Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Zauberberggast
Wohnort: 
München

Bewertungen

Insgesamt 164 Bewertungen
Bewertung vom 03.11.2024
Tage einer Hexe
Dimova, Genoveva

Tage einer Hexe


sehr gut

“Sie ging zum Fenster. Die Vorhänge waren zurückgezogen und gaben den Blick auf die verschneite Straße frei. Auf dem Dach gegenüber glitzerte etwas. Der Schatten einer großen Frau duckte sich hinter den nächstbesten Schornstein. Nur der Rauch ihrer Pfeife kräuselte sich noch erkennbar im Wind.” (Genoveva Dimova: Tage einer Hexe. Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel, Klett-Cotta, S. 386)

Die Handlung spielt in einer fiktiven Version eines slawischen Landes (die Autorin wurde in Bulgarien geboren) während der zwölf “Schmutzigen Tage”, beginnend in der Silvesternacht, die den Start dieser Tage im Roman markiert. Bei uns gibt es ja die Raunächte, die von Weihnachten bzw. in der heidnischen Tradition von der Wintersonnenwende bis ca. zum 6. Januar andauern. Beide Zeiten haben gemeinsam, dass man ihnen nachsagt, der “Schleier zwischen den Welten” würde dünner werden und Magie in der Luft liegen. In Chernograd, einem ummauerten Ort, der aus Schwarzweiß-Tönen, Rauch, Traurigkeit und Magie zu bestehen scheint, treiben während der "Schmutzigen Tage” waschechte Monster und Geister ihr Unwesen: Upire, Karakonjule, Ruba, Rusalken, Samodiven, Varkolaks… Um die Stadt vor diesen Monstern zu beschützen, braucht es Magie und die wird dort von Hexen ausgeübt. Bzw. die Hexen versorgen die “normalen” Chernograder*innen mit Amuletten, Talismanen, Zaubertränken und anderen magischen Artefakten zur Verteidigung gegen die bösen Kreaturen.

Unsere Protagonistin Kosara Popova aus Chernograd ist eine Feuerhexe. Aber dummerweise verzockt sie ihren Schatten in der Neujahrsnacht an einen Fremden, weil er sie vor dem Zmey, dem Zar der Monster, beschützen soll. Welche Vorgeschichte Kosara mit dem Zmey hat, erfahren wir erst nach und nach. Der Fremde teleportiert Kosara nach Belograd, die Stadt auf der anderen Seite der Mauer, in der alles anders und vor allem positiver ist als in Chernograd. Wie es Roxana, eine andere Hexe aus Chernograd formuliert: “Alles ist so neu und aufgeräumt und sauber. Und die Leute sind so nett. Das ist irgendwie unheimlich. Warum lächeln sie die ganze Zeit? Was ist so verdammt lustig? Was haben sie zu verbergen?” (S. 68) Der erste Teil des Buches besteht aus dem Spiel mit der dichotomen Topographie der beiden Städte: Chernograd vs. Belograd. Aber obwohl Belograd so viel angenehmer und bunter ist als Chernograd, weiß Kosara, wo sie hingehört und vor allem, dass sie als Hexe ohne Schatten nicht überleben kann…

Der Plot dieses Fantasy-Romans, der den ersten von bislang zwei Teilen markiert, ist actionreich und spannend. Wir fiebern mit Kosara mit, wie sie versucht, den Zmey zu besiegen und ihre Magie zurückzuerobern. Dabei treffen wir nicht nur die blutrünstigen Monster und Geister, sondern auch allerlei schräge menschliche Gestalten an. Wir hängen auch das ein oder andere Mal auf dem Friedhof ab, denn viele der Monster sind nichts anderes als Zombies. Bei allem Gruselfaktor, der hier zum Tragen kommt: Ein bisschen “Romantasy” ist auch dabei, denn in Belograd lernt Kosara den schmucken Bullen Able kennen, wobei es der ansonsten einsamen (mal vom Geist ihrer Schwester abgesehen) Feuerhexe etwas wärmer ums Herz wird. Das alles ist gewürzt mit einer ordentlichen Portion Humor und Augenzwinkern.

Besonders hervorheben möchte ich die wirklich beeindruckend “herbeigeschriebene” winterliche Atmosphäre, die dieser Roman von der ersten Zeile an ausstrahlt. Man möchte sich als Leser*in sofort mit einer Decke und einem Punsch/Tee einkuscheln und noch tiefer in die fantastisch-magische Welt eintauchen, die Genoveva Dimova sich ausgedacht hat.

Wer actionreiche Fantasy-Geschichten mag, die etwas gruselig sind und dabei oft ins Skurrile und Groteske gehen, eine tolle winterliche Atmosphäre aufweisen und eine starke, etwas “andere” (weibliche) Protagonistin haben, die auch dem ein oder anderen Love Interest nicht abgeneigt ist, der ist mit “Tage einer Hexe” an genau der richtigen Adresse. Zum absoluten Mega-Highlight hat es bei zwar nicht gereicht, aber es ist ein sehr unterhaltsamer Fantasy-Roman, der mit Sicherheit viele begeisterte Leser*innen finden wird.

Bewertung vom 06.10.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


ausgezeichnet

Sally Rooney hat sich als Autorin weiterentwickelt - und zwar sehr. So ist zumindest meine Meinung, denn ihren ersten Roman - “Gespräche mit Freunden” - mochte ich überhaupt nicht. Die beiden nachfolgenden Bücher habe ich trotz des sich aufbauenden Hypes komplett ignoriert. Und jetzt, fünf Jahre nach meiner ersten Leseerfahrung, habe ich mich dazu entschlossen, wieder zu Sally Rooney zurückzukehren. “Intermezzo” hat mich einfach angesprochen, trotz meiner Rooney-Skepsis: Das Schach-Thema, der Titel, das Cover und letztlich die Aussicht, dass es nicht in erster Linie um ein Liebespaar gehen würde, sondern um zwei Brüder - das alles hat mich davon überzeugt zuzugreifen. Und ich sage jetzt schon mal: Ich habe es diesmal nicht bereut.

“Intermezzo” ist das perfekte Buch für die “melancholische” Jahreszeit. Beginnend im Oktober und Ende Dezember endend, spielt sich die Handlung vor allem in Innenräumen und im Inneren der Personen ab. Ein reflexives, nachdenklich machendes Buch, in dem die in Dublin lebenden irisch-slowenischen Brüder Ivan und Peter Koubek den Verlust ihres Vaters betrauern, der im Frühherbst an Krebs verstarb. Und dabei denken sie über ihre Zukunft, aber vor allem über ihre Vergangenheit und Gegenwart nach. Ivan ist gerade mit dem Studium fertig, er verdient sich was nebenher in einem It-Job, seine Leidenschaft gilt aber vor allem dem Schachspiel, in dem er zunehmend Erfolge aufweisen kann. Bei einem Turnier in der Provinz lernt er Margaret kennen, die Leiterin eines Kulturzentrums und verliebt sich in sie. Peter ist Jurist und als Rechtsberater tätig. Er steht mitten im Leben - und ist doch ziemlich verloren darin. Außerdem steht er zwischen zwei Frauen, der jungen Naomi und seiner Ex-Freundin Sylvia - und kämpft mit seinen Süchten…

Man kann von Sally Rooney halten, was man will. Aber sie ist eine brillante Chronistin unserer Zeit, die “Marcel Proust” unserer Tage. Was sie hier in ihren Figuren zum Ausdruck bringt, ist nichts weniger, als das Lebensgefühl der Generationen Y und Z. Die Handlung spielt im ausgehenden Pandemie-Jahr 2021, Ivan ist 1999 geboren und damit “Generation Z”, sein älterer Bruder Peter Jahrgang 1989, was ihn zum “Millennial” oder zum Angehörigen der “Generation Y" macht. Das Lebensgefühl dieser beiden Generationen zeichnet sich aus, durch eine scheinbar unendliche Vielfalt an Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Dies geht einher mit einer Wehmut, all die verpassten Möglichkeiten betreffend und außerdem mit einem Gefühl der Orientierungslosigkeit. Darüberhinaus geht es in diesem Roman auch viel darum, wie stark unser Alter uns definiert und determiniert. Allein durch das Geburtsjahr in unserem Ausweis werden wir in eine “Lebensphase-Schublade” gesteckt, aus der wir bestenfalls nicht ausbrechen sollten, weil sonst allerlei Probleme auf uns zukommen. Durch ihre Beziehung mit 14 Jahren Altersunterschied und der Besonderheit, dass die Frau die ältere ist, tun Ivan und Margaret genau das: Sie brechen aus den gesellschaftlichen Erwartungen an sie aus und müssen mit den Konsequenzen leben. Sally Rooney versteht es brillant den Schmerz zu schildern, der uns ereilt wenn wir erkennen, dass unsere Wünsche für uns nicht mit denen unseres Umfelds und unserer Gesellschaft zusammenpassen. Dass das Thema Liebe auch in Form der Liebe zwischen einem Menschen und einem Tier daherkommt, fand ich sehr schön und überraschend. Die innige Beziehung zwischen Ivan und seinem Hund, der nach dem Tod des Vaters herrenlos wird, hat mich sehr berührt und dem Roman nochmal eine andere Komponente verliehen.

Lasst uns über die Sprache sprechen, die in “Intermezzo” verwendet wird, denn hier kommt meines Erachtens schon eine gewisse Wortmagie zum Vorschein. Sally Rooneys enigmatische und gleichsam energische Prosa zu lesen, ist, wie mit der Hand über ein Stück Samt zu gleiten. Hier gibt es keine direkte Rede, keine Anführungszeichen, die den Fluss der Wörter einschränken. Sie sind nicht nötig, da man immer weiß, wer gerade denkt und wer spricht.

Ich mag ihre Beobachtungsgabe in “Intermezzo”. Ich mag es, wenn Literatur es schafft die Alltäglichkeit des Daseins in Sprache zu bannen. Wenn Großes gesagt wird und auch das Kleine und Allerkleinste festgehalten wird: “Im Schneidersitz auf dem Boden neben ihm. Die Knöchelsocken mit dem Streifen. Sylvia kommt mit einem Tablett mit Tee aus der Küche zurück. Ringelblumenmuster.” (S. 446). “Intermezzo” ist letztlich ein philosophischer Roman über die kleinen Dinge, die das Leben und seine Flüchtigkeit ausmachen. Im besten Fall regt er uns dazu an, nicht allzu sehr in Melancholie und Tristesse angesichts dieser Tatsache zu verfallen, sondern genauer hinzuschauen auf die Kleinigkeiten, die uns glücklich machen - weil sie uns daran erinnern, dass wir am Leben sind.

Ein brillantes Gesellschaftsportrait einer verlorenen Zeit, die gerade versucht - wie wir alle - das Beste draus zu machen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.09.2024
Der verschwundene Buchladen
Woods, Evie

Der verschwundene Buchladen


gut

Wie kann ich “Der verschwundene Buchladen” von Evie Woods (aus dem Englischen übersetzt von Ivonne Senn für Adrian & Wimmelbuchverlag), ein Buch, das gerade die Bestsellerliste emporklettert und mit einem wunderschönen Cover und originellem Farbschnitt optisch ins Auge fällt, am besten beschreiben? Es ist ein Buch über Bücher, Geschichten (auch Lebensgeschichten) und die Magie von Büchern, Manuskripten und Buchhandlungen. Dabei sind ein historischer Roman (Handlung 1921-1923) und ein Gegenwartsroman, der sich 100 Jahre später abspielt (also in unser eigenen Zeit angesiedelt ist) kunstvoll ineinander verschränkt. Das Buch wird abwechselnd aus der Perspektive von drei Personen erzählt: Opaline Carlilse in der Vergangenheit, Martha und Henry in der Gegenwart. Dreh- und Angelpunkt der Handlung auf beiden Zeitebenen ist ein Buchladen in der fiktiven Ha'penny Lane in Dublin, der mal verschwunden ist und mal nicht. Damit ist der Roman tief in der Tradition des Magischen Realismus verankert. Denn der Buchladen und die von ihm ausgehende Magie sind der einzige “Fantasy-Aspekt” in diesem Roman.

Wer jetzt so wie ich vor der Lektüre denkt, das klingt alles ziemlich cosy und gemütlich, ein Wohlfühlbuch für Bibliophile, den muss ich leider teilweise enttäuschen. In diesem Buch finden wir zwar Bücher und Geschichten an jeder Ecke, aber leider auch und vor allem psychische und physische Gewalt, Gaslighting, toxische Männlichkeit, Sucht, etc. Richtig heavy Triggertopics, die ich aufgrund des Klappentextes nicht erwartet hätte.

Die Engländerin Opaline flieht vor ihrem 20 Jahre älteren Bruder Lyndon, der sie in eine Zwangsehe stecken möchte. Sie hat von ihrem Vater eine Leidenschaft für Bücher vererbt bekommen und möchte Buchhändlerin werden. In Paris trifft sie Sylvia Beach, die historische Gründerin von “Shakespeare & Company” und heuert dort als Aushilfe an. Doch das wird nicht ihre letzte Station bleiben. Ihr Lieblingsbuch “Sturmhöhe” von Emily Brontë ist dabei eine Art Talisman für sie. Martha aus Irland hat die toxische Beziehung zu ihrem gewalttätigen Ehemann Shane hinter sich gelassen und fängt in der Ha'penny Lane in Dublin als Gesellschafterin der älteren Dame Madame Bowden an. Sie hat, was Bücher betrifft, eine negative Vergangenheit, doch in letzter Zeit scheinen sie Bücher und Geschichten quasi zu rufen. Vor allem der Bestseller “Normale Menschen” von Sally Rooney springt ihr ins Auge. Und dann wäre da noch Henry, Doktorand am Trinity College und Experte für alte Manuskripte. Er leidet unter seinem alkoholkranken Vater, der ihm schon seit seiner Kindheit das Leben schwer macht. Henry hat einen Buchladen entdeckt, der dann plötzlich nicht mehr da war - in der Ha'penny…

Kann ein Buch gleichzeitig gut und schlecht bzw. literarisch und trivial sein, so wie Schrödingers Katze gleichzeitig tot und lebendig ist? Ja, das geht, “Der verschwundene Buchladen” ist so ein Buch. Es ist kitschig wie nur irgendwas, melodramatisch wie eine Seifenoper bzw. "Der Graf von Monte Christo” (der im Buch übrigens auch mal vorkommt) und unrealistisch bis in die kleinsten Verästelungen der Bäume, die in Marthas Zimmer wachsen. Hier werden seltene Manuskripte mal so nebenbei gefunden - und zwar genau die, die man gesucht hat. (Frauen-) Schicksale, die sich über die Zeiten spiegeln und dass alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt, ist jetzt auch nicht gerade eine brandneue literarische Erfindung.

Gleichzeitig ist der Roman aber spannend wie ein Krimi, ein herrlicher Schmöker, den man nicht aus der Hand legen möchte, geschrieben von einer klugen und sehr belesenen Autorin. Es kommt sehr selten vor, dass ein Buch an einer Stelle genervtes Augenrollen verursacht und im nächsten Moment die Wehmut des bevorstehenden Trennungsschmerzes, wenn ich es gleich aus der Hand legen muss, um meinen alltäglichen Verrichtungen nachzugehen. Letztes hat dann aber überwogen und in der Rückschau sind auch die positiven Gefühle, die ich beim Lesen hatte, in der Mehrheit. Der Farbschnitt mit der Hausfassade, hat mir beim Lesen tatsächlich Freude bereitet - ich muss definitiv offener gegenüber solchem Schnickschnack werden.
Die bezaubernde Hintergrundgeschichte um den verschwundenen Buchladen ist tatsächlich originell und entschädigt für viele unglaubwürdige Momente der Handlung.

Ich hoffe ihr wisst jetzt, auf was ihr euch bei diesem Buch einlassen würdet und wenn ihr es tut, wünsche ich euch ein angenehmes Leseerlebnis, bei dem ihr wahrscheinlich das ein oder andere Auge zudrücken müsst.

0 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.09.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13


sehr gut

Lieber Klufti aka Interims-Polizeipräsident, Leiter des “K1 Kempten”, Opa, Vater, Sohn, Ehemann (“Butzele”) und Intimfeind von Dr. Langhammer! Ich hätte mir ja niemals gedacht, dass ich mal so ein großer Fan von dir werde, dass ich die Bücher, in denen du die Hauptfigur bist, gleich zum Erscheinungstermin inhalieren und sogar weiterempfehlen würde. Und das in diesem #Bookstagram, wo die meisten jetzt solche spannenden, aber halt auch zwischendrin durchaus albernen bzw. “humorvollen” Regionalkrimis eher nicht so goutieren, gell. So ein “Commitment” meinerseits kann mich Follower kosten, ich hoffe dessen bist du dir bewusst. Ich muss zugeben, als mir ein ehemaliger Klassenkamerad bei einem Klassentreffen vor über 10 Jahren über seine Leidenschaft für deine Bücher erzählte, habe ich als Literaturwissenschaftlerin ja auch erstmal innerlich die Nase gerümpft. Aber dann war ich, als ich es selbst probiert habe, “hooked” wie man heute sagt und was du natürlich sofort nicht oder falsch verstehen würdest - englische Ausdrücke magst du ja nicht so, gell? Jedenfalls habe ich jeden einzelnen Fall gelesen.

Und jetzt sind wir schon beim dreizehnten angelangt. Eine Terroreinsatzübung am Berg, bei dem ein eurem Team bislang unbekannter uniformierter Kollege umkommt. Und genau dort um den Tatort herum hast du ganz schön viele Steinpilze entdeckt und nach Hause geschleppt. Ich kann Markus und Yumiko übrigens verstehen, dass sie der Maxima die nicht geben wollten, wir jungen Eltern sind ein bisschen übervorsichtig - nimm es ihnen nicht krumm. Es war überhaupt viel Persönliches in diesem Buch, dessen Hauptthema die zwei großen P's waren: Pilze und Politik. Zu Letzterer hast du dich überreden lassen: Als Lückenbüßer bei der Altusrieder Gemeinderatswahl. Eigentlich wolltest du ja gar nicht gewählt werden - und dann hat dich doch der Ehrgeiz gepackt. Und den Langhammer auch, er war wie immer in Bestform. Die Sprüche auf den Wahlplakaten sind eigentlich schon für sich genommen 5 Sterne wert. Aber den Cliffhanger ganz am Ende, den nehm ich deinen Autoren ein bissle krumm…
Sollen wir jetzt wieder 2 Jahre warten, bis wir wissen, wie es weitergeht? So wie damals bei der Maxima? Aber du, was den Fall betrifft - so richtig warm geworden bin ich damit nicht. Ein unsympathisches Opfer, dazu noch Querdenker und Corona-Leugner, der mit den Rechten abgehangen ist. Die Thematik war echt ein bisschen zäh, fast wie die Seitan-Entenbrust, auf der du rumgekaut hast. (Wobei, die war ja eigentlich ganz lecker, oder?) Aber wenn ich da an so Fälle denke wie “Grimmbart” oder “Funkenmord”, dann werd’ ich schon ein bisschen wehmütig. Sind deine besten Zeiten wirklich schon vorbei? Ich mein du kannst ja nix dafür, wer ermordet wird und in welchen Kreisen sich der bewegt. Und wie komplex das Ganze daherkommt (diesmal nicht so), kannst du ja auch nicht beeinflussen, du bist ja nur die ausführende Gewalt. Aber sag den Herrn Klüpfel und Kobr bitte bei nächster Gelegenheit, dass sie in den 14ten Fall mehr Würze ohne Geschmackstärker (die Erika benutzt ihn ja auch nimmer, gell) reinbringen sollen, bitteschön. Also wenn's geht. Und keine Rechtsradikalen (von denen gibt es gerade in der Realität eh schon genug). Ansonsten war es schon wie immer ganz unterhaltsam und auch oft lustig. Die Brotdosen-Szene: Ganz großes Kino. Und deine Erfahrungen mit Social Media waren auch mal wieder peinlich deluxe.
Und weil wir uns schon so lange kennen, will ich in der Rezension, die ich noch schreiben muss, auch gnädig sein. Aber nur wenn du mir so ein “Giveaway” vom Langhammer besorgst. Also einen Eiskratzer zum Beispiel (“Heute schon an morgen denken”). Du weißt ja: Eine Hand wäscht die andere. Von daher: Lest es oder lasst es bleiben. Oder um dich zu zitieren: “Und jetzt lasst mir meinen Frieden, ich muss endlich was schaffen, Himmel[*pieeeep*]saubande, hundsverreckte!” (S. 145)

Bewertung vom 23.09.2024
Die Kunst der Hexerei
Panhans, Iris

Die Kunst der Hexerei


sehr gut

Wer glaubt, das Thema “Hexe” im 21. Jahrhundert sei esoterischer “New-Age-Blödsinn” oder eine Fantasievorstellung “frustrierter Katzenfrauen”, der sollte jetzt bitte nicht weiterlesen oder hat es ohnehin nicht getan. Allen anderen: Welcome and blessed be! Die nachfolgenden Worte sind eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Sachbuch von Iris Panhans aka. “Vollmondfüchsin” mit dem Titel “Die Kunst der Hexerei. Entdecke deine magischen Kräfte”, erschienen bei Nymphenburger.

In diesem Ratgeber nimmt uns die sympathische Autorin, die durch ihre YouTube-Videos erstmals an die Öffentlichkeit trat, mit auf eine Reise. Es ist eine Reise, an deren Ziel wir Lesende im Idealfall unsere eigenen magischen Kräfte entdeckt haben oder zumindest wissen, ob das denn für uns überhaupt infrage kommt. Und vor allem: in welcher Form. Denn es gibt verschiedene Aspekte und Herangehensweisen an das Thema Hexerei: vieles ist möglich, nichts muss. Oder wie Panhans es formuliert: “Magie ist ein Geschenk, das jede Person erhalten hat, und du wirst deinen Weg finden.” (S. 45) Wichtig ist der Autorin dabei auch immer, sich von falschen Vorstellungen zum Thema Magie zu lösen: Sie hat nichts mit Blitzen zu tun, die aus Zauberstäben kommen. Oder mit Hexen, die auf Besen reiten. Magie ist eine Kraft, die uns selbst innewohnt und die wir auch selbst entdecken müssen. Es geht in diesem Ratgeber oftmals darum, Energien - von Menschen, Tieren, Dingen, Orten - wahrzunehmen und damit in irgendeiner Form umzugehen. Zum Beispiel gehört die Reinigung und Neutralisation von Energien zu den wichtigsten Ritualen einer Hexe. Jeder Mensch hat positive und negative Energien in sich selbst, es ist wichtig, an den eigenen “Schatten” zu arbeiten (siehe Kapitel “Schattenarbeit”) um ein emotionales Gleichgewicht zu erlangen. Hexerei ist oft nicht viel mehr als der Versuch, sich selbst näher zu kommen. Ein immens wichtiger Punkt, der auch im Buch betont wird: Eine moderne Hexe verleugnet niemals wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern arbeitet mit ihnen.

Panhans geht wirklich sehr strukturiert an ihr Thema heran, was es den Lesenden sehr leicht macht, ihr zu folgen. Das Buch ist aufgeteilt in folgende Kapitel: 1. Der Alltag einer modernen Hexe 2. Die Grundlagen 3. Zauber und Rituale 4. Praxis. Hier findet man sich schnell zurecht und kann auch gezielt nur einzelne Kapitel nachlesen, je nachdem, für welchen Themenbereich man sich gerade interessiert. Die Autorin betont auch in den einzelnen Kapiteln, dass die Themenkomplexe weitaus umfangreicher sind, als sie sie hier ausführen kann. Manche würden sogar eigene Bücher füllen können. Aber dieses Buch ist eine Einführung in die moderne Hexerei und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Panhans beschreibt die ganzen Dinge und Utensilien, die eine Hexe benötigt wie feuerfeste Schale, Schnur, Kerzen, Kräuter, Fläschchen, Notizbuch, etc. Dabei macht sie deutlich, dass man die Dinge keinesfalls neu und teuer in einschlägigen Shops kaufen muss. Vieles ist bereits im Haushalt vorhanden, kaum etwas muss wirklich angeschafft werden. Eine sehr wichtige Botschaft, gerade für junge Anfänger:innen: “Sei kreativ, arbeite mit dem, was du hast, und spar dir so dein Geld.” (S. 97) Wenig Geld sollte einen jedenfalls nicht von seinem Vorhaben abbringen, eine Hexe zu werden. Auch sollte man sich nicht von den perfekten Altären und Hexenzimmern der Internet-Community blenden lassen.

Im Praxisteil erläutert die Autorin, wie wir selbst Rituale durchführen können und zu welchem Zweck. Für fast jeden interessant dürften die verschiedenen Rituale der Hausreinigung sein, die teilweise schon mit sehr wenig Utensilien machbar sind.

Die Gestaltung dieses Ratgebers ist wirklich sehr ansprechend. Wunderschöne Fotos und Zeichnungen, von denen 25 von der Autorin selbst stammen, lockern den Text auf und illustrieren ihn auf passende Weise.

Der Stern, den ich aber leider abziehen muss, hat nichts mit dem Inhalt zu tun. Bei einem Ratgeber wie diesem, den man auch nach der ersten Lektüre - ähnlich wie ein Kochbuch - sicher öfter aus dem Regal ziehen wird, hätte ich mir ein Hardcover gewünscht. Auch das Din-A4-Format sowie der stolze Preis von 25 Euro hätten meines Erachtens für ein Hardcover gesprochen. Das Gute an der Broschur ist zwar das Lesezeichen mit der wunderschönen Vollmondfüchsin, das man aus der Klappe herausschneiden und selbst mit einem Band gestalten kann. Dies hätte man allerdings im Fall eines Hardcovers auch beilegen können. Wie auch immer, das ist wirklich der einzige Kritikpunkt, den ich an diesem wunderbaren Buch für Einsteriger:innen ins Thema Hexerei und Magie habe. Große Empfehlung für alle an diesem Thema Interessierten.

Bewertung vom 13.09.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


ausgezeichnet

“Am Horizont glitzerte Südfall im nassen Watt wie ein Kleinod auf Silberpapier. Je näher sie kamen, desto besser waren der dunkelgraue Schlick der Halligkante und die Wasserfarben zwischen vor Hitze ausgetrockneten Salzwiesen zu erkennen; und überall der dichte Teppich mit abwechselnd hellem, dann dunkleren, rosarot oder violett blühendem Strandflieder”. (S. 61)

“Die Gräfin” von Irma Nelles ist mit 169 Seiten wahrlich kein langes Lesevergnügen. Aber dafür ein umso intensiveres. Wie man schon an dem obigen Zitat erkennen kann, schreibt hier eine Person, die hier verwurzelt und der das Watt seit frühester Kindheit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Die Autorin wurde 1946 auf Nordstrand geboren und ist auch dort aufgewachsen. Irma Nelles’ kondensierte Prosa atmet die Flora und Fauna dieses einmaligen Landstrichs, der so eigenwillig und abgelegen ist wie die Geschichte, die uns in “Die Gräfin” erzählt wird und die sich so wohl nur hier abgespielt haben könnte.

Die Handlung spielt an 6 Tagen im Spätsommer auf der Hallig Südfall und der angrenzenden Insel Nordstrand im Wattenmeer. Der zweite Weltkrieg liegt in seinen letzten Atemzügen und man munkelt bereits, dass der Krieg für die Deutschen verloren ist. Für die pazifistische Gräfin Diana von Reventlow-Criminil, die tatsächlich existiert hat (Lebensdaten 1863-1953), ist dies eine gute Nachricht. Die alleinstehende und freiheitsliebende Adelige lebt bereits seit 34 Jahren auf Südfall. Auf dem einzigen Anwesen des Eilandes leben mit ihr nur ihr Angestellter Maschmann, ein kauziger Nordfriese um die fünfzig und Meta, eine junge Frau, die sie nach dem Tod von deren Eltern als “Kostkind” aufnahm und die der alten Damen nun den Haushalt führt. Dieses ruhige Leben in der Einsamkeit des Meeres wird jäh unterbrochen, als der englische Kampfpilot John Philip Gunter auf dem Eiland abstürzt. Die Gräfin handelt sofort und lässt den verletzten Mann von Maschmann in ihr Zuhause schaffen, wo sie und Meta ihn gesund pflegen. Dies muss aber unter höchster Geheimhaltung geschehen, dann einen Feind zu unterstützen galt als Hochverrat. Doch der Aufenthalt des Bruchpiloten löst nicht nur Angstgefühle aus, im Gegenteil…

Generell habe ich immer eine große Scheu vor Romanen, die während des zweiten Weltkriegs in Deutschland spielen, da mich das Ganze doch immer sehr mitnimmt. Bei diesem Werk ist die Zeitgeschichte nur wie durch einen Schleier präsent. Die Gräfin verhilft - so wird es angedeutet - zahlreichen Menschen zur Flucht, verfügt sie doch durch ihren adeligen kosmopolitischen Stammbaum (sie ist halbe Schottin, ihr Bruder hat eine Engländerin geheiratet) durch zahlreiche Kontakte in alle Welt. Auch der Nordstrander Inselarzt Braack, der sich um den Verletzten kümmert, äußert oftmals in der Dorfkneipe seinen Unmut über das Naziregime.

Würden nicht die traurigen Schlagworte des zweiten Weltkriegs bzw des dritten Reiches wie Gestapo etc. durch die Handlung geistern und würde es sich statt eines Kampfpiloten um einen schiffbrüchigen Marineoffizier handeln, so könnte man meinen, ein Werk des 19. Jahrhunderts vor sich zu haben. Die Personen und ihre abgeschiedene Lebensweise mitten im Meer wirken wie aus der Zeit gefallen. Und stellenweise könnte man wirklich denken es mit einer Novelle von Theodor Storm und bei der Gräfin mit einer von Fontanes starken Frauenfiguren zu tun zu haben. Die Kennzeichen der klassischen Novelle kann man jedenfalls allemal abhaken: Eine “unerhörte Begebenheit” (Absturz der Piloten), eine überschaubare Anzahl an handelnden Figuren und die klassische Struktur. Als Leitmotiv würde ich das Flugzeug bezeichnen. Ich mochte die chronologisch-lineare Erzählweise sehr, da sie einen erholsamen Kontrast zum heute modernen “chaotischen” Erzählen darstellt. Vielleicht sollte noch darauf hingewiesen werden, dass Maschmann, den ich als Figur sofort ins Herz geschlossen habe, meist Plattdeutsch spricht und dass das für Unkundige schwer zu lesen ist.

Während ich sonst immer schnell dabei bin, Längen, Redundanzen und eine überambitionierte Seitenzahl in Romanen zu kritisieren, muss ich hier tatsächlich sagen, dass mir das Buch zu schnell vorbei ging. Kaum hatte man sich an die Charaktere gewöhnt und eine Beziehung zu ihnen aufgebaut, haben sie einen auch schon wieder verlassen. Dieses Gefühl der Wehmut, die sich angesichts des abrupten Endes einstellt, spricht aber für das Buch. Die Geschichte der Hallig-Gräfin ist so absonderlich und interessant, dass ich gerne noch viel mehr Lesezeit in diese Figur investiert hätte.

“Die Gräfin” ist ein melancholisches Buch über die Unbarmherzigkeit der Zeit und die Unmöglichkeit, seiner eigenen Chronologie zu entkommen. Für alle, die gern ruhigere Bücher mit einem überschaubaren Personal lesen und sich für das Leben auf einer Hallig interessieren, ist dieser Roman der leisen Töne genau die richtige Lektüre.

Bewertung vom 10.09.2024
Der längste Schlaf
Raabe, Melanie

Der längste Schlaf


ausgezeichnet

“Ich muss was machen. Werfe einen Blick nach draußen. Die Dunkelheit fällt herab wie ein schwerer Vorhang, dieser Tag hat seine Vorstellung gespielt. Doch für mich ist er noch nicht vorbei.” (S. 237)

Der Tod, der für uns nicht (da) ist, solange wir sind - um es mal (pseudo) philosophisch auszudrücken - hat, so sagt man im Volksmund, einen "Bruder". Kein Zustand während unseres existenziellen Daseins kommt dem Tod näher als der Schlaf. Im Schlaf, diesem todesähnlichen Etwas, verbringen wir ein Drittel unseres Lebens. Doch während der Tod die Auslöschung unseres Bewusstseins darstellt, fördert der Schlaf das Unterbewusstsein zutage, indem er uns träumen lässt. Doch was ist, wenn die Traumreste plötzlich anfangen, unser Leben zu bestimmen? Wenn - wie es bei Calderon heißt - “das Leben ein Traum” wird?

Die Protagonistin von Melanie Raabes neuem Roman “Der längste Schlaf”, Prof. Dr. Mara Lux ist ein Widerspruch in sich: Sie hat sich als Neurowissenschaftlerin den Schlaf als Forschungsgebiet auserkoren und leidet selbst an Insomnia - Schlaflosigkeit. Was diese hervorgerufen hat, möchte ich hier nicht spoilern, denn es ist einer der “Antriebsmotoren” des Plots.
Mit 10 Jahren hat Mara durch einen Autounfall an ihrem Geburtstag beide Eltern verloren - das Trauma sitzt tief. Dennoch konnte sie sich eine erfolgreiche Karriere als Neurowissenschaftlerin an der Universität (King's College London) aufbauen. Zu Ihrem Herkunftsland Deutschland, das sie mit 19 Jahren verlassen hat, um sich in London niederzulassen, hat sie fast alle Brücken abgebrochen. Einzig zu ihrer besten Freundin Roxi aus Frankfurt, mit der sie in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist, hat sie dort noch Kontakt. Eines Tages erhält sie eine Email von einem Notar aus Deutschland - ein alter, ihr völlig unbekannter Mann hat Mara ein Herrenhaus in einem kleinen Ort namens Limmerfeldt vermacht. Mara reist nach Deutschland, und die Reise zu ihrem unverhofft Erbe wird für sie eine Reise zu sich selbst…

Das "unheimliche Herrenhaus-Motiv” und ich, wir sind gute Freunde. Spätestens seit “Jane Eyre” ist das mein liebster Trope in Kriminal- und Spannungsromanen. Raabe hat das Motiv meisterhaft in ihrem Roman umgesetzt - das Haus ist unheimlich und anziehend zugleich sowie ein starkes Symbol für das Traumhafte bzw. Unterbewusste, das sich in diesem Buch einen Weg in die Realität zu bahnen versucht. Symbolik und Metaphorik finden wir überall in der märchenhaften Topographie von Limmerfeldt, seinen Fachwerkhäusern und verwinkelten Straßen, aber auch seinen Menschen und Tieren. Hier steckt noch so viel mehr drin, als einem beim ersten Lesen bewusst wird - davon bin ich überzeugt. Die sehr klare, ungekünstelte Prosa bildet einen wunderbaren Kontrast zur oft irrationalen Handlung. Zudem merkt man, dass sich Melanie Raabe eingehend mit der Sekundärliteratur zum Themenkomplex Schlaf und Traum beschäftigt hat.

Wer dieses Buch liest, sollte wissen, dass man es mit einem Pageturner zu tun bekommt, der einen nachts nicht gut einschlafen lässt, weil man immer weiterlesen möchte. Ein gekonnter, intelligent geplotteter Mix aus literarischem Roman, Mysterythriller und dem Genre “magischer Realismus” - ein Buch also, auf das man sich komplett “einlassen” muss, um es genießen zu können. Und wenn man es ausgelesen hat, schließt sich förmlich ein Kreis zwischen der schlaflosen Protagonistin und uns Lesenden: Wir können uns wieder dem Schlaf hingeben und hoffen, dass wir aus diesem traumhaften Buch mit dem wunderschönen Cover nur gute und keine Albträume mitgenommen haben, denn gerade das Ende bzw die Auflösung könnte sich für manch sensible Person als Trigger erweisen. Trotz dieses kleinen Wermutstropfens möchte ich aber eine 99,99%ige Leseempfehlung für dieses großartige Buch aussprechen.

Bewertung vom 05.09.2024
Mein Mann
Ventura, Maud

Mein Mann


sehr gut

Achtung Ironie! Für viele Frauen in einer heteronoramtiven Ehe ist der eigene Mann nach einiger Zeit mit einem Möbelstück gleichzusetzen: Es ist gut, dass er da ist, ist immer genau an seinem Platz (auf dem Sofa, der Toilette oder vor dem PC), aber er fällt auch nicht mehr groß auf. Er ist wie ein bequemer alter Sessel, in den man sich manchmal fallen lässt, der aber auch oft im Weg rumsteht und gelegentlich abgestaubt werden muss. Kurzum: Er erfüllt seinen Zweck. Was aber nicht heißen muss, dass die Frau beim letzten Familienbesuch im Möbelhaus die anderen, neuen Sessel mit dem aufregenden floralen Muster nicht zumindest aus dem Augenwinkel ein wenig abgecheckt hätte.

Nicht so ergeht es der vierzigjährigen namenlosen Ich-Erzählerin aus “Mein Mann” von Maud Ventura, aus dem Französischen von Michaela Meßner. Die Englischlehrerin und Übersetzerin ist von ihrem Mann so besessen, dass sie am liebsten rund um die Uhr mit ihm zusammensein würde. Selbst ihre beiden Kinder (7 und 9) liebt sie nicht so wie sie ihn liebt, ihren Mann. Dieser Roman ist unglaublich raffiniert erzählt. Die Ich-Erzählerin macht uns Lesende zu Kompliz:innen, zu Mittäter:innen ihrer ungesunden Obsession, die sie Liebe nennt. Durch die Entscheidung, ihren Mann stets nur als “mein Mann” zu bezeichnen, raubt sie ihm jede Identität und Individualität. Er wird zur Persona, zum Jedermann, zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der Lesenden. Der Roman einer Entmenschlichung? Auf gewisse Weise schon.

Es geht hier um die Dynamiken, wie sie in einer Ehe und unter Paaren vorkommen. Um Rollenverteilung und die kleinen Enttäuschungen, die man sich im Laufe der Partnerschaft zugefügt hat. Um die enttäuschten Erwartungen, die man der anderen Person gegenüber nie artikuliert hat
Die Beziehung der Ich-Erzählerin und ihres Mannes wird von ihr unter ein Brennglas gelegt. Sie seziert seine Liebe zu ihr, möchte ganz genau wissen, wie sehr ihr ihr Mann noch zugeneigt ist. Und dafür ist ihr jedes Mittel recht.

Besonders spannend fand ich die Tatsache, dass die Ich-Erzählerin Synästhetin ist und zum Beispiel die Wochentage mit bestimmten Farben assoziiert. So ist der Montag blau, der Dienstag schwarz, der Mittwoch orange, etc. Und diesen Farben werden bestimmte Eigenschaften zugesprochen, die auch mit den jeweiligen Tagen assoziiert werden.

Das Paradoxe an meiner Leseerfahrung: Selten habe ich eine so große Distanz zu einer Protagonistin empfunden - ich konnte mich null mit ihr identifizieren - und gleichzeitig das Buch genossen. Normalerweise möchte ich Protagonist:innen sympathisch finden und etwas von mir in ihren wiederfinden. Aber dieses Mal war es regelrecht angenehm und kathartisch dieses nicht zu tun.

Spoiler: Das Buch war für mich wirklich ein ungewöhnliches Leseerlebnis, die Obsession der Protagonistin konsequent, bis zu dem Punkt, wo sie zum ersten Mal fremdgeht. Ja, zum ersten Mal, denn am Ende wird sie zweimal in einer Woche mit zwei verschiedenen anderen Männern schlafen. Natürlich kennen wir dieses Motiv von Maud Venturas Schriftstellerkolleginnen wie z.B. Leïla Slimani und Maria Pourchet. Dennoch dachte ich, dass dieses Buch hier anders ist, weil eben alle Aufmerksamkeit der Protagonistin auf ihren eigenen Mann gerichtet ist. Dass die Autorin aus diesem hervorragend originellen Konzept ausbricht, fand ich sehr schade, zumal das erst im letzten Drittel des Romans passiert (eigentlich ist Donnerstag ihr “Fremdgehtag”).

Bis auf diesen Wermutstropfen fand ich den Roman allerdings erfrischend anders und absolut lesenswert.

Bewertung vom 26.08.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


gut

“Manchmal frage ich mich, warum wir so viel zurückblicken, warum wir die alten Geschichten erzählen”, Marius grub die Hände tief in den sandigen Boden. “Und an anderen Tagen denke ich, dass es Dinge gibt, die erzählt werden müssen, wir haben so vieles nicht in der Schule gelernt. Für die nächste Generation soll es anders sein.” (S. 147)

Wie das Zitat schon sagt, in Maria Bidians Roman “Das Pfauengemälde” geht es um die Vergangenheit und deren Bewältigung. Topografisch ist diese Vergangenheit für die Ich-Erzählerin Ana in Rumänien verortet. Aus diesem Land stammen sie und ihre Vorfahren väterlicherseits. Anders als meine Vorfahren mütterlicherseits, für die das ebenfalls zutrifft, gehören sie aber nicht der deutschen Minderheit, den Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben, an, sondern sind - wie meine Oma es formulieren würde - “echte Rumänen”. Aber auch sie waren von den Enteignungen des kommunistischen Regimes betroffen, mussten Hab und Gut an den Staat abgeben. Heutzutage kann man anscheinend Prozesse führen, um das Weggenommene wieder zurückzubekommen. Aber was will man mit einem alten verfallenen Haus in einem Land, das schon seit Jahrzehnten “ausblutet”?

Die Familie der Ich-Erzählerin hat so einen Prozess geführt und gewonnen, das “Rumänische Haus” ist wieder in Familienbesitz und das will gefeiert werden. Also reist Ana aus Deutschland nach Rumänien, um ihre Verwandten zu treffen, vor allem die zahlreichen Geschwister ihres Vaters und deren Familien. Sie soll außerdem ihr Erbe in Anspruch nehmen, das titelgebende Pfauengemälde, den wertvollsten Besitz ihres vor zwei Jahren in Rumänien verstorbenen Vaters.

Die Familie ist im Dorf sehr angesehen, hat sie doch allerlei für die dort lebenden Menschen getan. Anastasias Vater Nicu, der Patriarch, starb vor zwei Jahren einsam in einer rumänischen Berghütte - Ana macht sich deswegen Vorwürfe.
Die Zerrissenheit, die sich in der Figur des Vaters bündelt, hat eine eigene Tragik. Er verließ seine Heimat wegen gegen des kommunistischen Regimes. Als Intellektueller mit rumänischem Doktoritel musste er in Deutschland bei Null anfangen und Gelgenheitsjobs nachgehen. Das Problem vieler Geflüchteter, die im eigenen Land einen weit höheren gesellschaftlichen Status innehatten als in der neuen fremden Heimat. Die deutsche Familie seiner Frau weiß nichts mit ihm anzufangen und er nichts mit ihr. Zumal war er fast 30 Jahre älter als Anas Mutter.

Die bürokratischen Zurückweisungen auf dem Passamt, der verlängerte “Zwangsaufenthalt” in Rumänien, die teilweise grotesken Träume, die seltsamen Flashbacks - das alles erinnert an die Literatur von Franz Kafka. Ana begegnet der Uneinsichtigkeit der Behörden mit einer Reaktion, die auch viele Figuren Kafkas an den Tag legen: “Die ganze Situation auf dem Passamt kam mir so absurd vor, dass ich anfing zu lachen.” (S. 95)
Leider wird dieses Absurde nur anerzählt und nicht konsequent ausgeführt. Vielmehr wird das Buch vom Geschreckgespenst Kommunismus überlagert. Ana besucht eine Ausstellung über die rumänische Revolution und die sowjetischen Gefangenenlager, in denen tausende Menschen gefoltert und getötet wurden. In der Gegenwartshandlung, die sich etwa 2017 abspielt, gibt es auch Demonstrationen gehen wieder aufkommende kommunistische Bestrebungen. Auch in die Erzählungen der Verwandten von Ana haben sich der Freiheitsgedanke und die Schrecken der Vergangenheit tief eingeschrieben.

Das Buch ist vom Gesamteindruck her also mehr Geschichtsstunde als literarischer Roman. Natürlich ist dies ein Verdienst an sich, denn hier im “freien Westen” verbinden wir Rumänien oft nur mit dem Dracula-Mythos, den Kirchenburgen, den Bettler:innnen. Mich zumindest müssen Romane aber auch unterhalten, um mich komplett zu überzeugen. Es reicht nicht, nur mit der geschichtlichen Thematik zu beeindrucken, denn dann kann ich auch zum Sachbuch greifen. Eine literarische Geschichte muss fesseln, einen Spannungsbogen aufweisen, mit Inhalt und Form überzeugen. Die Versuche, mit der Andeutung einer Dreiecksbeziehung so etwas wie Spannung aufzubauen, sind meiner Meinung nach gescheitert und in eine seltsame Richtung abgedriftet. Es werden zu viele Figuren eingeführt und dann quasi am Wegesrand der Handlung stehengelassen. Ich hätte einen Stammbaum oder ein Personenverzeichnis gebraucht, um die komplizierten Familienverhältnisse zu überblicken. Ana wird zunehmend naiver im Laufe des Plots, das Ende driftet ins Märchenhafte ab.

Weil mich aber die Geschichte des Vaters berührt hat und die historische Dokumentation sehr erhellend war, kann ich das Buch allen empfehlen, die sich für die Geschichte Rumäniens interessieren und die “Trockenheit” eines Sachbuches scheuen.

Bewertung vom 03.08.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


sehr gut

Jackie Thomae hat sich in ihrem neuen Roman dem Problemfeld “K(inder)-Frage” angenommen. Sie schreibt über erwachsene Frauen im Deutschland der Gegenwart und was diese Frage mit bzw. aus ihnen gemacht hat. Die Lebenswege der Frauen, die Thomae erzählt, kreuzen sich in diesem Roman. Wir haben also einen multiperspektivischen Erzählansatz, bei dem die Figuren abwechselnd aus deren Sicht das Geschehen schildern. Im Fokus steht dabei Marie-Claire (MC) Sturm, sie ist die Hauptfigur, zu der alle anderen Frauen, aus deren Sicht erzählt wird, in irgendeiner Beziehung stehen. Ihren Lebenslauf bekommen wir ziemlich detailgetreu geschildert. Zum Zeitpunkt des Beginns der Handlung ist sie 39, kinderlos und mit wechselnden Männern liiert bzw. Single. Sie steht als Radio-Moderatorin und Podcasterin mitten im Leben und setzt sich - nun langsam am Ende ihrer fruchtbaren Phase - mit der “K-Frage” auseinander. Ihr Problem ist vor allem die fehlende Beziehung kombiniert mit dem unbarmherzigen Nahen der Menopause, die sie von einem Wunschkind trennen: "Alles andere musste warten, bis dieser Felsbrocken aus dem Weg geräumt war. Doch was machte man, wenn man dafür einen anderen Menschen brauchte? Wo bekam man den her?” (81) Außerdem belasten sie die beiden Abtreibungen, die sie mit 17 und 29 hatte. Was wäre wenn? Welche Alternativleben geistern im eigenen Leben herum und blockieren einen?

Ebenfalls als Hauptfigur könnte man Anahita Martini bezeichnen, weil wir von ihr nach MC am meisten erfahren. Die ebenfalls zu Beginn 39-jährige ist Senatorin für Bildung, Jugend und Familie in der Berliner Stadtregierung und wird in dieser Funktion von MC fürs Radio interviewt. Auch sie steht als kinderlose Geschiedene vor einem Scheideweg: “Sie stand an einer Weggabelung, beide Wege führen in die Angst. Mutter zu werden. Keine Mutter zu werden.” (S. 129) Dies führt bei Anahita zu einer Art Paralyse. Bei ihr kommt der Druck vor allem von außen. Ihr älterer Bruder Reza ist gerade mit Ende 40 zum dritten Mal Vater geworden und von Seiten der Öffentlichkeit werden ebenfalls bestimmte Erwartungen an eine Familienpolitikerin gestellt.

Auch Rezas Frau Lydia kommt in einem Kapitel zu Wort. Sie hat ihren Job in der Werbebranche aufgegeben und mit Mitte Vierzig noch das dritte Kind bekommen. Sie bringt die Perspektive einer Mutter kleiner Kinder ins Spiel und illustriert auf humorvolle Weise, dass Muttersein nicht die einzig heilbringende Daseinsform ist, obwohl sie ihre Kinder abgöttisch liebt. Ihre innerliche Auflehnung gegen die perfekte und gesunde Welt der “AllesrichtigmacherMütter” liest sich so authentisch und unverblümt wie man es sich nur vorstellen kann. Eine Tirade gegen die Perfektion, frei von der Leber weg.

Coach Maren, eine Freundin von MC, leitet ein Selbstfindungs-Retreat zum Thema "unerfüllter Kinderwunsch - Muss auch ich Mutter werden?” und ist nicht wenig überrascht, als sich eine der Teilnehmerinnen als Mann herausstellt. Auch sie ist im beginnenden mittleren Alter und kinderlos. Außerdem kommt noch die Perspektive von Dr. Henriette Nonnenmacher ins Spiel, der Gynäkologin von Anahita und MC sowie die von Rebekka, MCs ebenfalls kinderloser jüngerer Schwester.

Für mich ist das, was in diesem Roman geschrieben steht und wie die unterschiedlichen Frauen nachdenken und sich selbst ausführlich reflektieren, unglaublich nah am Puls der Zeit. Jackie Thomae hat ein weibliches Gesellschaftsportrait gezeichnet, das lebensecht und nahbar ist und mit dem sich die allermeisten Frauen - ob Mutter oder nicht - werden identifizieren können. Die Konzepte Muttersein und Kinderlosigkeit werden nicht gegeneinander ausgespielt, beides ist richtig und wichtig und so soll es auch sein. Das ist sehr versöhnlich und ich meine zwischen den Zeilen die Botschaft durchzulesen, dass Frauen - ob Mütter oder nicht - mehr zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen sollten.

Die Erzählweise mit dem Verzicht auf Anführungszeichen bei direkter Rede finde ich angenehm und zeitgemäß, wird aber nicht jedem gefallen. Das einzige, was ich bemängeln muss, ist, dass mir manches doch zu sehr in die Tiefe geht und ich auch mit weniger Seiten glücklich gewesen wäre. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter und schöner Roman, für alle, die gebären könnten, sowieso.