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Nico aus dem Buchwinkel
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Bewertungen

Insgesamt 28 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2023
Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind
Dawson, Juno

Der Hexenzirkel Ihrer Majestät. Das begabte Kind


ausgezeichnet

“Der Hexenzirkel ihrer Majestät” von Juno Dawson war bereits im englischen Original auf meiner Wunschliste. Ich habe aber mit der Bestellung gezögert, da ich in letzter Zeit von Büchern mit Hexen eher enttäuscht war (zuletzt “The Sisters Grimm” und “Wild and Wicked Things”). Nachdem ich nun die deutsche Ausgabe gelesen habe, kann ich guten Gewissens sagen, dass mein Zögern vollkommen unbegründet war. Dawsons Hexengeschichte ist ein echter Hammer!

Das Buch handelt von vier Freundinnen, allesamt Hexen: Niamh, deren Mann verstorben ist, Elle, die der Magie eigentlich abgeschworen hat, Leonie, die mittlerweile Hohepriesterin des britischen Zirkels ist und Leonie, die einen eigenen Zirkel für Hexen of Color gegründet hat. Die Leben der vier werden erschüttert, als von den Orakeln die Apokalypse vorhergesagt wird – ausgelöst durch ein Kind. Als die Hexen auf das Kind treffen, stellt sich allerdings heraus, dass es überhaupt nicht böse ist, sondern eigentlich nur ziemlich überfordert. Im Streit um das Schicksal des Kindes droht die Freundschaft der vier Frauen zu zerbrechen.

Da hätten wir also das “begabte Kind”, um das es im Untertitel des Buches geht. Warum ein Untertitel? Weil das ganze als Trilogie angelegt ist. Die Wartezeit auf den zweiten Teil ist glücklicherweise nicht allzu lange: “Die falsche Schwester“ erscheint bei Knaur bereits am 01. Mai 2023.

Eine kleine Anekdote zu meinem Leseerlebnis: Ich war total begeistert von den progressiven feministischen Textteilen im Buch, gleichzeitig ging es immer wieder um diese Binarität Männer = Hexer, Frauen = Hexen. Das hat mich total beunruhigt, weil ich schon anfing zu befürchten, Dawson mache eine auf Rowling: Auf den ersten Blick schön feministisch, aber eigentlich trans exkludierend und damit ziemlicher Mist. Mit jeder Seite wartete ich verzweifelter auf eine Auflösung dieser Binarität und konnte mich irgendwann gar nicht mehr so richtig auf die Geschichte konzentrieren. Schließlich hab ich es nicht mehr ausgehalten und Juno Dawson gegoogelt. Als ich las, dass Dawson selbst trans Frau ist, fielen mir mehrere Steine vom Herzen. Jetzt konnte ich die Geschichte wieder unbeschwert gern haben und mich auf eine Aufweichung dieser binären Geschlechterverhältnisse freuen, die sicher noch im Buch kommen würde. Und auch hier hat mich “Der Hexenzirkel ihrer Majestät” nicht enttäuscht, stattdessen wurden meine Erwartungen ab Seite 142 sogar komplett übertroffen.

Gender und der Umgang damit werden ziemlich große Themen im Buch. Dawson positioniert sich klar und legt den Protagonist*innen auch viele der Vorurteile in den Mund, mit denen trans Personen tagtäglich zu kämpfen haben. Diese Argumente werden durch die Geschichte dann auch wieder auseinandergenommen. Eine ziemlich politische und aktuelle Hexengeschichte also. Und noch dazu enorm spannend. Das letzte Drittel habe ich in einem Stück gelesen und war am nächsten Morgen viel zu müde, weil ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Alles in allem also eine große Leseempfehlung von mir!

Wobei, ein kleiner Wermutstropfen bleibt. Wieso sich der Verlag gegen das kongeniale internationale Cover entschied und diese erstklassige Geschichte stattdessen in ein so alltägliches wie langweiliges Cover gesteckt hat, erschließt sich mir einfach immer noch nicht.

Bewertung vom 13.12.2022
Der mexikanische Fluch
Moreno-Garcia, Silvia

Der mexikanische Fluch


gut

Silvia Moreno-Garcia ist im englischsprachigen Raum schon etwas länger bekannt. Ihre bisherigen Veröffentlichungen lassen sich nicht wirklich in ein einzelnes Genre zwängen, vielmehr ist jede Geschichte eine neue Wundertüte: „Velvet Was the Night“ ist eher ein historischer Kriminalroman, „Certain Dark Things“ ein actionreicher Vampir-Noir. Als roter Faden zwischen ihren Romanen kann vielleicht der Schauplatz angesehen werden: Alle Geschichten spielen in Mexiko. Jetzt ist mit „Der mexikanische Fluch“, im Original „Mexican Gothic“, ihr erster Roman in deutscher Übersetzung erschienen. Genre diesmal: Ein Schauerroman in einem Gruselhaus.

Familienbande
Im Mexiko City der 60er wächst Noemi auf, behütet durch das Geld und den Einfluss ihres Vaters. Sie genießt die edlen Partys und die Aufmerksamkeit der Männer. Alles könnte so schön sein, wäre da nicht ihre Cousine und beste Freundin Catalina, die kürzlich überraschend geheiratet hat und nun zu ihrem Mann in ein Anwesen auf dem Land gezogen ist. Die Familie ihres Mannes Virgil ist aus Großbritannien eingewandert und hat in Mexiko bis zu deren Schließung eine Silbermine betrieben, in der viele Einheimische gearbeitet haben.

Als Noemi einen Brief erhält, in dem Catalina behauptet, ihr Mann würde sie vergiften, macht sie sich auf den Weg nach „High Place“. Von den “silbernen” Zeiten ist wenig übrig. Die Mine ist nach einer mysteriösen Seuche schon lange aufgegeben und das Anwesen ist im Verfall begriffen. Auf dem alten Familiensitz ist wenig, wie es scheint und Freunde sind rar gesät. Und wer „High Place“ einmal betreten hat, verlässt das Anwesen höchstens noch in einem Sarg…

Übersetzungs-Mist
An dieser Stelle ein paar Worte zur Übersetzung des Titels “Mexican Gothic” ins Deutsche. Die Handlung des Buches dreht sich unter anderem darum, dass Mexiko durch reiche und sich überlegen fühlende Brit*innen ausgebeutet wird. Es geht um Kolonialismus und die katastrophalen Folgen für die unterdrückte Bevölkerung. Wenn es also überhaupt einen Fluch gibt, dann ist es ein britischer und kein mexikanischer. Mit dem gewählten Titel wird Mexiko fetischisiert nach dem Motto “die Südamerikaner mit ihrem Voodoo verfluchen einen!!!” Das war mal wieder ganz große Übersetzungsarbeit. NICHT. Da waren echte Profis bei Limes am Werk…

Killer-Atmosphäre
Aber zurück zum Inhalt. Der große Pluspunkt von „Der mexikanische Fluch“ ist auf jeden Fall die Atmosphäre. Bis zum Schluss liegt eine fast greifbare Anspannung in der Luft, gepaart mit einem dezenten Grusel. Ständig hatte ich dunkle Vorahnungen, jederzeit hätte etwas passieren können. Ein sehr intensives Lesevergnügen, das mich auch nach dem Weglegen des Buches noch begleitet hat.

Allerdings: Es passiert lange wenig und zum Schluss fast zu viel auf einmal. Zwischendurch gab es für mich einige Längen, dafür ließen mich das Finale und die Auflösung atemlos zurück. Da hat für mich das Erzähltempo nicht immer gepasst.

Ein weiterer Minuspunkt waren die Charaktere. Von den Hauptfiguren, die mit wenigen Ausnahmen zu blass blieben bis hin zu den Nebenfiguren aus dem nahegelegenen Dorf, die mir manchmal ohne tiefergehenden Zweck in die Geschichte hineingeworfen schienen und deren Erzählstränge für mich nicht zufriedenstellend auserzählt wurden. Figuren, auch die aus der Erzählperspektive, müssen nicht sympathisch sein, aber sie sollten doch komplexere Motive haben und nachvollziehbar handeln. Naja.

Bei der Komposition der Einzelteile gab es für mich eindeutig noch Optimierungspotential. Dafür kann „Der mexikanische Fluch“ aber als ein Lehrbuch für den Aufbau einer intensiven Atmosphäre dienen.

Bewertung vom 07.12.2022
Madeleine, die Widerständige
Riffaud, Madeleine;Morvan, Jean-David;Bertail, Dominique

Madeleine, die Widerständige


ausgezeichnet

Madeleine Riffaud ist laut Wikipedia am 23. August 1924 geboren. Sie ist eine französische Dichterin, Journalistin, Kriegsberichterstatterin und war Mitglied des französischen Widerstandes der Résistance. Dass sie im August ihren 98. Geburtstag feiern konnte, ist alles andere als selbstverständlich, denn sie wurde von der Gestapo gefoltert und zu Tode verurteilt. “Madeleine, die Widerständige” ist ihre Geschichte.

Der gerade erschienene erste Band “Die entsicherte Rose” ist der Auftakt zu einer Trilogie, die Riffauds Leben erzählen soll. Anfangs war Riffaud vom dem Medium “Comic” wohl nicht so begeistert, aber Jean David Morvan konnte sie überzeugen und ich glaube das Resultat spricht absolut für sich. Morvan hatte von Riffaud in einer Dokumentation gehört und sofort die Idee für diesen Comic. Es kam zu einem Treffen, dann zu mehreren und so erzählte Riffaud ihre Lebensgeschichte ein ums andere Mal, während Morvan und der Zeichner Dominique Bertail sich eifrig Notizen machten, um den Comic so nah an ihren Erinnerungen zu gestalten, wie möglich.

Die Geschichte beginnt in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in einem kleinen französischen Dorf, wo Riffaud als Kind direkt eine traumatische Erfahrung mit einer liegengebliebenen Fliegerbombe macht. Der Comic spart auch die brutalen Erlebnisse nicht aus. Am Ende des ersten Bandes wird Riffaud viel Zeit in einer Tuberkulose-Klinik verbracht haben und in den Widerstand eingetreten sein.

Erzählt wird Riffauds Lebensgeschichte in wunderschönen blauen Tuschezeichnungen, die dem Comic einen sanften Anstrich geben und teilweise im Kontrast zu der durchaus grausamen Erzählung stehen. Besonders gut gefallen haben mir die immer wieder vorkommenden Splash-Panels, also einzelne Panels, die sich über die ganze Seite oder den Großteil davon erstrecken. Die FAZ behauptet, Bertails Kunst sei “konventionell” und “seitenarchitektonisch unoriginell”, aber wer die FAZ ernst nimmt, ist selbst schuld. Ich finde die Zeichnung fügen sich super in die Geschichte ein. Sie treten da in den Hintergrund, wo die Geschichte ihre eigene Wirkmacht entfaltet und setzen trotzdem immer wieder eigene Glanzpunkte. Ja, hinsichtlich des Seitenaufbaus habe ich schon einfallsreichere Comics gesehen, aber es geht hier ja auch nicht darum, ein Effektfeuerwerk abzufeuern.

Die Geschichte, die hier erzählt wird – Madeleine Riffauds Lebensgeschichte – ist jedenfalls absolut erzählenswert und wird von Morvan und Bertail exzellent eingefangen. Eine große Empfehlung an euch und eine Frage an den Verlag: Wann erscheint Band 2 und wo kann ich ihn vorbestellen?

Bewertung vom 29.11.2022
Ein rassismuskritisches Alphabet
Ogette, Tupoka

Ein rassismuskritisches Alphabet


ausgezeichnet

Als ich vor Jahren anfing, mich mit Feminismus, Rassismus, Intersektionalität etc. zu beschäftigen (besser spät als nie), zögerte ich lange, mich zu den Themen zu äußern. Ich fühlte mich zu inkompetent, zu unbelesen, zu unsicher, um meine Perspektiven einzubringen. Ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen und mich so zu disqualifizieren. Vielleicht hätte ich meinen Mund früher aufgemacht, wenn es damals schon „Ein rassismuskritisches Alphabet“ von Tupoka Ogette gegeben hätte.

Ogette ist sehr engagiert und gefühlt ununterbrochen mit rassismuskritischer Aufklärung beschäftigt. Der Verlag nennt sie sogar „DIE deutsche Vermittlerin für Rassismuskritik“. Neben Büchern wie „exit RACISM“ und „Und jetzt du.“ hat sie auch einen Podcast, den „tupodcast“ und gibt Workshops und Kurse. Auch auf ihrem Instagram-Kanal gibt es jede Menge Informationen und Erläuterungen. Auf ebendiesem Kanal wurde das rassismuskritische Alphabet zuerst veröffentlicht, bevor es jetzt als Buch erschienen ist.

In “ein rassismuskritisches Alphabet” ist jedem Buchstaben ein Begriff zugeordnet, der mit dem Thema “Rassismus” zu tun hat, zum Beispiel “A” für “Ally” oder “I” für “Intersektionalität”. Dabei sind die Erklärungen grundlegend gehalten, so dass auch Neulinge und Jugendliche problemlos mit den Erläuterungen zurechtkommen sollten. Zwischendurch gibt es immer wieder Möglichkeiten, eigene Gedanken oder Erfahrungen im Stile eines Workbooks direkt ins Buch schreiben. Gut gefallen hat mir auch, dass zu einigen Begriffen weiterführende Literatur und Videos angegeben sind. Zu “Blackfacing” ist zum Beispiel der TED Talk von Dr. Dwandalyn Reece “The Origins of Blackface and Black Stereotypes” verlinkt.

Das Buch lässt sich also auf ganz verschiedene Art und Weise nutzen: Als Lexikon, als Mittel zur Reflexion, als Diskussionsgrundlage, als Einstieg für eine tiefergehende Beschäftigung, oder auch als Unterrichtsmaterial in der Schule. Ich fand die Lektüre sehr gewinnbringend und werde mich auch in Zukunft noch mit einigen der genannten weiterführenden Quellen beschäftigen.

Bewertung vom 14.11.2022
Vita Obscura - Life Bizarre
Schwartz, Simon

Vita Obscura - Life Bizarre


ausgezeichnet

Was haben Charlotte von Mahlsdorf, Lee Miller und Wangari Maathai gemeinsam? Außer, dass sie den Lesenden vermutlich nicht bekannt sind, haben alle drei auch ein bemerkenswertes Leben gehabt. Und ihre Kurzbiografien finden sich in “Life Bizarre” von Simon Schwartz wieder.

“Vita Obscura – Life Bizarre” ist kein Comic im eigentlichen Sinn. Der Band besteht auch nicht aus Comic-Biografien, wie sie etwa in “Unerschrocken” zu finden sind. Vielmehr ist das Buch eine Kunstgalerie, bei der jede Seite ein neues vollkommen einzigartiges Werk zeigt. Simon Schwarz versteht es auf beeindruckende Weise, das Gesamtbild an die dargestellte Person anzupassen. Die verwendeten Stile sind vielfältig: Albert Göring wird in Kohleskizzen dargestellt. Ronald Gerald Waynes Seite besteht aus Computerfenstern. Renato Bialettis Seite ist mit Kaffeeflecken beschmiert. Mileva Marićs Seite gleicht einer Collage und Adele Spitzeder hat Kirchenfenster bekommen.

Äußerst positiv aufgefallen ist mir die Auswahl der portraitierten Personen. Die Auswahl an weißen Männern hält sich in Grenzen. Stattdessen stehen People of Color, queere Menschen, eine trans Frau im Mittelpunkt. Auch der Widerstand gegen den Nationalsozialismus nimmt Raum in den Biografien ein.

Da mutet es fast schon komisch an, dass die Biografien aus “Vita Obscure – Life Bizarre” seit 2019 wöchentlich im Magazin der F.A.Z. erscheinen, einer Zeitung die sonst beileibe nicht die progressivste ist. Ob es da immer wieder Shitstorms in der Leserbriefecke gibt? Seis drum.

Simon Schwartz jedenfalls hat in seinem Leben nicht nur Biografien gezeichnet. 2009 debütierte er mit dem Comic “drüben!” über die Ausreise seiner Eltern aus der DDR. 2012 erschien der Comic “Packeis” über den afroamerikanischen Seemann und Nordpol-Entdecker Matthew Henson. Hierfür erhielt Schwartz den Max und Moritz-Preis für den besten deutschsprachigen Comic. Außerdem gestaltete er ein Bildfries für die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Zentrale in Erfurt. Ein spannender Künstler, auf dessen zukünftige Projekte man gespannt sein darf.

Bewertung vom 30.10.2022
Vom Wacholderbaum
Tamarit, Núria

Vom Wacholderbaum


ausgezeichnet

Als Schriftsteller haben es die Brüder Grimm echt geschafft. Auch 160 Jahre nach ihrem Tod wird ihr Material noch neu aufgelegt und interpretiert. Und dabei mussten sie sich die Geschichten nicht einmal selbst ausdenken! Sehr clever. Nun hat die super spannende spanische Künstlerin Núria Tamarit das Märchen “Vom Wacholderbaum“ in einen Comic verwandelt. Lohnt sich die Rückkehr zu der alten Geschichte?

Alle, die keine Spoiler zur Handlung des Märchens lesen möchten, überspringen diesen Abschnitt bitte. “Vom Wacholderbaum” handelt – für alle, die es nicht kennen – von einer Stiefmutter, die den Sohn des verwitweten Mannes nicht annehmen will und schlecht behandelt. So schlecht, dass der eines Tages “versehentlich” seinen Kopf verliert. Die böse Stiefmutter lässt es aber durch eine List so aussehen, als habe ihre eigene Tochter dem Jungen den Kopf abgeschlagen. So wird dem Vater eine Lüge aufgetischt (im wahrsten Sinne des Wortes) und die Tochter schweigt aus Schuld. Als sie aber ihren Stiefbruder unter dem Wacholderbaum begraben will, verwandelt der sich in einen Vogel und bringt mit seinem Gesang die Wahrheit über die grauenvolle Tat ans Licht.

Ebenso wie bei “Toubab – Zwei Münzen” haben Tamarits Bilder einen einzigartigen und persönlichen Stil. Dabei unterscheiden sich die beiden Comics durchaus in Nuancen. In “Vom Wacholderbaum” haben die Figuren übergroße Knopfaugen und die Gesichter sind ein wenig detaillierter. Das passt gut zur Handlung, die den Fokus auf die Interaktion zwischen den Figuren legt.

Insgesamt hat mich “Vom Wacholderbaum” gut unterhalten, was besonders an Tamarits tollen Zeichnungen liegt. Schade fand ich, dass sie das Märchen “nur” in Comicform nacherzählt und der Geschichte keinen eigenen Twist gegeben hat.

Bewertung vom 15.10.2022
Schichten
Bagieu, Pénélope

Schichten


ausgezeichnet

In der leider immer noch sehr männlichen Comicwelt ist Pénélope Bagieu ein strahlendes feministisches Licht, das weiterhin hell leuchtet. Bekannt ist sie vielleicht über ihr großes Werk “Unerschrocken“, das die Biografien von dreißig bemerkenswerten Frauen in Comicform vereint. In “Schichten“ geht es nun nicht mehr um andere Frauen, sondern um Bagieu selbst.

“Schichten” vereint kurze und längere in sich geschlossene Episoden aus Pénélope Bagieus Leben. Einmal erzählt sie, wie sie sich von ihrer Katze verabschieden musste. Andere Storys handeln von ihrer ersten Geschlechtskrankheit, dem Tod ihres Vaters oder ihren körperlichen Veränderungen während der Pubertät. Manches ist lustig, denn Bagieu geht selbstironisch mit sich ins Gericht, einiges ist aber auch tragisch. Wieso sollte Bagieus Leben auch anders verlaufen als alle anderen. Die Comics schichten schöne auf traumatisierende Momente, Hochgefühle auf Depressionen und alles zusammen ergibt dann eben einen Menschen. Insofern regt “Schichten” zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit an und wer weiß, vielleicht hatte das Festhalten der Episoden auch eine therapeutische Wirkung auf die Autorin?

Im Gegensatz zu “Unerschrocken“, dessen Farben quasi ins Gesicht sprangen, sind die Panels in “Schichten“ schwarz weiß. In einem Artikel des Deutschlandfunks habe ich gelesen, dass die Geschichten eigentlich gar nicht zur Veröffentlichung gedacht waren. Sie entstanden nebenbei, als Kritzeleien und schnelle Notizen.

Diesem Skizzenhaften trägt die französische Edition sehr schön Rechnung, dort hat der Comic ein Gummiband und sieht aus wie ein Notizbuch. Auch im Deutschen hat Reprodukt sich wohl an Notizbüchern orientiert, durch das fehlende Gummiband ist die Ähnlichkeit aber leider nicht so deutlich.

Ich habe die teils sehr persönlichen Geschichten aus Bagieus Leben gern gelesen, einige blieben mir auch nachhaltig im Kopf. Eines allerdings hat mir gefehlt: der rote Faden, die Verbindung zwischen den Geschichten (abseits davon, dass es immer dieselbe Hauptperson ist). Die Geschichten sind nicht (für mich erkennbar) chronologisch oder thematisch angeordnet. Da empfand ich “Unerschrocken” von Bagieu als ein etwas runderes Vergnügen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.09.2022
Coming in
Font, Elodie

Coming in


ausgezeichnet

Wann hast du gemerkt, dass du queer bist? Die Journalistin Élodie Font hat sehr lange gebraucht, ihre inneren Barrieren zu durchbrechen und sich einzugestehen, dass sie lesbisch ist. Von diesem inneren Kampf zwischen gesellschaftlichen Erwartungen, Selbstbild und persönlichen Empfindungen handelt “Coming In“ autobiografisch. Font zeigt auf, dass “Coming Outs“ nur eine Seite der Medaille sind. Das “Coming In”, das Eingeständnis vor sich selbst, dass mensch nicht der Norm entspricht, auch das kann Zeit kosten und sehr schmerzhaft sein.

Der Comic folgt Protagonistin “Élo“ und zeigt sowohl erste sexuelle Erfahrungen, wie auch zunehmend verzweifelte Gespräche mit Freund*innen, die offenbar schon weit vor Elo über ihre sexuelle Orientierung Bescheid wussten. Autorin Élodie Font nimmt uns mit auf eine sehr persönliche Reise und lässt auch die Diskriminierung nicht aus, die ihr aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in Marokko widerfährt, während sie dort arbeitet.

Élos Leben ist nicht immer einfach und ihre Geschichte hat dunkle Kapitel, allerdings erzählt der Comic auch von vielen schönen und unterhaltsamen Momenten. Mir ist zum Beispiel Élos Boxkampf gegen ihr eigenes Unterbewusstsein sehr in Erinnerung geblieben. Insgesamt hat mich der Comic sehr berührt.

Ein weiteres Highlight neben der Geschichte an sich ist auch die zeichnerische Umsetzung von Carole Maurel. Maurel hat vorher schon „Magdas Apokalypse“ und “Waves“ gezeichnet. Ich mag ihren fließenden und leicht skizzenhaften Stil total. Die Bilder lohnen sich auch zum mehrfachen Durchsehen und zeigen, dass es dringend mehr Diversität im immer noch sehr männlich gehaltenen Comicbereich gibt. Mein Wunsch wäre, dass auch der Splitterverlag sich hier noch mehr Mühe gibt. “Coming In“ ist zumindest ein großer Schritt in die richtige Richtung. Natürlich ist mir bewusst, dass die Konsument*innen hier auch ein Wörtchen mitzureden haben, deshalb kann ich alle nur ermutigen: Kauft diesen Comic, erfreut euch an den Zeichnungen und der Geschichte und sorgt so mit dafür, dass sich queere Comics auch für die Verlage lohnen. Dankeschön.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.07.2022
Medusa und Perseus

Medusa und Perseus


gut

Medusa die Schlangenköpfige, Medusa die Mörderin, Medusa das Monster. Den Göttern sein Dank, dass der heldenhafte Perseus, Sohn des Zeus, die Welt von diesem Ungeheuer befreit hat. Das ist die weit verbreitete (und zutiefst misogyn-patriarchale) Darstellung des Mythos um die Gorgone Medusa, die eigentlich nur eine Nebenfigur ist in den Geschichten um den heldenhaften Halbgott Perseus. Dass Medusa von Poseidon vergewaltigt und – als wäre das nicht schlimm genug – ohne eigenes Zutun von der Göttin Athene verflucht wird, dass sie sich auf eine einsame Insel zurückzieht und trotzdem Mann um Mann kommt, um sie zu vernichten, dass sie das vielleicht alles gar nicht wollte – geschenkt.

André Breinbauer möchte in seinem Comic den Mythos radikal anders (siehe Rückseite) erzählen und eine feministische Perspektive einbringen. Ob ihm das gelingt?

Die alte Geschichte aus neuem Blickwinkel
Der Comic wartet mit einer ziemlichen Besonderheit auf: Er ist ein Wendecomic. Von der einen Seite aus ist Medusas Geschichte aus ihrem Blickwinkel nachvollziehbar. Umgedreht steht Perseus im Mittelpunkt. Die beiden Geschichten treffen sich in der Mitte – bei einer tragischen Szene.

Medusa wird dabei zum Opfer der Umstände. Sie ist nicht schuld an dem Leid, das ihr widerfährt. Sie ist auch unschuldig an dem Fluch, den Athene ihr aufbürdet und der ihre Haare zu Schlangen werden lässt. Zumindest ist sie in dem Moment handelnde Protagonistin, als sie sich für einen Ausweg aus ihrem Schicksal entscheidet.

Perseus ist noch ein Kind, der – ebenso wie Medusa – zu einem Spielball der Götter wird. Naiv lässt er sich lenken, obwohl er noch nicht mal wirklich einen Schwertstreich führen kann.

Das Grauen in Bildern
Ein paar kurze Worte zu den Bildern: Gezeichnet ist “Perseus und Medusa” schlicht und schön. Die getuschten Panels sind nicht so detailreich, dass sie überladen oder störend wirkend. Vielmehr macht das Ganze einen ziemlich runden Eindruck. Gerade wenn Breinbauer auf einzelnen Seiten aus der Panelstruktur ausbricht (z.B. als Athene verflucht wird), macht der Comic visuell echt Laune. Auch die Idee mit dem Wendecover und der Geschichte aus unterschiedlichen Blickwinkeln finde ich gelungen. Ich könnte also wirklich glücklich mit dem Cover sein, allerdings…

Schnipp Schnapp Kopf ab
Allerdings wurde mir hier im Vorfeld ein radikal feministischer Comic versprochen. Im Vorwort spricht Breinbauer gar von einer „entfesselten, gegen das Patriarchat aufbegehrenden Weiblichkeit, […] die zu ihrer eigenen Sprache findet.“ Sorry, aber das ist ein klarer Fall von “gut gemeint”.

Die Ansätze mögen stimmen: Die Geschichte wird auch aus Medusas Blickwinkel erzählt, Medusa erhält eine Stimme. Sie ist weniger Monster als Opfer, sie trifft zumindest in einem engeren Rahmen eigene Entscheidungen. Reicht mir das? Ganz klar Nein. Da hatte ich mir viel mehr erwartet. Breinbauer nimmt sich Freiheiten mit der Handlung (wo sind z.B. Medusas Schwestern Stheno und Euryale?), hat dann aber nicht den Mut, die Geschichte anders enden zu lassen? Der Kopf der Gorgone muss weiterhin ab? Medusas Selbstbestimmung besteht darin (falls ich da nicht zu viel hineininterpretiere), dass sie ihren Tod selbst wählt? Das soll diese “gegen das Patriarchat aufbegehrende Weiblichkeit” sein?

Wie es anders (und feministischer) geht, zeigt z.B. “Medusa“ von Jessie Burton. Unter anderem interpretiert das Buch Athenes “Fluch” als Schutzzauber, damit Medusa sich zukünftig gegen Übergriffe von Männern wehren kann.

Und war Perseus wirklich so ein strahlender Held? In “Pandora’s Jar” analysiert Natalie Haynes die überlieferten historischen Quellen und kommt zu dem Schluss, dass ein Mann, der die Hilfe mehrerer Gött*innen benötigt, um eine schlafende und wehrlose Frau zu köpfen, nicht unbedingt der tollste Hecht im Teich ist.

So bleibt mir nur als Fazit zum Comic zu sagen: Zu viel versprochen, zu wenig gehalten.

Bewertung vom 28.06.2022
Völlig meschugge?!
Steinhöfel, Andreas

Völlig meschugge?!


ausgezeichnet

Der Duden übersetzt “meschugge” als “nicht bei Verstand; verrückt”. Der Ursprung des Wortes kommt aus dem Hebräischen. Allein mit diesem Wort ist die Handlung des Comics “Völlig meschugge?!” schon ziemlich gut umrissen (siehe Inhaltsangabe). Ein ziemlich passender Titel also. Übrigens basiert der Comic auf einem Drehbuch, das unter demselben Titel auch für KiKA zu einer sechsteiligen Serie verfilmt wurde.

Worum gehts? Die drei Jugendlichen Charly, Benny und Hamid sind beste Freunde. Gemeinsam schlagen Sie sich durch den beschwerlichen Teeni-Alltag in der Schule, voller Ausgrenzung und Rassismus. Hamid ist aus Syrien geflüchtet, Charly organisiert Demos für mehr Umweltschutz und Benny ist der sportliche Überflieger der Klasse. Alle drei sind ganz unterschiedlich und doch sind sie durch nichts zu trennen, bis… naja, bis Bennys Opa im Sterben liegt und Benny eine Kette mit Davidstern hinterlässt. Da lassen die antisemitischen Kommentare nicht lange auf sich warten. Und als es in der Schule vermehrt zu Handydiebstählen kommt, erweist sich die Freundschaft der drei als doch nicht so krisenfest, wie erwartet. Alle drehen komplett durch, werden also quasi so richtig meschugge.

Direkt aufgefallen sind mir die Zeichnungen. Klassische Panelgrenzen fehlen, es wird mit verschiedenen Bildkompositionen experimentiert, die Farbe spiegelt die Stimmung wieder, zwischendurch gibt es Manga-Passagen, alles zusammen ein tolles Gesamtkunstwerk. Offensichtlich ist viel Herzblut in die Seiten geflossen. Auch die Figuren sind allesamt einzigartig in Körperhaltung und Darstellung. Das hat mir gut gefallen.

Genauso gut fand ich die Geschichte: Die Figuren handelten nachvollziehbar, die Konflikte sind realistisch und lange war mir nicht klar, wer die*der Strippenzieher*in hinter den Handydiebstählen war. Dabei greift der Comic Antisemitismus und Rassismus auf und stellt deren Folgen auch für jüngere verständlich dar. Viele der Szenen und Äußerungen im Buch finden so oder so ähnlich auf vielen Schulhöfen jeden Tag statt. Und auch das mutlose Verhalten der Lehrkräfte ist (leider) komplett nachvollziehbar. So kann “Völlig meschugge?!” vielleicht auch einen Beitrag zur Sensibilisierung von (nicht nur) Jugendlichen für Fremden- und Judenhass schaffen.

Ich werde ein Exemplar des Comics in unsere Klassenbücherei stellen. Schade ist, dass sich die Folgen der Serie in keiner Mediathek finden und auch nicht auf DVD verfügbar sind, ich hätte gerne Serie mit Comic verglichen. Aber zumindest den Comic kann ich von Herzen empfehlen.