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Benutzername: 
Kata_____Lović
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Bremen

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Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 05.02.2025
Getäuscht
Felsen, Juri

Getäuscht


ausgezeichnet

Juri Felsen, dass dieser Name und sein Werk dem Vergessen einheim fielen und er nicht neben Nabukov oder Proust etwa in Erinnerung blieb, liegt wahrscheinlich daran, dass er in Auschwitz ermordet wurde und vielleicht auch, dass er trotz Emigration die russische Welt und Sprache nie verließ. Der "russische Proust" ist ein Stempel auf seinem Werk, der sicherlich prägnant hängen bleibt, zumal GETÄUSCHT in Paris spielt und auch Felsen in Paris lebte. Doch las ich den nun durch Rosemarie Tietze ins Deutsche übertragenen Roman mehr als Antwort auf die großen Erzählungen der gefallenen Frauen der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Madamé Bovary kam mir in den Sinn, Effi Briest und vor allem Anna Karenina. Eine Gefallene ist die selbstbestimmte von dem namenlosen Tagebuchschreibenden heimgesuchte Ljolja aber nicht. 50 Jahre später als Anna Karenina lässt sie sich seine Gesellschaft gefallen, betont Freundschaft, windet sich auch aus dieser, hat einen launigen geliebten Künstler, einen langweiligen Ehemann hinter sich und vor den Augen des sich als erhabenen Künstler verstehenden Tagebuchschreibers beginnt sie eine Liaison mit einem einfältigen Geschäftsmann in der Pariser Diaspora, während ihre Tante aus Berlin über sie wacht. 50 Jahre später nach Wronskij verweilt der russische Adel nach der Revolution im Exil, umspielt die erworbene Armut mit Anmut und kompensiert sie mit großen sentimentalen Gefühlen. GETÄUSCHT ist diese Sehnsucht nach dem nach Hause kommen in die Arme einer schönen, klugen und schlagfertigen russischen Frau, die ebenso wenig erreichbar bleiben soll wie das vergangene russische Kaiserreich. Obsessiv, selbstmitleidig, nach männlichen Idealen suchend, schreibt sich die Figur durch GETÄUSCHT und lässt immer wieder Lücken, die stolpern lassen, Zweifel sähen, dass die liebestolle Sicht des Schreibenden so hinhaut oder er greift die Zweifel gleich direkt auf und schreibt auf sich herab. Er wäre gern ein charismatischer Liebhaber, manchmal fühlt er sich auch so, wenn er die attraktive und eigensinnige Ljolja umwirbt, insbesondere wenn er zuhause sitzt und wie ein Besessener alle Szenen der Begegnungen nachvollzieht, seinen Gedanken nachhängt über die Liebe, über seine Rivalen und über die Angebetete. Wie attraktiv er von außen betrachtet ist, bleibt der Phantasie der Lesenden überlassen, vielleicht ist er kein Incel, zumal er zwischendurch zwei Geliebte hat, die ihn aber kalt lassen, gerade weil sie ihm nahe kommen, denn das scheint der Figur bewusst, wenn Ljolja es wagen würde, sich außerhalb seiner Phantasie auf ihn einzulassen, würde sie fallen und seine Liebe erkalten. Wären da nicht die Lücken, die Felsen gekonnt setzt in den Tagebucheinträgen, die Zweifel und Distanz, die die Figur und das Publikum immer wieder auf die Frage zurück bringt, was Täuschung ist, wo die Figur sich bewusst und wo sie sich unbewusst etwas vormacht, ob sie überhaupt auf Erfüllung aus ist, oder sich in der Rolle der selbstmitleidigen, zu Bindung und Kontakt kaum fähigen Figur nur allzugut gefällt. Ljolja, eine nicht nur aus heutigem Blick selbstbestimmte, kluge und mit der Liebe spielende Frau, kann sich nicht entscheiden, ob sie sich der großen überhöhten schwierigen Liebe hingeben möchte oder sich in ihre beständige Sicherheit und nährende Form, die aber die Unzulänglichkeit respektieren muss. Doch spielt dabei der Erzähler keine Rolle, ist es der ferne Künstler Sergej, der sie überhöhte und fallen ließ, dann wieder zu sich rief, jedoch kein beständiges Glück bot, sowie ein verlassener verlässlich aber langweilender Ehemann und ein vom Erzähler als einfältig beschrieben und empfundener Rivale, der vor seinen Augen Ljolja nahe kommt, was den Erzähler in Eifersucht, Kampf, Rückzug, Erkalten und erneute Hitze bringt. Andere Frauen erleben ähnliches mit ihm, bei diesen ist er souverän und kalt, wie es vielleicht Ljolja bei ihm ist, weil, so drängt sich ihm auf, das fieberhafte Verliebtsein die Wahrnehmung trübt und schärft. Es steckt noch vieles mehr in diesem auch in Form und Sprache fast zeitlos fieberhaft fließenden und dennoch kalkuliert prazise gesetzten Roman, der im Aufbau streng einer Dreiaktstruktur eines Dramas folgt. Und ich stimme Dana Vowinckel mit ihrem begeisterten Nachwort zu, dass GETÄUSCHT etwas zeitloses hat oder hochaktuell wirkt, dass Felsen mehr zu erzählen weiß über fragile Männlichkeit und darin versteckte Feindseligkeiten gegenüber Frauen als aktuelle Spielarten. Dass sich der Roman trotz der Platzierung in einer russische Diaspora, in der der Autor selbst verkehrte nicht als Emigrationsroman liest, sehe ich etwas anders. Ob es eine jüdische Geschichte ist, verneint Vowinckel entschieden, wenn auch die Geschichte des Autors und seine Vergessenheit damit zu tun haben. Große begeisterte Empfehlung von mir.

Bewertung vom 05.02.2025
Nachtgäste
Velickovic, Nenad

Nachtgäste


ausgezeichnet

Wenn dir Radio Sarajevo von Tijan Sila gefallen hat, dann ist vielleicht auch NACHTGÄSTE etwas für dich. 30 Jahre ist es her, dass der Krieg in Bosnien beendet wurde, die Belagerung von Sarajevo, die mit 1425 Tagen als die längste Belagerung einer Stadt im 20.Jahrhundert in die Geschichte eingegangen ist, dauerte sogar offiziell bis zum 29. Februar 1996. Nenad Veličković ist mit NACHTGÄSTE so nahe dran, wie es nur möglich ist, schrieb der Sarajevoer sein Debüt doch in der Zeit der Belagerung und veröffentliche es auch sofort. 1997 erschien es in der Übersetzung von Barbara Antkowiak in dem DDR-Verlag Volk und Welt, der 2000 im Luchterhand Verlag aufging. Zum 30. Jahrestag des Daytoner Friedensabkommens, legt der österreichische Verlag Jung & Jung den Klassiker der Bosnischen Kriegsliteratur noch einmal auf.
Keine Angst vor der Lektüre, natürlich ist Krieg und Belagerung düster, doch balanciert Veličković die Schrecken des Krieges mit Humor, Absurditäten, Liebe und einem offen-naiv-entlarvenden Blick einer 18jährigen aus.

Maja hat sich vorgenommen ein Buch zu schreiben, oder Tagebuch, nein es soll ein Buch, ein richtiger Roman werden. Ihr Vater ist Museumsdirektor, ein Intellektueller, und ihre Mama liebt die Esoterik, vegetarische Experimente, Yoga, Vorhersagen und alle anderen um sich herum. Majas Halbbruder Davor, dessen Vater in Belgrad lebt, erwartet mit seiner leidenden Sanja ein Kind und sein Dalmatiner Sniffi folgt ihm überall hin. Oma ist Jüdin, sie sieht sehr viel älter aus, als sie ist, benimmt sich aber um so jünger, ihr geheim gehütetes Köfferchen macht alle vor Neugier wahnsinnig, bald wird sie bestimmt ihr Leben aushauchen. Als die Belagerung beginnt, werden die Stadtviertel abgesperrt und aufgeteilt, den Kontakt zu ihren Freundinnen verliert Maja, auch ihren serbischen Lehrer kann sie nichts mehr fragen, die Telefone sind tot, auf die andere Seite oder gar raus kommt niemand mehr ohne Geld oder Connections. Da das Museum einen Keller hat, ziehen sie alle ins Museum.

... (1|2) Der Pförtner Brčko und sein Freund Julio bekommen auch Platz, während draußen die Granaten fliegen, serbische Paramilitärs aus den Bergen um Sarajevo ins Tal auf alle schießen, die auf der falschen Seite gelandet sind, die Lebensmittel rationiert werden und eine unübersichtliche Mangel- ubd Tauschwirtschaft entsteht.
Wer was ist und warum gekämpft wird, versucht Maja zu verstehen und kommt den Gerüchten und Erklärungen nicht hinterher. Der Haufen im Museum widersetzt sich auch Gewissheiten und eindeutigen neuen Identitäten, ganz anders als die ebenfalls geflüchtete und ihre Religion neuentdeckende Fata mit ihrem Junez, die Maja aufgrund ihres Eifers und ihrer Neugier Mrs. Flintstone nennt. Während Davor vorspielt, weiter beim Radio zu arbeiten, steigt Junez in den Brigaden auf und irgendwann Davor aufs Dach, dass er kämpfen soll. Brčko und Julio schlawinern sich während dessen durch, bringen allerhand, doch bevor es genutzt werden kann, ist es schon wieder weitergetauscht. Was wohl in Omas Köfferchen ist? Wird das Baby auf die Welt kommen? Schaffen es Brčko und Julio, in einem selbstgenähten Heizluftballon aus Sarajevo fliehen? Oder Davor zu seinem Vater nach Belgrad irgendwie mit Hilfe der UNPROFOR? Kommt Sanja mit? Kann Mama ihre vegetarische Kost durchhalten und die anderen von Seitan und Algen überzeugen? Und die wichtigste Frage, wird Maja es schaffen, einen Roman zu schreiben?
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... (2|2) Auch wenn vieles heiter im Buch ist, macht es sich nirgends lustig. NACHTGÄSTE zeigt eher, wie Normalitäten sich verschieben, wie der Horror eines Krieges in den Alltag einkehrt und wie Menschen in ihrem Überlebenswillen phantasievoll und erfinderisch werden. Die gleichbleibende Spannung und der Versuch aus ihr mit spektakulären Ausbrüchen zu entfliehen mit der gleichzeitigen Angst vor einem herunterfallen aus der Ballance, spiegelt die sich ziehende Belagerungssituation. Ihre Auswirkungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebebe deuten sich zwar schon an, können aber noch nicht vorweg genommen werden. NACHTGÄSTE ist sehr lesenswert trotz kleiner gramatikalischer Umständlichkeiten und Schreibweisen in der Übersetzung, die den Lesefluss aber nicht störten.

Bewertung vom 05.02.2025
Monique bricht aus
Louis, Édouard

Monique bricht aus


sehr gut

Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den neuen Roman von Édouard Louis gelungen und gehaltvoll finde oder eitel und auf Affekte aus. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann für ein Schwanken zwischen beiden Polen oder für ein sowohl als auch. Ein kalkuliertes Aufpumpen von Affekt und Bedeutung steht neben in die Tiefe gehenden Gedanken zu Familie, Frauenrollen, Klasse, Mutterschaft, Gewalt und Befreiung. Nach DIE FREIHEIT EINER FRAU ist dies Louis zweiter Roman, der Trennung und Aufbruch seiner Mutter zum Thema macht. MONIQUE BRICHT AUS spielt andere Variationen durch und ist verknappt auf eine gute Art. Louis hinterfragt darin immer wieder Figuren des Helfens, der Möglichkeiten einer Arbeiterin, der Wiederholung, der distanzierten Nähe durch den Klassenwechsel, der Rollen von Mutter und Sohn, von Geld und dem schamvollen Unwillen, ihre Not wieder erkannt zu haben. Zur gleichen Zeit kann der Roman als eine Art Mimikry-Autofiktion gelesen werden, die den Eindruck erweckt, Gefühle und Bedeutung zu imitieren, anstatt sie zu erforschen. In seiner Offenbarung der Brüche und Widersprüche wirken die Ausführungen zu kurz, manchmal glattgeschmirgelt, sich an den großen immer wieder erwähnten Freund Eribon orientierend und bei den tieferen Fragen und Widersprüchen ausgebremst. Mehr Raum hätte sich Louis nehmen können, ist MONIQUE BRICHT AUS mit 150 recht groß und luftig gesetzten Seiten eher eine Novelle als ein Roman. Aber spannend, wenn ein Text beim Lesen das alles gleichzeitig auslösen kann, Sympathie, Antipathie, mitgehen, nicht folgen, Ruhe, Unruhe, Anregung, Frustration, Täuschung und Enttäuschung. Für den konkreten Inhalt sei auf den Klappentext oder andere Texte zu MONIQUE BRICHT AUS verwiesen. Es verhandelt eine Befreiung seiner Mutter aus einer Gewaltbeziehung und fokussiert sich auf sein starkes Bedürfnis daran mitzuwirken in Distanz und später Literatur daraus zu machen.

Bewertung vom 05.02.2025
Der Anruf
Kadare, Ismail

Der Anruf


ausgezeichnet

"»Was hältst du von Mandelstam?« Boris Pasternaks Antwort »Wir sind verschieden, Genosse Stalin«" | 15

Der berühmte Anruf von Stalin in 1934 ist das Zentrum des Romans des bekannten albanischen Schriftstellers Ismail Kadare, der 2018 posthum in Albanien veröffentlicht wurde und nun in der Übersetzung von Joachim Röhm auch dem deutschsprachigen Lesepublikum vorliegt.
Der russisch-jüdische Dichter Mandelstam fiel kurz vor dem berühmten Anruf in Ungnade und starb später im Gulag. Sein Freund und Kollege, der berühmte Boris Pasternak, der Jahre später Doktor Shiwago erschuf, hat ihn verraten, oder nicht? War das Verrat? Hatte Pasternak Angst? Was wurde in diesem berühmten dreiminütigen Telefonat zwischen Stalin und Pasternak gesprochen, was gedacht und was verstanden?

Ganze dreizehn Versionen findet der albanische Schriftsteller, das Alterego Kadares, der sich sein Leben lang mit den Ereignissen im fernen Moskau von 1934 beschäftigt. In seiner Moskauer Zeit stieß er auf die Anekdote des Telefonats, 1976 verarbeitete er sie versteckt in einem Roman. Genosse Stalin und Onkel Enver gingen längst getrennte Wege, Albanien wendete sich von der Sowjetunion ab. Und doch rückt Kadare Stalin und Hoxha stets nahe zueinander. Mit seiner Zuwendung und seinen Untersuchungen der mystisch aufgeladenen sowjetischen Anekdote der Literaturgeschichte erzählt er ebensoviel über seine eigene Situation als Dichter und Denker im albanischen totalitären Regime, wie über das sowjetische Regime und das historische Ereignis selbst. Im Roman von 1976 etwa ruft Hoxha Kadare an, nicht Stalin Pasternak. Mit Zensur im Nacken und im Schreiben wird die versteckte Anspielung auf Pasternak durchgewinkt, während andere Literaten dem Regime zum Opfer fallen.

Dichtung und Macht verhandelt Kadare zwischen den Zeilen und Fronten, sich fragend, welche Möglichkeiten Dichtern offen stehen, sich gegen den Staat, gegen offen verfolgte Dichterkollegen zu stellen "oder neutral bleiben" (15) ebenso wie die Frage, was diese Situation mit dem Dichter, der Dichtung und der Rezeption macht. Wie Erinnerung sich verformt und unzuverlässig bleibt, wie Beziehungen, das Politische und historische Ereignisse das sagbare verformen, exerziert Kadare in seiner Untersuchung des berühmten Telefonats durch und entlastet dabei fast nebenbei all jene Dichter, die sich mit den Mächtigen in totalitären Regimen arragieren. Nicht nur angesichts des historisch viel beachteten Telefonats, sondern auch wegen der viel und kontrovers diskutierten Rolle des Autors selbst mit seiner Kritik und Nähe zum Hoxha-Regime, ist DER ANRUF ein spannendes Stück Literatur.
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"Die Geschichte hat drei Protagonisten, Pasternak, Stalin und Mandelstam... Dass hier etwas nicht zusammen passt, ist auf den ersten Blick erkennbar und sicherlich einer der Gründe, wenn nicht sogar der Hauptgrund dafür, dass man sich nach fast einem Jahrhundert wieder verstärkt mit dem Ereignis beschäftigt." |61
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" Immer endet die Geschichte damit, dass er den Hörer auflegt, aber es hat noch keiner wirklich Licht in die Sache gebracht. Die Fragen bleiben. Was ist tatsächlich geschehen? Was haben Stalin, Pasternak und womöglich der Tote selbst zu verbergen?" 61
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Die Geschichte hat fünf Protagonisten Pasternak, Stalin, Mandelstam, Hoxha und Kadare. Licht in die Sache ist nur in Grenzen gebracht. Die aufgeworfenen Fragen bleiben.

Bewertung vom 15.05.2024
Mein Leben unter den Großen
Nielsen, Madame

Mein Leben unter den Großen


sehr gut

Ich bin Fangirl von Madame Nielsen seit »Lamento«. Auch mit »Der endlose Sommer« hat mich die Kunstfigur und Autorin Nielsen mit ihrer fließenden den Großenwahn streifenden, manisch- leidenschaflichen Literatur überzeugt, die gespickt ist mit Distanz schaffendem, sich dabei nicht allzuernst nehmendem Humor.

»Nein man kann aus den Erfahrungen anderer Menschen nichts lernen. Das Leben ist fürchterlich, aber wenn man hinterher davon erzählt, ist es oft doch recht rührend und lächerlich.«148

Mit »Mein Leben unter den Großen« gesellt Madame Nielsen sich unter zwölf Größen der dänischen Literaturszene und erschreibt sich selbst den Thron. In dreizehn Kapiteln begegnet Madame den anderen Großen oft flüchtig, anekdotenhaft, unterhaltsam und plaudert nebenbei über sich. Nielsen spielt dabei mit Dichtung und Wahrheit, sprenkelt Zweifel in die wahrhaftig wirkenden Begegnungen, die sich wie erwartet leichtfüßig, temporeich, erheiternd und manchmal auch geschmacklos lesen, ja WTF-Momente bieten die Erzählungen auch.
Wenn es auch ein noch größerer Genuss wäre, alle Größen zu kennen. Aber auch für Nichtauskennende der dänischen Literaturszene wir mich, ist »Mein Leben unter den Großen« ein kurzweiliges Vergnügen.

Bewertung vom 05.05.2024
WIR KOMMEN
LIQUID CENTER

WIR KOMMEN


sehr gut

Es ist eine bestechende Idee. 18 Autor:innen schreiben zusammen ein Buch über S.3xualität, Begehren und Alter, anonym und kollektiv. Auch im Prozess des Schreibens ist nicht rückverfolgbar, wer welches Thema aufgeworfen, welche Szenen beschrieben, ob sie selbst erlebt oder fiktiv sind, wer und wie viele den Faden weiter gesponnen haben und wie der Austausch ohne persönliche Identifikation der Schreibenden genau gelaufen ist.

Herausgekommen ist ein lesenswerter, facettenreicher, intimer, lustiger, diskussionswürdiger, nachdenklich machender und fließender Roman, der sich wie ein in Formen gegossener Gesprächsfluss liest. Das Kollektive, die vielen Stimmen und Perspektiven finden einen gemeinsamen Rhythmus. Es gibt wenig Reibung, die Beiträge sind thematisch collagiert, oft mit kurzen Passagen, die in einen ermutigenden Austausch münden oder zu den nächsten Themen führen. Es gibt sich Raum nehmende Szenen, Zweiergespräche, ein breiteres Teilen von Erfahrungen, die Thematisierung von Scham, inneren Widersprüchen, Steckenbleiben, Weiterkommen, Lust und Unlust, schmerzhafte Erinnerungen oder Passagen, die sich einfach hineinwerfen und weniger Gesprächsecho zum Hallen bringen.

Initiiert und editiert wurde der kollektive Text durch LIQUID Center, ein feministische Literaturkollektiv, das sich weiter entwickelte aus dem Kollektiv Writing with CARE | RAGE. Verena Günther, Elisabeth R. Hager und Julia Wolf haben 15 weitere weiblich und queer gelesene Autor:innen eingeladen, von denen 13 in der Veröffentlichung genannt werden möchten.

Ich hoffe, ihr macht und geht noch weiter Lene Albrecht, Ulrike Draesner, Sirka Elspaß, Erica Fischer, Simoné Goldschmidt-Lechner (sgl), Olga Grjasnowa, Verena Güntner, Elisabeth R. Hager, Kim De l'Horizon, I. V. Nuss, Maxi Obexer, Yade Yasemin Önder, Caca Savić, Sabine Scholl, Clara Umbach, Julia C. Wolf und ihr zwei Autor:innen, die anonym bleiben wollen.

Bewertung vom 05.05.2024
Vierundsiebzig
Othmann, Ronya

Vierundsiebzig


ausgezeichnet

»Versuche ich zu schreiben, ist es als würde ich einzelne Stücke zusammen nähen. Schreibe ich über das Lachen meines Vaters, wenn er vom türkischen Gefängnis erzählt, schreibe ich über meinen Lachen, wenn eine Freundin mich fragt, wie die Situation für die Êzîden gerade sei, bringe ich das eine mit dem anderen in Verbindung... Ich trenne die Nähte wieder auf und fange von vorne an.«
|32f

»Vierundsiebzig« nimmt die Welt auf von einer Frau, der Protagonistin, des Autorin-Ichs, das voll ist von kurdisch-êzîdischen Geschichten, das sich kreist um den vierundsiebzigsten G3nozid an der êzîdischen Bevölkerung in Shingal.
Von einer Figur, die sich identifiziert mit ihrem êzîdischen Vater, seiner brüchigen Identität, in Abstand und Nähe, in einem êzîdischen Blick. Von einer Figur, die die Taten von IS-Angehörigen benennt und keine Nähe sucht zu Täter:innen, die sich doch beschäftigt mit der angeklagten Jennifer W., die ihren Blick wendet zu den Opfern wie Frau B. und Reda, erst 5. Von einer Figur, die reist, spricht, besucht, recherchiert, die sich ihr Verständnis, ihre Verständigung und ihr permanentes reflektieren des eigenen Dazwischenstehens erschreibt, in einem verdichteten Drang.
Von einer Autorin, Lyrikerin, Journalistin, Deutschen, Ězîdin, Denkerin und Kämpferin die einen hybriden Text erschafft, der fließt und immer wieder leise wird, verstummt, nach Worten sucht, dessen zentrales Moment die Sprachlosigkeit bleibt. Von einer Geschichte, die sich nicht klassisch aufbaut, die sich anreichert, Schicht um Schicht. Von einem Text, der fast überquillt, der einen repetetiven Rhythmus findet, mit wiederkehrenden Motiven und einem Kreisen, das untypisch ist für 500 Seiten. Von einem Langgedicht in Prosaform, einer journalistischen, dokumentarischen (Auto)Fiktion, einem innovativen Text, der Raum braucht und sich legen muss, der scheinbar das Wissen und den Verstand anspricht, sich jedoch tiefer zu verankert sucht.
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Höre ich das Wort Êzîden, denke ich an Êzîden, denke ich an Ronya Othmann, denke ich an »Vierundsiebzig«, denke ich an Shingal, denke ich Reda, denke ich an Êzîden und das ist mehr, als eine Story, ein Kommentar, ein Artikel, ein Bericht, eine Reportage oder eine sachbuchartige Veröffentlichung zu erreichen vermag. Ich bin gespannt, ob es für den Deutschen Buchpreis eingereicht wird und wie weit es da kommen könnte.

Bewertung vom 05.05.2024
Der Köder
Tonks, Rosemary

Der Köder


ausgezeichnet

Mit Rosemary Tonks hat der Märzverlag eine Autorin ausgegraben, die eine ähnlich interessante Lebensgeschichte hat, wie die Fotografin Vivian Maier. In den 60er Jahren war Tonks eine Nummer im Literaturbetrieb. Sie machte sich einen Namen als Lyrikerin, Romanautorin und Kritikern, aber in den 70er Jahren löste sie sich in Luft auf wie Cheshire-Cat. Der Legende nach wurde Tonks fundamentale Christin. Sie lehnte jede Literatur außer der Bibel ab, verbrannte ihre Manuskripte und sorgte dafür, dass ihre Literatur nicht mehr zu finden war. Wenn sie ein veröffentlichtes Buch von sich fand, soll sie es verbrannt haben. Eine traumatische Kindheit und daraus resultierende Bindungsstörungen werden der Autorin angedichtet, die als Kind von Kolonialisatoren im Motherland England in Internaten aufwuchs. Ihre Karriere, ihre für die Zeit ungewöhnlich selbstbewußt-unangepasste Art, die Scheidung, ihre exzessive Literatur, ihr Hang zu Spiritualität, die Hinwendung zum fundamentalen Christentum, die Zerstörung aller aus der kolonialen Herkunft ihrer Familie ererbten Raubkunstobjekte und ihre kontinuierliche Verweigerung von Interviews oder Neueveröffentlichungen, lesen sich ebenso spannend, wie der Roman selbst, der 1968 herauskam und 2022 mit viel Aufmerksamkeit posthum neu veröffentlicht wurde, da nun ihre Hinterbliebenen zustimmten.

Das 40seitige Nachwort des Verlegers Neil Astley, der immer wieder versuchte an Tonks heranzukommen, umkreist die Legendenumwobene Autorin. Fast möchte ich dazu raten, es vor dem Roman zu lesen, denn es unterstreicht die Besonderheit der Autorin und ihres Schaffens. Doch das Werk Tonks steht für sich selbst. »Der Köder« ist ein heiteres Lustspiel mit giftigen Spitzen. In feinen Teegesellschaften, Opernabenden und Empfängen Londons lokalisiert, bewegt sich »Der Köder« zwischen »Menschen im Hotel« und der komischen Verdi-Oper »Falstaff«. Die eigenwillige Protagonistin Min tut alles für ihre Zerstreuung. Ihren Ehemann hält sie für so unscheinbar, dass sie versehentlich das Licht ausmacht, als sie den Raum verlässt, dabei sitzt er noch am Tisch und isst. Sie wettstreitet mit anderen Frauen um die besten Liebhabergeschichten, ist verknallt in den geschiedenen Billy, den sie auch erobert, während ein berühmter Opernsänger, der Kugelfisch, sie gekonnt umwirbt. Doch Min weiß noch nicht, ob sie selbst lieber die Angel auswirft oder gefangen werden will. Im verhalten-exzessiven Sound der 60er Jahre hält »Der Köder« die Spannung zwischen konservativem Gefangensein und dem selbstbewußten Ausbruch einer nach Zerstreuung suchenden Frau. »𝘋𝘦𝘳 𝘱𝘦𝘳𝘧𝘦𝘬𝘵𝘦 𝘈𝘱𝘦𝘳𝘪𝘵𝘪𝘷. 𝘋𝘪𝘦𝘴𝘦𝘴 𝘉𝘶𝘤𝘩 𝘸𝘢̈𝘳𝘮𝘵 𝘷𝘰𝘯 𝘪𝘯𝘯𝘦𝘯, 𝘦𝘴 𝘮𝘢𝘤𝘩𝘵 𝘣𝘦𝘴𝘤𝘩𝘸𝘪𝘯𝘨𝘵, 𝘴𝘰𝘳𝘨𝘦𝘯𝘭𝘰𝘴, 𝘶𝘯𝘥 𝘴𝘦𝘩𝘳, 𝘴𝘦𝘩𝘳 𝘷𝘪𝘦𝘭 𝘨𝘭𝘶̈𝘤𝘬𝘭𝘪𝘤𝘩𝘦𝘳« behauptet The Times und ich behaupte, dass das von Barbara Kalender gestaltete Cover noch glücklicher macht, es ist nicht so instagrammable, wie es sein könnte, aber wenn ihr im Buchladen seid, fragt doch mal danach, fasst es an und lest bei der Gelegenheit rein.

Bewertung vom 05.05.2024
Eine Arbeiterin
Eribon, Didier

Eine Arbeiterin


ausgezeichnet

»Das ist also ihr Leben gewesen, dachte ich: das ist ihr Leben gewesen und das ist ihr Alter, das Leben und das Alter einer Arbeiterin. Noch wusste ich nicht, dass ich in dieser Aufzählung bald ein drittes Wort würde hinzufügen müssen.« |211

Worüber schreibt Eribon in »Eine Arbeiterin«? Über seine Mutter, eine Arbeiterin, die in einem Waisenhaus aufwuchs, die in einer Fischfabrik putzte, die mit einem cholerischen Mann lebte, vier Jungen aufzog, sich spät noch einmal verliebte und schließlich von ihren Söhnen in ein bezahlbares Pflegeheim zum Sterben gebracht wurde? Über sich, den erfolgreichen Soziologen, den schwulen Intellektuellen im Zentrum Paris, der in seinem Denken in seiner neuen geistigen Familie ein Band zu seiner Herkunft knüpft, der dabei die Sprache seiner Klasse nicht mehr spricht? Über Widersprüche, Differenzen und Verbindungen einer Mutter und eines Sohnes, der aufhört jemandes Sohn zu sein, der sich seiner Herkunft bewußt ist, sich ihrer schämte und nun fremd geworden ist? Über einen Klassenflüchtigen, der sich ein Klassenbewusstsein der Zurückgelassenen wünscht und auf ein sich fügen, auf rassistische und Geschlechterstereotype trifft, gegen die er zu reden müde geworden ist? Über die Erinnerungen des eigenen Werdeganges, über die Gefühle, die das auslöst und die Neuverortung, die beim Sterben der Eltern im Raum steht?

Ja, diese Fragen sind Ausgangs- und Bezugspunkt für die "Autosoziographie" Eribons, die sich als Fortsetzung von »Rückkehr nach Reims« liest. Jedoch wäre »Eine Arbeiterin« kein französisches Buch, wenn es nicht danach streben würde, die sozialgesellschaftliche Dimension von Gefühlen und Beziehungen zu erkunden, im Individuellen das Verallgemeinerbare zu suchen und so einer Psychologisierung und einer um sich selbst kreisenden Autobiographie zu entgehen. Die Institutionalisierung der Pflege der Alten, die Rationalisierung und Durchkapitalisierung, thematisiert Eribon genauso wie Fragen der Entfremdung und Fremdbestimmung des Lebens einer Arbeiterin im Verlauf. Wie sie sich sieht und verhält steht im Bezug zu gesellschaftlichen Stimmungen, Klasse und Geschlecht, die einmal dazu führten, sich gewerkschaftlich zu engagieren und Fragen zu stellen. Doch meist begegnet dem Klassenaufsteiger Eribon in seiner Mutter Fügung, Rückzug, Fernsehen, Supermarktromane, Schweigen, die Zustimmung von Populismus, der die Entfremdung und das Französischsein über alles stellt und Rassismus, der ihr die Möglichkeit gibt, sich zu empören und zu fordern. Das Verhältnis zum Sterben und zu den Sterbenden, die Frage wer die Stimme und ein Bewusstsein für ihre Belange beanspruchen kann, wenn sie es selbst nicht mehr können, wirft Eribon ebenso auf wie die Ambivalenz, dass die Betroffenen der Herkunftsklasse die von Eribon für wesentlich erachteten Analysen und Schriften von Simone de Beauvoir etwa, von Michel Foucault, von Norbert Elias, Bohumil Hrabal, Danilo Kiš, Annie Ernaux, Pierre Bourdieu und einigen anderen Intellektuellen nicht lesen werden, erst Recht nicht im Alter.
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Eribon traut sich mit »Eine Arbeiterin« die Verfertigung unfertiger Gedanken und diese mit Theorie und Analyse zu vermengen. Er macht sich damit angreifbar, aber es sich und den Lesenden keineswegs einfach. Es sind die Fragen, die wertvoll sind und die Richtungen der Suche nach Antworten, denn feste Aussagen liefert er nicht, auch das macht »Eine Arbeiterin« lesenswert.

Bewertung vom 05.05.2024
Große Dämonenkönige
Giorno, John

Große Dämonenkönige


ausgezeichnet

»Große Dämonenkönige sind Menschen, die von ihrem großen Ego kontrolliert werden, aber manchmal inspiriert ihr Ego sie doch dazu, die leere wahre Natur des Geistes zu verwirklichen.« |316

Mit »Große Dämonenkönige« hat der Performance- und Wortkünstler John Giorno sich selbst und seinen Weggefährten der queeren Avantgarde New Yorks der 60er bis 80er Jahre ein Denkmal gesetzt. Mit großem Ego und durchscheinender Ambivalenz schafft und befördert er so Legenden über sich und die Szene, in der er sich bewegte. Dabei nehmen seine romantischen und s3xuellen Beziehungen zu Künstlergrößen wie etwa Warhol, Rauschenberg, Johns oder Burroughs und die Vermischung mit der Kunst und dem Geschäft den größten Raum ein. Aber Giornos Memoir ist mehr als Gossip. Es ist wie sein Werk exzessiv, erschöpfend, gehetzt, unter Druck, leer, temporeich, repetitiv und impulsiv. »Große Dämonenkönige« folgt der Spannung eines Hin und Hers von Ego Boost zum Absturz und Zusammenbruch, bis Giorno im Buddhismus zur Ruhe findet. Das Memoir lässt nachdenken über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen, ihr Brechen, die Entstehung von moderner Kunst, ihrer Verbindung zu Queerness, S3x, Drogen und Depressionen, den Mäzenen, dem im Kontakt und im Gespräch bleiben müssen mit den richtigen Menschen zur richtigen Zeit, dem aufgenommen und fallengelassen werden, der Betäubung, der Suche und dem Finden. Die Lektüre berauscht und erschöpft, sie nervt und weckt mehr Interesse an moderner Kunst, besonders im Spannungsfeld von Aktivismus, Macht und Geld.

»Poesie ist Showbusiness« (|279) verkündete er selbst. Giorno war Künstler und Aktivist, Drogenliebhaber und Buddhist, der die Promiskuität und sein Schwulsein politisch sah und immer öffentlich zeigte, als es noch viele versteckten. »Poem Projects« nannte er seine Kunst und ich weiß nicht, ob sie mir gefällt. Lyrik vermarktete er wie Pop Art, aber das ist nicht das Interessante an Giorno. Genau wie die Produkte der Pop Art selbst nicht das Interessante an Pop Art sind. 2019 ist John Giorno gestorben... Giorno ist tot, doch mit diesem Memoir lebt der Dämonenkönig mit seinen Weggefährten weiter. »Große Dämonenkönige« ist nicht nur für Freund:innen der modernen Kunst-, der queeren und der Pop Geschichte eine spannende Lektüre.