austausch ohne persönliche Identifikation der Schreibenden genau gelaufen ist.

Herausgekommen ist ein lesenswerter, facettenreicher, intimer, lustiger, diskussionswürdiger, nachdenklich machender und fließender Roman, der sich wie ein in Formen gegossener Gesprächsfluss liest. Das Kollektive, die vielen Stimmen und Perspektiven finden einen gemeinsamen Rhythmus. Es gibt wenig Reibung, die Beiträge sind thematisch collagiert, oft mit kurzen Passagen, die in einen ermutigenden Austausch münden oder zu den nächsten Themen führen. Es gibt sich Raum nehmende Szenen, Zweiergespräche, ein breiteres Teilen von Erfahrungen, die Thematisierung von Scham, inneren Widersprüchen, Steckenbleiben, Weiterkommen, Lust und Unlust, schmerzhafte Erinnerungen oder Passagen, die sich einfach hineinwerfen und weniger Gesprächsecho zum Hallen bringen.

Initiiert und editiert wurde der kollektive Text durch LIQUID Center, ein feministische Literaturkollektiv, das sich weiter entwickelte aus dem Kollektiv Writing with CARE | RAGE. Verena Günther, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf haben 15 weitere weiblich und queer gelesene Autor:innen eingeladen, von denen 13 in der Veröffentlichung genannt werden möchten.

Ich hoffe, ihr macht und geht noch weiter Lene Albrecht, Ulrike Draesner, Sirka Elspaß, Erica Fischer, Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl), Olga Grjasnowa, Verena Güntner, Elisabeth R. Hager, Kim De l'Horizon, I. V. Nuss, Maxi Obexer, Yade Yasemin Önder, Caca Savić, Sabine Scholl, Clara Umbach, Julia C. Wolf und ihr zwei Autor:innen, die anonym bleiben wollen.

Bewertung vom 05.05.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


ausgezeichnet

»Versuche ich zu schreiben, ist es als würde ich einzelne Stücke zusammen nähen. Schreibe ich über das Lachen meines Vaters, wenn er vom türkischen Gefängnis erzählt, schreibe ich über meinen Lachen, wenn eine Freundin mich fragt, wie die Situation für die Êzîden gerade sei, bringe ich das eine mit dem anderen in Verbindung... Ich trenne die Nähte wieder auf und fange von vorne an.«
|32f

»Vierundsiebzig« nimmt die Welt auf von einer Frau, der Protagonistin, des Autorin-Ichs, das voll ist von kurdisch-êzîdischen Geschichten, das sich kreist um den vierundsiebzigsten G3nozid an der êzîdischen Bevölkerung in Shingal.
Von einer Figur, die sich identifiziert mit ihrem êzîdischen Vater, seiner brüchigen Identität, in Abstand und Nähe, in einem êzîdischen Blick. Von einer Figur, die die Taten von IS-Angehörigen benennt und keine Nähe sucht zu Täter:innen, die sich doch beschäftigt mit der angeklagten Jennifer W., die ihren Blick wendet zu den Opfern wie Frau B. und Reda, erst 5. Von einer Figur, die reist, spricht, besucht, recherchiert, die sich ihr Verständnis, ihre Verständigung und ihr permanentes reflektieren des eigenen Dazwischenstehens erschreibt, in einem verdichteten Drang.
Von einer Autorin, Lyrikerin, Journalistin, Deutschen, Ězîdin, Denkerin und Kämpferin die einen hybriden Text erschafft, der fließt und immer wieder leise wird, verstummt, nach Worten sucht, dessen zentrales Moment die Sprachlosigkeit bleibt. Von einer Geschichte, die sich nicht klassisch aufbaut, die sich anreichert, Schicht um Schicht. Von einem Text, der fast überquillt, der einen repetetiven Rhythmus findet, mit wiederkehrenden Motiven und einem Kreisen, das untypisch ist für 500 Seiten. Von einem Langgedicht in Prosaform, einer journalistischen, dokumentarischen (Auto)Fiktion, einem innovativen Text, der Raum braucht und sich legen muss, der scheinbar das Wissen und den Verstand anspricht, sich jedoch tiefer zu verankert sucht.
.
Höre ich das Wort Êzîden, denke ich an Êzîden, denke ich an Ronya Othmann, denke ich an »Vierundsiebzig«, denke ich an Shingal, denke ich Reda, denke ich an Êzîden und das ist mehr, als eine Story, ein Kommentar, ein Artikel, ein Bericht, eine Reportage oder eine sachbuchartige Veröffentlichung zu erreichen vermag. Ich bin gespannt, ob es für den Deutschen Buchpreis eingereicht wird und wie weit es da kommen könnte.

Bewertung vom 05.05.2024
Der Köder
Tonks, Rosemary

Der Köder


ausgezeichnet

Mit Rosemary Tonks hat der Märzverlag eine Autorin ausgegraben, die eine ähnlich interessante Lebensgeschichte hat, wie die Fotografin Vivian Maier. In den 60er Jahren war Tonks eine Nummer im Literaturbetrieb. Sie machte sich einen Namen als Lyrikerin, Romanautorin und Kritikern, aber in den 70er Jahren löste sie sich in Luft auf wie Cheshire-Cat. Der Legende nach wurde Tonks fundamentale Christin. Sie lehnte jede Literatur außer der Bibel ab, verbrannte ihre Manuskripte und sorgte dafür, dass ihre Literatur nicht mehr zu finden war. Wenn sie ein veröffentlichtes Buch von sich fand, soll sie es verbrannt haben. Eine traumatische Kindheit und daraus resultierende Bindungsstörungen werden der Autorin angedichtet, die als Kind von Kolonialisatoren im Motherland England in Internaten aufwuchs. Ihre Karriere, ihre für die Zeit ungewöhnlich selbstbewußt-unangepasste Art, die Scheidung, ihre exzessive Literatur, ihr Hang zu Spiritualität, die Hinwendung zum fundamentalen Christentum, die Zerstörung aller aus der kolonialen Herkunft ihrer Familie ererbten Raubkunstobjekte und ihre kontinuierliche Verweigerung von Interviews oder Neueveröffentlichungen, lesen sich ebenso spannend, wie der Roman selbst, der 1968 herauskam und 2022 mit viel Aufmerksamkeit posthum neu veröffentlicht wurde, da nun ihre Hinterbliebenen zustimmten.

Das 40seitige Nachwort des Verlegers Neil Astley, der immer wieder versuchte an Tonks heranzukommen, umkreist die Legendenumwobene Autorin. Fast möchte ich dazu raten, es vor dem Roman zu lesen, denn es unterstreicht die Besonderheit der Autorin und ihres Schaffens. Doch das Werk Tonks steht für sich selbst. »Der Köder« ist ein heiteres Lustspiel mit giftigen Spitzen. In feinen Teegesellschaften, Opernabenden und Empfängen Londons lokalisiert, bewegt sich »Der Köder« zwischen »Menschen im Hotel« und der komischen Verdi-Oper »Falstaff«. Die eigenwillige Protagonistin Min tut alles für ihre Zerstreuung. Ihren Ehemann hält sie für so unscheinbar, dass sie versehentlich das Licht ausmacht, als sie den Raum verlässt, dabei sitzt er noch am Tisch und isst. Sie wettstreitet mit anderen Frauen um die besten Liebhabergeschichten, ist verknallt in den geschiedenen Billy, den sie auch erobert, während ein berühmter Opernsänger, der Kugelfisch, sie gekonnt umwirbt. Doch Min weiß noch nicht, ob sie selbst lieber die Angel auswirft oder gefangen werden will. Im verhalten-exzessiven Sound der 60er Jahre hält »Der Köder« die Spannung zwischen konservativem Gefangensein und dem selbstbewußten Ausbruch einer nach Zerstreuung suchenden Frau. »𝘋𝘦𝘳 𝘱𝘦𝘳𝘧𝘦𝘬𝘵𝘦 𝘈𝘱𝘦𝘳𝘪𝘵𝘪𝘷. 𝘋𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘉𝘶𝘤𝘩 𝘸𝘢̈𝘳𝘮𝘵 𝘷𝘰𝘯 𝘪𝘯𝘯𝘦𝘯, 𝘦𝘴 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘵 𝘣𝘦𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘯𝘨𝘵, 𝘴𝘰𝘳𝘨𝘦𝘯𝘭𝘰𝘴, 𝘶𝘯𝘥 𝘴𝘦𝘩𝘳, 𝘴𝘦𝘩𝘳 𝘷𝘪𝘦𝘭 𝘨𝘭𝘶̈𝘤𝘬𝘭𝘪𝘤𝘩𝘦𝘳« behauptet The Times und ich behaupte, dass das von Barbara Kalender gestaltete Cover noch glücklicher macht, es ist nicht so instagrammable, wie es sein könnte, aber wenn ihr im Buchladen seid, fragt doch mal danach, fasst es an und lest bei der Gelegenheit rein.

Bewertung vom 05.05.2024
Eine Arbeiterin
Eribon, Didier

Eine Arbeiterin


ausgezeichnet

»Das ist also ihr Leben gewesen, dachte ich: das ist ihr Leben gewesen und das ist ihr Alter, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich in dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.« |211

Worüber schreibt Eribon in »Eine Arbeiterin«? Über seine Mutter, eine Arbeiterin, die in einem Waisenhaus aufwuchs, die in einer Fischfabrik putzte, die mit einem cholerischen Mann lebte, vier Jungen aufzog, sich spät noch einmal verliebte und schließlich von ihren Söhnen in ein bezahlbares Pflegeheim zum Sterben gebracht wurde? Über sich, den erfolgreichen Soziologen, den schwulen Intellektuellen im Zentrum Paris, der in seinem Denken in seiner neuen geistigen Familie ein Band zu seiner Herkunft knüpft, der dabei die Sprache seiner Klasse nicht mehr spricht? Über Widersprüche, Differenzen und Verbindungen einer Mutter und eines Sohnes, der aufhört jemandes Sohn zu sein, der sich seiner Herkunft bewußt ist, sich ihrer schämte und nun fremd geworden ist? Über einen Klassenflüchtigen, der sich ein Klassenbewusstsein der Zurückgelassenen wünscht und auf ein sich fügen, auf rassistische und Geschlechterstereotype trifft, gegen die er zu reden müde geworden ist? Über die Erinnerungen des eigenen Werdeganges, über die Gefühle, die das auslöst und die Neuverortung, die beim Sterben der Eltern im Raum steht?

Ja, diese Fragen sind Ausgangs- und Bezugspunkt für die "Autosoziographie" Eribons, die sich als Fortsetzung von »Rückkehr nach Reims« liest. Jedoch wäre »Eine Arbeiterin« kein französisches Buch, wenn es nicht danach streben würde, die sozialgesellschaftliche Dimension von Gefühlen und Beziehungen zu erkunden, im Individuellen das Verallgemeinerbare zu suchen und so einer Psychologisierung und einer um sich selbst kreisenden Autobiographie zu entgehen. Die Institutionalisierung der Pflege der Alten, die Rationalisierung und Durchkapitalisierung, thematisiert Eribon genauso wie Fragen der Entfremdung und Fremdbestimmung des Lebens einer Arbeiterin im Verlauf. Wie sie sich sieht und verhält steht im Bezug zu gesellschaftlichen Stimmungen, Klasse und Geschlecht, die einmal dazu führten, sich gewerkschaftlich zu engagieren und Fragen zu stellen. Doch meist begegnet dem Klassenaufsteiger Eribon in seiner Mutter Fügung, Rückzug, Fernsehen, Supermarktromane, Schweigen, die Zustimmung von Populismus, der die Entfremdung und das Französischsein über alles stellt und Rassismus, der ihr die Möglichkeit gibt, sich zu empören und zu fordern. Das Verhältnis zum Sterben und zu den Sterbenden, die Frage wer die Stimme und ein Bewusstsein für ihre Belange beanspruchen kann, wenn sie es selbst nicht mehr können, wirft Eribon ebenso auf wie die Ambivalenz, dass die Betroffenen der Herkunftsklasse die von Eribon für wesentlich erachteten Analysen und Schriften von Simone de Beauvoir etwa, von Michel Foucault, von Norbert Elias, Bohumil Hrabal, Danilo Kiš, Annie Ernaux, Pierre Bourdieu und einigen anderen Intellektuellen nicht lesen werden, erst Recht nicht im Alter.
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Eribon traut sich mit »Eine Arbeiterin« die Verfertigung unfertiger Gedanken und diese mit Theorie und Analyse zu vermengen. Er macht sich damit angreifbar, aber es sich und den Lesenden keineswegs einfach. Es sind die Fragen, die wertvoll sind und die Richtungen der Suche nach Antworten, denn feste Aussagen liefert er nicht, auch das macht »Eine Arbeiterin« lesenswert.

Bewertung vom 05.05.2024
Große Dämonenkönige
Giorno, John

Große Dämonenkönige


ausgezeichnet

»Große Dämonenkönige sind Menschen, die von ihrem großen Ego kontrolliert werden, aber manchmal inspiriert ihr Ego sie doch dazu, die leere wahre Natur des Geistes zu verwirklichen.« |316

Mit »Große Dämonenkönige« hat der Performance- und Wortkünstler John Giorno sich selbst und seinen Weggefährten der queeren Avantgarde New Yorks der 60er bis 80er Jahre ein Denkmal gesetzt. Mit großem Ego und durchscheinender Ambivalenz schafft und befördert er so Legenden über sich und die Szene, in der er sich bewegte. Dabei nehmen seine romantischen und s3xuellen Beziehungen zu Künstlergrößen wie etwa Warhol, Rauschenberg, Johns oder Burroughs und die Vermischung mit der Kunst und dem Geschäft den größten Raum ein. Aber Giornos Memoir ist mehr als Gossip. Es ist wie sein Werk exzessiv, erschöpfend, gehetzt, unter Druck, leer, temporeich, repetitiv und impulsiv. »Große Dämonenkönige« folgt der Spannung eines Hin und Hers von Ego Boost zum Absturz und Zusammenbruch, bis Giorno im Buddhismus zur Ruhe findet. Das Memoir lässt nachdenken über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen, ihr Brechen, die Entstehung von moderner Kunst, ihrer Verbindung zu Queerness, S3x, Drogen und Depressionen, den Mäzenen, dem im Kontakt und im Gespräch bleiben müssen mit den richtigen Menschen zur richtigen Zeit, dem aufgenommen und fallengelassen werden, der Betäubung, der Suche und dem Finden. Die Lektüre berauscht und erschöpft, sie nervt und weckt mehr Interesse an moderner Kunst, besonders im Spannungsfeld von Aktivismus, Macht und Geld.

»Poesie ist Showbusiness« (|279) verkündete er selbst. Giorno war Künstler und Aktivist, Drogenliebhaber und Buddhist, der die Promiskuität und sein Schwulsein politisch sah und immer öffentlich zeigte, als es noch viele versteckten. »Poem Projects« nannte er seine Kunst und ich weiß nicht, ob sie mir gefällt. Lyrik vermarktete er wie Pop Art, aber das ist nicht das Interessante an Giorno. Genau wie die Produkte der Pop Art selbst nicht das Interessante an Pop Art sind. 2019 ist John Giorno gestorben... Giorno ist tot, doch mit diesem Memoir lebt der Dämonenkönig mit seinen Weggefährten weiter. »Große Dämonenkönige« ist nicht nur für Freund:innen der modernen Kunst-, der queeren und der Pop Geschichte eine spannende Lektüre.

Bewertung vom 05.05.2024
Gedankenspiele über die Ruhe
Knecht, Doris

Gedankenspiele über die Ruhe


sehr gut

Was ist Ruhe eigentlich? Welche Geräusche stören? Was hat innere Ruhe mit äußerer Ruhe zu tun? Und wen machen Ruheabteile in Zügen ruhig?

Viele Seiten könnte Doris Knecht ohne Mühe um das große Wort Ruhe füllen und Geschichten darum spinnen. Doch in dieser Kurzessay-Reihe geht es um Verknappung. Unter 50 Seiten bleibt sie und entwickelt ihren Ruhetext von einer inneren Aufregung in die Beruhigung, die für Knecht viel mehr damit zu tun hat, sich sicher und angenommen zu fühlen, als mit der Lautstärke an sich.

Sehr gern hab ich dieses Büchlein gelesen, das sich bestens auch an jene verschenken lässt, die nicht Teil dieses Kosmos der Viellesenden sind.

Bücher statt Blumen?

Bewertung vom 05.05.2024
Nachwasser
Paris, Frieda

Nachwasser


ausgezeichnet

»Nachwasser« ist eine Hommage an Friederike Mayröcker. Auf Zettel hat selbige ihre Gedanken und Dichtungen verfasst, sie dann zusammengebracht und daraus ihr Werk erschaffen.
Ausgehend von Mayröckers Zettel-Archiv hat die Schneiderin, Theater-, Film und Medienwissenschaftlerin Frieda Paris einen von Mayröckers Arbeitsweise und Werk inspirierten 𝑠𝑢𝑏|𝑐𝑜𝑛𝑐𝑖𝑜𝑢𝑠 𝑠𝑡𝑟𝑒𝑎𝑚 𝑜𝑓 𝑝𝑜𝑒𝑚 erschaffen, der sich auf die große Dichterin bezieht und sich traut, weiterzutreiben in einen ganz eigenen Sound. Das halten wollen, die Sprache, die Einsamkeit und ein den Stream verbindender Vogel sind im Spiel dieses harmonisch zugeschnittenen Langgedichts, wie das Drehen und Wenden der Zettel, denn »: jeder Satz hat eine Rückseite« |5.

»vielleicht ist dieser Text eine Auffaltung, von hier aus (ist gleich SCHNEIDETISCH) befinde ich alles.« |6

Alles? Frieda Paris befindet viel, wenn sie am SCHNEIDETISCH analog und konträr aus Stoffen, Papier, Büchern und Zitaten Szenen, Gedanken, Assoziationen, An- und Neuordnung der Fragmente schafft. Aber dieses Alles komplettiert sich erst, wenn ihre Ansprache Anklang findet, der Fluss des Sendens und Empfangens der Literatur weiterfließt. Indem Frieda Paris mit ihrer Ich-Figur Mayröcker loslässt, sich Erb, Monroe, Kirsch, Camus, Celan, Duras und anderen zuwendet, weitertreibt, zerschneidet und zusammensetzt, passiert beim Lesen ein Assoziieren, Treiben, Kreisen, Zerschneiden, ein Zusammengehen, -fallen und -setzen.
Das Sein, die Liebe, das Verlassen und Werden fallen in »Nachwasser« zusammen, sie fließen zu zentralen Motiven des Vogels, der Farbe gelb und zu aufeinander Bezug nehmenden Szenen wie

»dass ich einmal neben jemandes Rücken liegen möchte,
ohne Angst haben zu müssen, es könnte jederzeit vorbei sein,
weil einer weiter muss, weil noch immer einer fort muss,
auf die nächste Insel, indes ich dann wieder zurück
an den SCHNEIDETISCH« |10

»das Verlassen werden kam vor dem Schreiben
kurz nach der Geburt fast fallengelassen worden,
in der Ohnmacht meiner Mutter, kaum dass sie mich
auf die Welt gebracht/hatte/sie mich schon gerettet
und ich sie verloren ℎ𝑎𝑙𝑡𝑒𝑛 𝑆𝑖𝑒 𝑑𝑎𝑠 𝐾𝑖𝑛𝑑,
______________ℎ𝑎𝑙𝑡𝑒𝑛 𝑆𝑖𝑒 𝑑𝑎𝑠 𝐾𝑖𝑛𝑑 𝑓𝑒𝑠𝑡«|11
.
Ein beachtenswerter und erfreulicher Text, der nach Performance ruft. Menschen mit einem Herz für Lyrik und neue sich wagende Stimmen, verpasst Frieda Paris nicht.

Bewertung vom 05.05.2024
Wünschen
Ibeh, Chukwuebuka

Wünschen


ausgezeichnet

»"Sie meinen also, dass Homosexuelle ins Gefängnis gehören?"
"Ja", sagte der Mann.
"Warum?" Der Mann wich ein Stück vom Mikrofon zurück und starrte die Korrespondentin an, als habe sie den Verstand verloren. "Weil wir hier Werte haben"« |283

Wenn Obiefuna glücklich ist, spürt er das Gewicht von Missbilligung und Sorge auf sich. Er passt nicht in das Bild eines nigerianischen Jungen und sucht eher leise seinen Platz. Doch sein Wesen blitzt durch und als der Lehrling Aboy seinen Blick erwidert, entsteht eine zarte intime Verbindung, die ein dramatisches Ende nehmen wird. Sein hilfloser Vater verjagt Aboy und verbannt Obiefuna in ein streng christliches Internat und seine schützende Mutter zieht sich in Liebe und Rücksicht zurück.

Große Worte und Aussprachen sucht das beachtliche Debüt »Wünschen« nicht, auch wenn es zum Ende viel Kontext einfließen lässt zu der bedrohlichen Situation queerer Menschen in einer oppressiven nigerianischen Gesellschaft, die wenig Raum lässt für Menschen, deren Begehren und Wesen anders ist, als die strengen Ideale von durch Religionen und Traditionen begründeten Wertegrenzen. Wie Obiefuna nicht reden kann, manchmal auch noch nicht denken, spürt der Text auf und macht die Grenzen erfahrbar, auf die er in seiner schwulen Bewusstwerdung gestoßen wird. Doch es gibt auch unerwartete Öffnungen, Wärme und vertrauensvolle Nähe, unwiderstehliche Lust und Geborgenheit, die Obiefuna immer wieder finden. Durch die permanente Bedrohung baut »Wünschen« Spannung und Tempo auf, die Ibeh durch Zartheit und Stille der Figur ausbalanciert und mit der Zeichnung einer offen blickenden Liebe einer bemerkenswerten Mutterfigur komplettiert.

»Wünschen« berührt emotional und schafft es, ohne platte Verurteilungen die Konfliktlinien des bevölkerungsreichsten Landes des afrikanischen Kontinents nachzuzeichnen, die postkoloniale Situation einzuweben und mit Themen zu verbinden wie Flucht und Migration nach innen und nach Europa oder der Universalität, was Menschen ausmacht, wie sie zu ihren Talenten, zu Erfüllung und Magie im Leben finden können. Überraschend und beeindruckend ist die Dichte und einnehmende Wärme dieses Textes. Es ist mir kaum vorstellbar, dass Obiefuna und seine Mutter Uzoamaka anderes als Zuneigung, Sorge, Verzweiflung und Hoffnung auslösen können. Große Freude macht dieser Roman, ich empfehle ihn sehr.

Bewertung vom 05.05.2024
Meine Katze Jugoslawien
Statovci, Pajtim

Meine Katze Jugoslawien


sehr gut

Schlangen, die die Kontrolle übernehmen, die Alpträume bewohnen, würgen und dabei zu den wichtigsten Vertrauten und Gegenfiguren werden. Katzen, die sich in die Geschichte schleichen, ganz leise, fast nebensächlich, die dann Aufsehen errregen. Die sich in Schwulenbars aufreißen lassen, erst anschmiegsam, dann tyrannisch, fordernd die Kontrolle übernehmen und mit Schlangen um das Territorium kämpfen. Katzen, die die Selbstzweifel und negativen Gedanken einer Figur in verbaler Gewalt einflüstern und diese in der eigenen Wohnung zu verdrängen suchen.
Das klingt nach dystopischem Märchen, nach magischem Realismus und nach von der Psychoanalyse inspirierter Traumdeutung und Symbolik, vielleicht holzschnittartig, vielleicht auch nach Thesenroman, etwas Horror ist auch dabei und das Psychogramm verletzter Identitäten. Insbesondere weil der kosovarosch-finnische Autor Statovci sie mit einer Migrations- und Fluchtgeschichte verwebt und eine Familie entwirft, die nicht nur durch Krieg und Exil von Gewalt, Einsamkeit und Entfremdung gezeichnet ist.
Erfreulicherweise legt er sich nicht fest auf bestimmte Deutungen und entgeht damit den Fallstricken einer zu direkten und determinierenden Sichtweise auf das Erzählte, holzschnittartig und Thesenroman nehm ich zurück.

Einer der Protagonisten ist Bekim, ein queerer einsamer Student, der sich von seiner Familie abgewendet hat. Er findet am Anfang des Romans kaum Kontakt zu sich selbst und der Umwelt, bis er in einem Impuls eine Boa kauft. Seine Gedanken und Erinnerungen wechseln mit der Perspektive seiner Mutter Emine. Ihre vom Patriarchat gefütterten Mädchenträume platzten schon in der Hochzeitsnacht als sie 17 war. Emine hat vier Kinder bekommen mit einem Mann, der gewalttätig, stolz und nicht erreichbar war. Im finnischen Exil hat sie nur schwer Fuß fassen können und fast die Verbindung zum Kosovo, ihren Kindern und sich selbst verloren.

Mit seinem bereits 2014 in Finnland erschienenen Debüt »Meine Katze Jugoslawien«, das 2017 in Englische übersetzt und hoch gelobt wurde, wollte der Autor viel. Doch überfrachtet oder konfus ist der Roman nicht. Er lebt vor allem von der komplexen und lebendigen Figurenzeichnung. Bekim und Emine bekommen einen eigenen Raum, ihre Charaktere sind nahbar, sie ergänzen und irritieren die Perspektive der anderen Figur, auch derjenigen, die nicht zu Wort kommen und sie nehmen eine Entwicklung. Statovsci zeichnet detailliert den Schmerz einer Familie nach, die es schon im Kosovo nicht einfach hatte, die vor Krieg floh und sehenden Auges in die ausgrenzenden und abwertenden Bilder der Finnen fallen und sich kaum oder nur mühsam daraus befreien können. Er spielt dabei mit dem antizipierten diskriminierenden Blick der Lesenden und säht immer wieder Zweifel.
Für mich hätten es auch weniger magisch realistische Tiere und Szenen sein können, aber das ist Geschmackssache, doch auch so kann ich mich einreihen in die von Statovci Begeisterten. Ob es dazu kommen wird, dass er mal den Booker Prize bekommt? Mit Bolla, das glaub ich noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde, landete er immerhin schon einmal auf der Longlist des Dublin Literary Award.