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mimitatis_buecherkiste
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Krefeld

Bewertungen

Insgesamt 617 Bewertungen
Bewertung vom 22.01.2025
Brennende Himmel
Insolia, Mattia

Brennende Himmel


sehr gut

Teresa macht mit ihren Eltern Urlaub in Camporotondo, es ist ein heißer Sommer im Jahre 2000. Das sechzehnjährige Mädchen verliebt sich das erste Mal, als sie dem zwei Jahre älteren Riccardo begegnet, und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Im Winter 2019 überredet Riccardo seinen achtzehnjährigen Sohn Niccolò zu einer Fahrt nach Camporotondo, dahin, wo damals alles begann. Dort will er Niccolò erzählen, was geschah, als er und Teresa aufeinander trafen, in jenem schicksalhaften Sommer des Jahres 2000 in Sizilien.

»Niccolò wusste nicht genau, was geschehen war, doch hatte er, als er größer wurde, irgendwann aufgehört, Fragen zu stellen, und das Ereignis als eins der kleinen, abgeschmackten Geheimnisse seiner Eltern eingestuft. Aber eins war sicher: Worum es sich auch immer handelte, Teresa war noch nicht darüber hinweg.« (Seite 25)

Zu Beginn des Buches gibt es eine Warnung und den Hinweis darauf, dass der Text explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt sowie psychischer und physischer Gewalt in der Familie enthält, möchte ich gerne voranstellen. Ergänzend weise ich darauf hin, dass der Text beleidigende Schimpfwörter und diskriminierende Aussagen beinhaltet und auch eine Menge Zigaretten, Alkohol sowie weitere Drogen darin vorkommen. Tatsächlich ist es aber vorrangig die unflätige Sprache, die mich wiederholt gestört hat, obwohl ich natürlich verstehe, dass diese ein Mittel zum Zweck war. Das hat mir einfach ein klein bisschen den Gesamteindruck verhagelt, wenn ich das mal ganz dezent sagen darf. Dies ist der einzige Kritikpunkt, den ich zum vorliegenden Buch habe.

Nachdem mich das Debüt des Autors mit dem Titel „Die Hungrigen“ seinerzeit mehr als begeistert hat, war meine Erwartungshaltung riesig, was sein neues Werk angeht. Bereits das erste Kapitel konnte mich überraschen, weil die Richtung, die dieses vorgab, unerwartet kam. Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet, war aber danach umso gespannter darauf, zu erfahren, wie es zu dieser dramatischen Situation kommen konnte. Und Mattia Insolia enttäuschte mich nicht, er präsentierte mir ein Leben, das noch unschuldig war, bis Gefühle hochkochten und tragische Umstände dazu führten, dass nichts mehr so blieb, wie es einmal gewesen ist. Der Weg war hier das Ziel, dennoch erwischte mich die Auflösung kalt. Letztendlich sah ich rückwirkend vieles aus einem anderen Blickwinkel, was nicht weniger verstörend wirkte. Großartig!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.01.2025
Fast wie ein Bruder
Sulzer, Alain Claude

Fast wie ein Bruder


sehr gut

Wie Brüder sind sie aufgewachsen, Tür an Tür wohnten die Familien zusammen, private Tragödien überstand diese Freundschaft, bis ein Tabubruch einen Riss verursacht hat und ein Umzug die räumliche Trennung. Jahrelang pflegten sie sporadisch den Kontakt, bis eine Krankheit zur Annäherung führte, dies aber zu spät, denn eine Heilung gab es damals nicht. Ein rätselhaftes Ereignis verhilft dem einstigen Freund zum Ruhm, posthum bekommt er die Anerkennung, die er zeitlebens gesucht hat, und der Überlebende fragt sich, warum er nicht schon früher den Wert dieser außergewöhnlichen Freundschaft erkannt hat und das Genie, das dahintersteckt.

»Frank schien sich in Tiefen zu bewegen, die mich vielleicht verschlungen hätten. Er sprach nicht darüber. Ich beneidete ihn so wenig darum, wie ich ihn bedauerte. Wir kannten uns viel zu lange, um dem anderen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war. Auch so verständigten wir uns mühelos. Wir waren noch immer wie Brüder.« (Seite 23)

Der Ich-Erzähler schildert seine Kindheit, vorrangig seine Freundschaft mit Frank. Er erinnert sich an gravierende Ereignisse, die dazu geführt haben, dass beide im Erwachsenenalter sich auseinandergelebt haben, der eine hier, der andere dort. Erst eine lebensbedrohliche Krankheit führt sie wieder zusammen und trennt sie kurz darauf, diesmal endgültig. Erst da realisiert der Mann, was er hatte und was er verlor. Trotzdem dauert es fast dreißig Jahre, bis ein bestimmtes Ereignis ihm endgültig vor Augen führt, wofür er blind gewesen ist.

Diese Erzählung war leise, zurückhaltend und dennoch erfolgte die Sezierung der vergangenen Zeiten klar, präzise und schonungslos ehrlich. Da blieb kein Raum für falsche Gefühle, der Protagonist gab Fehler und Versäumnisse zu, suchte die Schuld nicht bei anderen und blieb bewundernswert ehrlich. Das hat mir gefallen, auch wenn für mich zuletzt viele Fragen offen geblieben sind, was gewollt war und wahrscheinlich gut, denn so blieb viel Raum für Interpretationen und Diskussionen, die sich daraus ergeben. Lesenswert!

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 17.01.2025
Klaus Barbie
Jean-Claude, Bauer;Fréderic, Brrémaud

Klaus Barbie


ausgezeichnet

Die vorliegende Graphic Novel beleuchtet das Leben und die fürchterlichen Taten von Nikolaus Barbie (Spitzname: Klaus), einem am 25. Oktober 1913 geborenen SS-Mann, genannt »Der Schlächter von Lyon«. Barbie hat es nach dem Krieg geschafft, unterzutauchen und im Gegensatz zu seinen unzähligen Opfern jahrzehntelang ein nahezu unbehelligtes Leben zu führen, bis er im Jahr 1983 nach einer gescheiterten Entführung letztendlich doch noch durch die bolivianische Regierung ausgeliefert worden ist. Im Mai 1987 begann in Frankreich ein aufsehenerregender Prozess gegen den Kriegsverbrecher.

»Der Prozess gegen Klaus Barbie ist der erste Prozess, der in Frankreich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt wird. Und da es nicht nur darum geht, einen Mann, sondern ein ganzes System zu verurteilen, wird das Verfahren vollständig gefilmt und von mehr als 600 Journalisten aus der ganzen Welt beobachtet. Dieser Prozess wird in die Geschichte eingehen.« (Seite 91)

Als Klaus Barbie der Prozess gemacht wurde, war ich noch zu jung, um richtig erfassen zu können, um was es geht. Natürlich war ich thematisch in der Lage, zu verstehen, was ihm zur Last gelegt wurde, allerdings habe ich der Gerichtsverhandlung damals noch nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken können, sodass ich umso erfreuter war, als ich die Graphic Novel entdeckte, da mir der doch eher ungewöhnliche Name bis heute im Gedächtnis geblieben ist.

Die Aufteilung der Graphic Novel in verschiedene Bereiche war klug gewählt, allerdings ergab sich dadurch auch das Problem, dass gerade zu Beginn ein klein wenig der rote Faden fehlte, weil es etwas chaotisch wurde wegen der vielen Zeitsprünge. Dazu kommt, dass es schwierig ist, besonders die politischen Verwicklungen auf so wenigen Seiten wiederzugeben, sodass ich manchmal das Gefühl hatte, nicht folgen zu können. Die zeitliche Zuordnung wird aber in einem Dossier mit der Überschrift »Klaus Barbie - Ein Kind des Fanatismus« von Jean-Olivier Viout, dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt von Lyon beim Prozess, sehr gut abgebildet, sodass sich ein ziemlich genaues Bild ergab.

Insgesamt eine phantastisch gezeichnete Graphic Novel, die mich, insbesondere was die Zeugenaussagen angeht, emotional sehr berührt hat. Wer sich intensiv mit der Person Klaus Barbie beschäftigen möchte, dem würde ich zusätzlich zu einem ausführlichen Sachbuch raten, wer aber, wie ich, seinen Horizont erweitern und sich informieren möchte, wer dies war und was es mit dem spektakulären Prozess auf sich hat, dem lege ich diesen Comic für Erwachsene ans Herz.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.01.2025
Aschezeichen / Liv Jensen Bd.2
Engberg, Katrine

Aschezeichen / Liv Jensen Bd.2


ausgezeichnet

Ein Familienvater wird ermordet, während er mit seinen Kindern in Jütland auf einer Insel zelten ist. Die vierzehnjährige Shirin findet ihn tot im Zelt, flieht und versteckt sich bei einem Verwandten, während der Bruder verschwunden bleibt. Der Leiter der Mordkommission bittet die Privatdetektivin Liv Jensen um Unterstützung, die sich mit vollem Einsatz in die Ermittlungen stürzt. Diese führen sie dreißig Jahre in die Vergangenheit, zurück in ein Flüchtlingslager, in dem das iranisch-dänische Mordopfer seinerzeit auf die Bewilligung seines Asylantrags gewartet hat.

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den zweiten Teil der Reihe mit der Privatermittlerin Liv Jensen, deren Auftakt mit dem Titel »Glutspur: Die Wurzeln des Schmerzes« mich vor längerer Zeit außerordentlich beeindruckt hat. Um dem aktuellen Fall folgen zu können, sind keine Vorkenntnisse erforderlich, um die Verwicklungen der drei im Vordergrund stehenden Personen zu verstehen ist es allerdings von Vorteil, die Reihenfolge einzuhalten und mit dem ersten Band zu beginnen. Dieses Buch ist nicht ganz so undurchschaubar aufgebaut wie der Vorgänger, was vorrangig daran liegt, dass die erwähnten Figuren und ihre Beziehung zueinander mir bereits bekannt waren, wobei sich viele Einzelheiten erst aus dem Kontext ergaben, da mir über ein Jahr später nicht mehr alles Wichtige im Gedächtnis geblieben ist. Dennoch hatte ich keinerlei Probleme damit, der Geschichte folgen zu können.

Ein komplexer Fall, Ereignisse, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, eine fremde Kultur, interessante Beteiligte sowie drei Hauptpersonen, die allesamt ihr eigenes Päckchen zu tragen haben; wieder einmal konnte mich die Autorin in eine Welt entführen, die mir unzählige spannende Stunden beschert hat. Einige Wendungen führten mich auf falsche Fährten, den Ausgang hätte ich mir dennoch nicht einmal annähernd so vorgestellt. Wie bereits im ersten Buch wurde der Kriminalfall restlos aufgeklärt, das Privatleben der drei Figuren allerdings bietet erneut viel Stoff für eine weitere Folge. Ich freue mich darauf!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.01.2025
Eigentlich bin ich nicht so
Aubert, Marie

Eigentlich bin ich nicht so


ausgezeichnet

Die Konfirmation von Linnea steht an, ein Fest wird geplant, die gesamte Verwandtschaft wurde eingeladen. Linneas Vater Bård will sofort danach ein neues Leben anfangen, das er bereits heimlich plant. Hanne, seine Schwester, kommt extra aus Oslo angeflogen, mit ihrer neuen Figur kennt sie noch niemand und auch sie fühlt sich noch nicht richtig wohl in ihrer Haut. Und Linnea selbst ist gar nicht bei der Sache, ihre Freundin ghostet sie, das ist ihr wichtiger, als das bevorstehende Fest. Wie das so im Leben ist, kommt es erstens anders und zweitens als man denkt.

»Ich höre mich normal an, rede, wie ich immer rede, und während wir gemeinsam lächeln, kommt es mir kurz so vor, als wäre alles wie früher. Sie merkt mir nichts an, hat keinen Verdacht geschöpft. Das erkenne ich an ihrem Lächeln, sie fühlt sich so sicher, mein Hals schnürt sich zusammen.« (Seite 11)

Ein Wochenende lang durfte ich die Familie begleiten, hörte sie erzählen und erklären, beschwichtigen und relativieren. Ich sah zu, wie Bård balancierte, zerrissen zwischen seiner Familie und dem möglichen neuen Leben, das er sich ausgemalt hat. Besser soll es werden, nicht mehr so chaotisch, er hat sich alles ganz genau vorgestellt. Hanne wiederum ist endlich schlank, zumindest nach außen hin. Im Inneren sieht es dagegen anders aus, ihre Ängste und Sorgen quälen sie. Linnea ist ein typischer Teenager, erlebt eine Tragödie und dramatisiert, wie das in dem Alter üblich ist. Ergänzt wurde das Quartett durch Nils, den Vater von Bård und Hanne, den jedes seiner Kinder ein bisschen anders sieht.

Mir hat das Wochenende mit den Ich-Erzählern viel Spaß gemacht, gerne hätte ich mehr Zeit mit ihnen verbracht. Ein wenig habe ich das Gefühl, beim Fest dabeigesessen zu haben. Aufregend war es und lustig, ein wenig peinlich wurde es zwischendurch auch. Eine typische normale Familie halt, der ganz normale Wahnsinn. Lesenswert!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 12.01.2025
Sag mir, was ich bin
Mannion, Una

Sag mir, was ich bin


ausgezeichnet

Deena Garvey hat ihren gewalttätigen Lebensgefährten Lucas verlassen und wohnt mit der gemeinsamen Tochter Ruby bei ihrer Schwester Nessa. Das ehemalige Paar teilt sich das Sorgerecht für die vierjährige Ruby. Eines Morgens bricht Deena zur Arbeit auf, kommt dort aber nie an, sondern verschwindet spurlos. Lucas behauptet, das ganze Wochenende mit Ruby und seiner Mutter verbracht zu haben, die diese Aussage bestätigt. Nessa ist überzeugt davon, dass Lucas Deena etwas angetan hat, beweisen kann sie dies aber nicht. Lucas zieht mit Ruby zurück ins Vermont zu seiner Mutter und unterbindet den Kontakt zu Deenas Familie. In der ländlichen Umgebung lernt Ruby zu überleben, ihr vergangenes Leben verschwindet allmählich aus ihrem Gedächtnis, bis ihr eines Tages ein Foto ihrer Mutter in die Hände fällt und sie zu hinterfragen beginnt, was Lukas ihr erzählt.

»Deena biss sich auf die Unterlippe. Nessa sah ihr an, dass sie mit den Tränen kämpfte. Ich sehe mich selbst als Schatten, wie ich mich durch alles bewege, was in meinem Leben vor diesem Abend passiert ist, aber ich sehe auch, wie das alles zerläuft, wie mich ein anderes Element verschluckt, mich quasi chemisch zersetzt, mich verbrennt.« (Seite 89)

Mit dem Ende fängt es an, aber ein Abschluss ist es trotzdem nicht. Unsortiert und zeitlich versetzt wird die Geschichte erzählt und trifft mich wahrscheinlich deswegen immer wieder mitten ins Herz. Durch die Zeitsprünge wird eine ungemeine Spannung erzeugt, die mich fast atemlos durch die Seiten trägt, denn unausgesprochen bleibt, was passiert ist, aber das, was zwischen den Zeilen steht, wirkt dadurch mit einer ungeheuren Wucht, die mich fast niederdrückt und an manchen Stellen verzweifeln lässt.

»Ich erinnere mich, wie ich dich das erste Mal mit Ruby im Arm gesehen habe, und wenn ich daran denke, erinnere ich mich, dass ich zwei Menschen betrauere.« (Seite 153)

Mal folge ich Ruby, man begleite ich Nessa, die Gefahr läuft, an dem Verlust ihrer Schwester und ihrer Nichte zugrunde zu gehen. Ihre Verzweiflung, ihre Trauer sowie ihr Schmerz sind bodenlos, mit ihr zusammen fühle ich Angst, Wut und Enttäuschung, verliere den Halt, wenn es erneut abwärts geht. Auch Rubys Leben verläuft nicht wunschlos glücklich, Lucas lügt, manipuliert und herrscht. Nach außen hin eine sorgenfreie Kindheit, in Wahrheit eher ein goldener Käfig, der Ruby zu zerstören droht.

Leise und unaufhaltsam nähert sich das Finale, ich halte zwischendurch wiederholt den Atem an. Irgendwann wurde aus dem Roman ein Krimi, unterbrochen von einer Tragödie mit True Crime-Elementen, oder zumindest nah dran. Mochte ich das erste Buch der Autorin mit dem Titel »Licht zwischen den Bäumen«, so bin ich hier fast euphorisch, so einen großen Sprung hat sie getan. Für mich ein Meisterwerk im Genre, das mich begeistert. Nicht ohne Grund steht das Buch auf der Krimibestenliste 2024, die 17 Literaturkritiker und Krimispezialisten für Deutschlandfunk Kultur ermittelt haben, auf Platz fünf von zehn. Ich schließe mich diesem Urteil mit Freude an.

6 von 6 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.01.2025
Die blaue Stunde
Hawkins, Paula

Die blaue Stunde


gut

James Becker, Kurator der Fairbun-Stiftung, der die verstorbene Künstlerin Vanessa Chapman ihre Kunst vermacht hat, erhält einen Anruf, weil in einer Skulptur der Verstorbenen, die die Stiftung verliehen hat, mutmaßlich ein menschlicher Knochen entdeckt worden sei. Um die Angelegenheit so diskret wie möglich zu klären, fährt Becker auf die abgeschiedene Gezeiteninsel Eris Island, auf der Chapman gelebt und die sie ihrer Vertrauten, der im Ruhestand befindlichen Ärztin Grace Haswell, vererbt hat. Haswell, gleichzeitig die Testamentsvollstreckerin der Erblasserin, besitzt eine Menge schriftlicher Aufzeichnungen von Chapman, die sie vor der Herausgabe durchsehen will und deswegen seit Jahren zurückhält. Dies ist nicht das einzige Ärgernis, auf das Becker stößt, während er nach der Wahrheit sucht.

»Bei Verstand bleibt man, indem man daran festhält - wenn man zu lange lockerlässt und seinem Verstand gestattet, Orte aufzusuchen, die er fürchtet oder nach denen er sich sehnt, riskiert man, dass er einem entgleitet. Man erlaubt es sich nicht, bestimmte Dinge wieder wachzurufen, wenn einem der eigene Verstand etwas wert ist.« (Seite 274)

Leider lässt mich dieses Buch nach dem Lesen sehr unbefriedigt zurück. Die Idee und auch den Aufbau des Buches kann ich lobend erwähnen, mir gefiel es, zwischen den Kapiteln wiederholt Bruchstücke der Aufzeichnungen der Künstlerin zu finden und auch die Rückblenden eine der zwei Hauptpersonen betreffend waren überaus interessant. Insgesamt konnte mich die Geschichte aber leider überhaupt nicht fesseln, denn abgesehen von einigen wenigen Passagen, die meine Aufmerksamkeit erregten, empfand ich die Erzählung als langatmig und überwiegend blass. Vielleicht hatte ich nach dem letzten Werk der Autorin falsche Vorstellungen, allerdings erwarte ich auch bei einem Roman eine gewissen Unterhaltungswert. Die Auflösung konnte mich zwar überraschen, aber das reicht mir persönlich nicht, um die Wertung zu verbessern. Schade, aber manchmal passt es einfach nicht.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2025
Scheue Wesen
Chambers, Clare

Scheue Wesen


ausgezeichnet

Helen Hansford arbeitet als Kunsttherapeutin in der psychiatrischen Klinik Westbury Park. Es sind die Sechzigerjahre, bestimmte invasive Behandlungen von Geisteskrankheiten wurden abgeschafft, die Kunsttherapie als neuer zusätzlicher Ansatz hinzugefügt. Mit William Tapping wird ein Patient eingeliefert, dem sie sich widmet, besonders als sie bemerkt, dass dieser mit einem großen künstlerischen Talent gesegnet ist. William lebte viele Jahre im Haus seiner Tante, ohne das Haus verlassen zu haben. Erst nach und nach kommen Einzelheiten zutage, die das ganze Ausmaß der Tragödie offenbaren.

»Die Polizei, die am Sonntag wegen Lärmbelästigung zu einem Haus in der Coombe Road gerufen worden war, entdeckte dort einen nackten Mann mit einem anderthalb Meter langen Bart, der als Einsiedler mit seiner älteren Tante zusammenwohnte. William Tapping, 37, ist stumm, und es ist davon auszugehen, dass er das Haus seit mindestens zehn Jahren nicht mehr verlassen hat.« (Seite 129)

Im Nachwort verrät Clare Chambers, dass ihr die Idee zum vorliegenden Buch gekommen ist aufgrund eines Zeitungsartikels, den sie gelesen hat. Aus dieser Perspektive bekommt die Erzählung für mich einen ganz besonderen Charakter, obwohl die Ereignisse rund um William natürlich vollkommen fiktiv sind.

Im Vordergrund steht eigentlich Helen, deren Affäre mit einem verheirateten Mann sie in Gewissensbisse und Grübeleien versetzt. Seit drei Jahren dauert diese unselige Beziehung bereits an und immer öfter merkt die junge Frau, dass Glück sich anders anfühlt. Es werden die üblichen Versprechen gemacht und zukünftige Taten in Aussicht gestellt. Dem gegenüber stehen Rückblenden, die William betreffen. Diese Reisen in die Vergangenheit erfolgen nicht chronologisch, die Sprünge scheinen auf den ersten Blick chaotisch und nicht zusammenhängend, aber für das Gesamtbild sind diese klug gewählt, denn die Spannung, die dadurch erzeugt wird, ist nicht zu unterschätzen. Beide Erzählstränge zusammen ergeben eine interessante und auch spannende Geschichte, die ich mir anders vorgestellt habe, durch deren Verlauf ich allerdings sehr angenehm überrascht worden bin. Insgesamt ein Buch mit wunderschöner Sprache und voller Wendungen, die unerwartet und passend gewählt wurden. Lesenswert!

8 von 8 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 06.01.2025
Fremder Champagner
Berscheid, Martina

Fremder Champagner


ausgezeichnet

In insgesamt fünfzehn Erzählungen nimmt uns Martina Berscheid mit auf eine Lesereise zu sehr unterschiedlichen Themen. Die Geschichten sind hierbei mal kurz und mal lang, nicht immer gibt es einen Abschluss, es bleibt manches ungesagt, wie im wahren Leben auch. Ob Verrat, Eifersucht, Unsichtbarkeit in einer langen Beziehung oder Einsamkeit, die Figuren in den Kurzgeschichten sind authentisch und oft wie am Rande einer Klippe unsicher balancierend, sich fragend, wo es hingehen mag.

Ich mochte alle Stories sehr, meine Favoriten aber sind »Familienfest« und »Gwen«. Ein Familienfest: Die Kinder sind erwachsen, die Mutter bestellt alle nach Hause, etwas Wichtiges gibt es zu verkünden. Alle kommen und sind gespannt, was dies für eine Neuigkeit sein mag. Aus mehreren Perspektiven erfuhr ich dabei die Gedanken und Gefühle der Familienmitglieder. Besonders berührt hat mich dabei die Sichtweise des Vaters, der immer mehr in die Demenz abdriftet und nicht so viel mitbekommt von diesem Familienfest, das keines war. In «Gwen« gehts um Einsamkeit, aber auch um Übergriffigkeit, die daraus erwächst. Diese Erzählung war so traurig, dass es fast wehgetan hat.

Insgesamt eine schöne Mischung, die mir gut gefallen hat. Gerne empfehle ich das Buch weiter.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.01.2025
Von guten Eltern
Russo, Richard

Von guten Eltern


sehr gut

Die Kleinstadt North Bath, Upstate New York, ist eingemeindet worden in die Nachbarstadt Schuylers Springs, nicht allen gefällt dieser Umstand. Als in dem seit Jahrzehnten leerstehenden Hotel Sans Souci eine Leiche gefunden wird, hat die neu ernannte Polizeichefin von Schuylers Springs viel zu tun, sie bittet Douglas Raymer, ihren Ex und ehemaligen Chef, um Hilfe. Peter Sullivan indessen hat alle Hände voll zu tun mit der Liste seines Vaters, auf der Menschen stehen, um die er sich kümmern soll. Unerklärlicherweise wird diese Liste täglich länger, was ein Besuch seines Sohnes, den er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hat, nicht einfacher macht.

»War es tatsächlich möglich, dass Birdie dieses eine Mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort war? Das war zwar noch nie der Fall gewesen, aber wo stand geschrieben, dass sie nicht wenigstens ein Mal in ihrem Leben Glück haben konnte? Ihr alter Freund Sully war der größte Pechvogel gewesen, den sie gekannt hatte, bis sich das Blatt für ihn auf einen Schlag gewendet hat. Warum sollte das nicht auch ihr passieren?« (Seite 13)

Dies ist nach »Ein grundzufriedener Mann« sowie »Ein Mann der Tat« der abschließende und voraussichtlich letzte Teil der North Bath-Reihe. Theoretisch sind alle Teile unabhängig voneinander lesbar, wovon ich allerdings besonders beim vorliegenden Buch abraten würde, weil alle Bände aufeinander aufbauen und Menschen, die nicht mehr dabei sein können, immer noch eine mal kleine, eine mal große Rolle spielen. Es gibt zwar permanent Wiederholungen und Erklärungen, diese reichen jedoch meines Erachtens nicht aus, um den Gesamtzusammenhang zu verstehen.

Nun also North Bath zum dritten und wahrscheinlich letzten Mal, was mich bereits vor dem Lesen etwas wehmütig machte. Ich habe mich auf ein Wiedersehen mit den Figuren gefreut, was leider dadurch getrübt wurde, dass ich davor gespoilert und mir verraten wurde, wer nicht mehr dabei sein wird. Dies werde ich in meinem Text zu vermeiden wissen. Wie bereits in den ersten beiden Teilen konzentrierte sich Richard Russo auch hier auf einige wenige Personen, die er in den Mittelpunkt stellte. Deren Leben umfasste weitere Menschen, die nebenher berücksichtigt wurden, sodass sich ein umfassendes Bild ergab, was seit den Ereignissen im letzten Buch passiert ist. Die erste Hälfte war dadurch zwar durchaus interessant, allerdings doch eher unspektakulär; ganz langsam steuerte der Autor auf Enthüllungen zu, die dem letzten Teil des Buches genau die richtige Würze gegeben haben. Für mich persönlich war dieser Abschluss stimmig und schon sehr nah am Auftakt der Reihe, der mich seinerzeit mehr als begeistert hat. Für ein Highlight reicht dies bedauerlicherweise nicht, aber für eine große Zufriedenheit meinerseits, dabei gewesen sein zu dürfen.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.