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jr17

Bewertungen

Insgesamt 36 Bewertungen
Bewertung vom 09.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


sehr gut

Hoffnungsvolle Wellen
Das Cover lässt keinen Zweifel: Bei Roisin Maguires Roman "Mitternachtsschwimmer" ist die altbekannte Faszination Meer der Dreh und Angelpunkt einer Geschichte über Freundschaft, Verlust und dem Neuen. Für mich ist es der erste Roman, der die Anfangszeiten des Lockdowns verarbeitet. Doch die Kulisse für diese Aufarbeitung ist ein Ort, an dem die Pandemie kaum angekommen ist: Ballybrady, ein kleines Dorf in Irland, ist so dünn besiedelt, dass die Pandemie nur in Form des Lockdowns und des Abstandhaltens eintritt, nicht aber in Form von vielen Kranken. Dies bietet Autorin Maguire eine spannende Grundlage für ihre Erzählung über ambivalente, sehr realistische Charaktere. Die schroffe Grace klingt nach einem Klischee, wird von Maguire aber auf sehr vielschichtig erzählt. Der tolpatschige Evan, den es nach Ballybrady verschlägt, ist weder Held noch Versagertyp. Und wird gerade in Situationen mit seinem Sohn Luca besonders nahbar.
Das ein oder andere Mal hätte ich mir gewünscht, dass Roisin Maguire etwas weniger erklärt, die Dinge stehen lässt, wie sie sind oder ihren Charakteren etwas mehr Veränderungszeit lässt. Doch insgesamt bleibt genügend Raum für die eigenen Gedanken. Der Roman entlässt mich mit warmen Dialogen, die im Gedächtnis bleiben.

Bewertung vom 03.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


sehr gut

Eindrückliche Familiengeschichte

Saba ist die unangefochtene Hauptperson in diesem Roman, der von Flucht erzählt, von Neuanfängen, zerstörten Existenzen und dem Wunsch, diejenigen wieder zu sehen, denen man am nächsten steht.
Es ist eine universelle Erfahrung, die hier im Kontext des georgischen Bürgerkriegs beschrieben wird: Eine Familie wird auseinandergerissen, weil sich nur ein Teil die Flucht leisten kann. Zwei Söhne müssen ohne ihre Mutter aufwachsen, der Vater kommt alleine kaum über die Runden. Der Traum vom Neuanfang im neuen Land ist eine Enttäuschung. Deshalb die Retrospektive nach Hause, zu dem und denjenigen, die zurückgelassen wurden.
Weder Saba noch seinen Vater lässt Georgien los. In einer spannenden Schnitzeljagd-ähnlichen Suche verlieren sich zuerst Vater, dann älterer Sohn und schließlich auch Saba selbst in einem Land, das doch eigentlich ihre Heimat sein sollte.
Gerade vor dem Kontext alter und neu aufflammender Konflikte, wird der Roman noch eindrücklicher, macht deutlich, wie im Krieg alle verlieren.

Bewertung vom 25.03.2024
Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
Berg, Sibylle

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter


sehr gut

Niedliche Geschichte

Lisa ist wohl nicht das einzige Mädchen, das sich alleine fühlt. Auch wenn Sibylle Berg am Ende schreibt "(...) Lisa, das einsamste Kind der Welt". Es sind Übertreibungen wie diese, die diese Graphic Novel so lesenswert machen: Sie zeigen beim Lesen, wie allgemeingültig Gefühle vom Alleinsein sind. Wie wenig Mobbing mit denen zu tun hat, die gemobbt werden und vielmehr damit, wie soziale Gefüge funktionieren und was passiert, wenn wir eine innere Stimme finden, die sich wehrt.
Die Illustrationen von Julius Thesing waren dafür wahnsinnig passend. Sie sind schlicht genug, um zum kindlichen Inhalt der Geschichte zu passen und doch wahnsinnig detailliert in manchen Bereichen - Mobber haben Flecken unter den Armen oder die Lehrerin eine zu große Brille und zwei Ketten auf einmal. Damit wird die Geschichte vollständig zum Leben erweckt.

Bewertung vom 22.02.2024
Trophäe
Schoeters, Gaea

Trophäe


sehr gut

Moralische Fragen

Es sind moralische Fragen, die Gaea Schoeters in ihrem Roman anspricht. Fragen, die zu stellen bereits Mut erfordert, ist ihre Antwort doch eigentlich so offensichtlich, dass bereits die Tatsache, sie in Frage zu stellen, bereits einem Affron gleichkommt.
In der Hauptperson Hunters (immerhin ist sie sich der Plattheit dieser Namensgebung bewusst und thematisiert sie kurz) vereint Schoeters das Feindbild der Tierschützer: Ein reicher US-Amerikaner, der zum Jagdvergnügen seit vielen Jahren nach Afrika kommt und nun die Big Five (Elefant, Löwe, Leopard, Büffel und Nashorn) mit der Jagd auf ein Nashorn voll machen möchte. Dabei wird der Ort "Afrika" weder weiter charakterisiert noch werden dessen Bewohner als gleichwertige Mitstreiter angesehen. Das Machtgefälle zwischen Hunter und seinem niederländischen Jagdbegleiter im Verhältnis zu denjenigen, die vor Ort wohnen, hat bereits einen unangenehmen Unterton. Doch als die beiden anfangen, junge afrikanische Jäger als die Option zu betrachten, die Big Six zu schießen wird deutlich, wie abgehoben und wie sehr entfremdet von allem und jedem die Mächtigen in diesem Roman sich fühlen. Schroeters beschreibt mit einer Klarheit, die fasziniert - man möchte das Buch kaum weglegen.

Bewertung vom 20.02.2024
ruh
Dost, Sehnaz

ruh


sehr gut

Kann man lernen, sich zu öffnen?

Cemal ist zunächst ein nahbarer Hauptcharakter. Es ist leicht, auf seiner Seite zu sein, hat er doch einen großen Gerechtigkeitssinn und eine noch größere Liebe zu seiner Tochter. Gleichzeitig wird im Laufe des Romans immer deutlicher, wie unnahbar er für seine Mitmenschen ist. Als Lesende lernen wir Eltern, Großeltern, selbst Urgroßeltern kennen, erfahren, was sie beschäftigt hat. Mit den Lebenden, die ihm am nähesten stehen, spricht er darüber jedoch kaum. Gleichzeitig ist die Sprache von Senaz Dost einnehmend - modern, assoziativ und sehr passend zum Inhalt des Romans. Alleine die für mein Empfinden fehlende Entwicklung der Charaktere, dämpft meine Euphorie. Allerdings: Auch das mag sehr bewusst gesteuert sein, um die Schwierigkeit zu erzählen, die es für Individuen hat, grundlegende Eigenschaften an sich selbst zu verändern.

Bewertung vom 24.11.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


sehr gut

Spannende Projektionen

Es sind die wohl prägendsten Menschen in unserem Leben: die Eltern. Ob auf Grund ihrer An- oder Abwesenheit ist häufig egal. Das zeigt auch Vigdis Hjorth in ihrem neuen Roman. Die Protagonistin hat seit Jahren keinen Kontakt zu Mutter und Schwester, der Vater ist bereits gestorben. Doch während sie immer wieder betont, dass sie mit dem Schweigen Frieden geschlossen habe, zieht es sie, kaum lebt sie wieder in der gleichen Stadt wie Mutter und Schwester, immer wieder zu deren Häusern. Sie kommt nicht los von den Gedanken darüber, was Mutter und Schwester wohl gerade tun, denken und fühlen. Egal, wie sehr sie sich einredet, dass es ihr gleich sei.
Als Künstlerin verarbeitet sie das Gedachte und Gesehene in ihrer Arbeit. Doch wie Unglücklich es machen kann, wenn man mit denjenigen Menschen nicht spricht, die einem am nähesten stehen könnten, wird auf frappierende Art deutlich.

Bewertung vom 31.10.2023
Baustellen der Nation
Banse, Philip;Buermeyer, Ulf

Baustellen der Nation


ausgezeichnet

Differenzierte Analysen

Die Flut der Podcasts, auch zu politischen Themen, ist riesig. Doch was die Lage der Nation seit Jahren auszeichnet ist die große Differenziertheit, mit der sich Ulf Buermeyer und Philip Banse dem Politischen widmen. So auch in ihrem nun erschienenen Buch zu ausgewählten Schwerpunktthemen. Wer den Podcast bereits seit einiger Zeit verfolgt, wird von der Themenauswahl nicht überrascht: Es sind die Dinge, die für Buermeyer und Banse zentral sind. Windkraft, Deutsche Bahn, Digitalisierung oder soziale Ungerechtigkeiten, um nur einige zu nennen. Dabei gehen sie nach der gewohnten Formel vor: Sie beleuchten ein Thema nach dem Ist-Zustand und fragen dann, was sein könnte. Den Weg dorthin beschreiben sie detailliert, machen deutlich, was als nächstes angegangen werden muss und warum einige der öffentlichen Debatten, die geführt werden, da nicht hinführen. Diese Art des konstruktiven Journalismus informiert nicht nur und gibt argumentatives Futter gegen Populisten, sondern macht am auch Mut.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2023
The Magic Border
Parks, Arlo

The Magic Border


ausgezeichnet

Eine eigene Welt

"thank you
for staying as long as you have"
Damit endet Arlo Parks The Magic Border. Es sind Gedichte und Fragmente, die persönlicher kaum sein könnten. Dabei verändert sie immer wieder Stil und Form, um das auszudrücken, was jedes einzelne Werk ausmacht. Die Zweisprachigkeit der Ausgabe macht sie besonders: Wer des Englischen mächtig ist, kann im Original lesen - wer einzelne Wörter oder Ausdrücke nicht kennt, kann allerdings auf die Übersetzungen von Amanda Mukasonga zurückgreifen. Die Fotografien von Daniyel Lowden machen diese Ausgabe noch wertvoller. Sie passen zum Schmerz aber auch zur Alltäglichkeit vieler Schriften. Mir gefällt der Ausdruck, jemand habe eine starke Stimme nicht. Denn welche Stimme ist schwach? Was Arlo Parks jedoch ganz sicher hat: ihre ganz eigene Stimme. Es habe sie Überwindung gekostet, die persönlichen Gedichte zu veröffentlichen und anderen zu zeigen. Als Leserin kann ich nur sagen: Danke für die Überwindung.

Bewertung vom 16.10.2023
Vom Himmel die Sterne
Walls, Jeannette

Vom Himmel die Sterne


weniger gut

Show, don't tell - es ist der grundlegende Leitsatz, nach dem Autorinnen und Autoren meiner Meinung nach arbeiten sollten. Er bedeutet: Zeige mir, was du mir sagen möchtest, aber sage es mir nicht. Leider klappt das in diesem Roman gar nicht. Immer wieder werden Metaphern und Geschichten eingestreut, deren Bedeutung für die Romanhandlung aus Sicht der Hauptfigur Sallie direkt im Anschluss erklärt werden.
Dazu kommen wilde Verkettungen von Geschehnissen. Hier eine Schießerei, dort eine Schwangerschaft und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Ereignisse recht unmotiviert aneinander gekettet wurden. Im Nachwort wird deutlich, dass sich Jeannette Walls an wahren Ereignissen der Zeit orientiert hat. Auch wenn sich das letzte Drittel des Romans in dieser Hinsicht etwas flüssiger liest, wünscht man sich doch, sie hätte etwas mehr erfunden und den Roman damit stimmiger gemacht.

Bewertung vom 05.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


ausgezeichnet

Sparen, sparen, sparen

Wenn die Mutter stirbt, ist das immer ein einschneidendes Erlebnis, selbst wenn man selbst nicht mehr der Jüngste ist. Wolf Haas lässt seinen Ich-Erzähler in seinem offenbar stark autobiografisch geprägten Roman die letzten Tage der Mutter und das, was da noch kommuniziert wird, in unnachahmlich Haas‘scher Manier schildern, fast so, als würde es einem mündlich erzählt. Die Verpflichtung, die Erinnerungen der Mutter an ein Leben, das immer darum kreiste, zu Eigentum zu kommen, in seinem Wissen zu bewahren, belasten den Erzähler, der eigentlich gerade eine Poetik-Vorlesung vorbereiten soll. Dabei scheint er kaum zu bemerken, dass das, was die Erinnerungen der Mutter mit dem Erzähler machen, eine prima Vorlage für seine Vorlesung sind. Das Ganze ist teilweise tieftraurig, aber auf jeder Seite auch gnadenlos schwarzhumorig.