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merkurina

Bewertungen

Insgesamt 7 Bewertungen
Bewertung vom 04.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


sehr gut

Ein witziges Cover: Dieses Buch gehört Wolf Haas - will es uns anscheinend sagen. Aber jetzt gehört es uns allen, das Buch:-)
Dabei enthält der Titel, dieses Wort und wie es hier verdoppelt wird, ganz viel, worum es auch im Buch geht. Nicht nur die etwas makabre Referenz an die verstorbene Mutter, die ihr ganzes Leben lang Wohneigentum ersehnte und nun - im Grab - das erste Mal welches gefunden habe. Es geht dem Autor auch vielleicht um die Eigentümlichkeit der Mutter, diese schwierige Person - und um sein Eigentum an Erinnerungen, die sich ihm eingeschrieben haben und die er mit dem Schreiben versucht loszuwerden.
Dabei ist die Position, die Wolf Haas einnimmt, zugleich distanziert und ganz nah dran an der Mutter, auf jeden Fall sehr sprachversiert und von einem großartigen Humor inklusive tiefer Selbstironie. Hierdurch zeichnet sich besonders der Anfang des Buches aus und streckenweise weitere Passagen, in denen der Autor in eigener Person spricht. Die mäandernde Wiedergabe der Erzählungen und Lamentos der Mutter hingegen, die beginnen im Buch immer mehr Raum einzunehmen, fand ich teilweise öde. Wahrscheinlich sehr angemessen, das so wieder zu geben, auch die Gesamtform des Buches macht Sinn - und doch, ich kann es drehen und wenden wie ich will, teilweise haben diese Passagen mir nicht besonders viel Spaß gemacht.
Wolf Haas refelktiert das Wesen der Wiederholung, das im Buch und im Lamentieren der Mutter liegt, selbst wiederholt (!) - und ja, das leuchtet ein, holt er doch, wie vor Demenz und Sterben die Mutter, das Erlebte und Erzählte immer wieder vor, holt es wieder und wieder. (Der Mutter, so scheint es, geht es zum ersten Mal gut, als sie das Meiste vergessen hat.)
Ich kannte Wolf Haas bisher nur als Wiener Krimiautor, dieses Buch hat mir noch einmal etwas anderes gezeigt, etwas (ebenfalls) sehr Österreichisches, da steh ich ja total drauf. Vermutlich sind sogar die Wiederholungen österreichisch - denn hier wurde die Psychoanalyse erfunden und ich finde das oft in der Literatur der Österreicher:innen, dieses Drehen und Wenden und Hin und Her der Worte. Wie so ein Ösi-Rap: "Und dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin. Und wieder zum Staube zurückkehrst. Hiphopper hergehört! Du bist Staub, Alter! Staub! Deine Mudda ist Staube!" (Eigentum, S. 149) Rap und Requiem...

Bewertung vom 17.05.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


ausgezeichnet

Ein Licht inmitten der Trauer
Durch Empfehlungen bin ich auf das Buch noch mal neu aufmerksam geworden. Bei der Lektüre dachte ich zunächst, ich würde enttäuscht: Es hebt recht melancholisch und düster an, sowohl, was Ellis Jetzt-Zeit in der Fabrik betrifft als auch die Rückblende auf die eher glücklose Ehe seiner Eltern. Zunächst spendet nur ein Bild mit Sonnenblumen Trost. Dann jedoch entfaltet sich die Geschichte von Ellis in weiteren Rückblenden und Zeitwechseln wie eine zarte, exotische Blume, die beginnt, einen sanften Duft auszustrahlen.
Im weiteren Verlauf treten neben Ellis mehr und mehr seine Frau Annie auf und vor allem sein Jugendfreund Michael. Die Geschichte ist gezeichnet von Trauer und Verlust - aber inmitten dessen versöhnt auf eine überraschende Art die Erinnerung an eben jene lichten Tage. Wunderbar sind die Schilderungen aus der Provence zu lesen, auch das späte Abenteuer Michaels dort hat mich sehr berührt.
Durch das Buch zieht sich eine unspektakuläre und wenig aufdringliche Erzählstimme, gleichzeitig erzählt sie Einiges Ungeheuerliches, fast so, als wäre es nichts Besonderes. Und wenn mich das anfangs eher gestört hat, so entfaltete es, je mehr ich in den Kosmos des Textes eintrat, einen eigentümlichen Zauber.

Bewertung vom 04.04.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


ausgezeichnet

Von merkurina
An diesem Buch stimmt einfach alles. Tolles Cover, Lesebändchen (juhu!) und ein faszinierender Erzählstil voller Kraft, Genauigkeit und Verletzlichkeit. Unerschrocken und unverblümt. Ich war von der ersten Seite an fasziniert und blieb es bis zum Schluss.
Es ist wirklich ein ganz besonderes Buch, das mich am ehesten an "Scherbenpark" von Alina Bronsky erinnert - auch dies damals ein Debütroman und bis heute vielleicht das beste Buch von ihr. Lisa Roys Debüt ist etwas weniger jugendfrei ("Scherbenpark" wurde ja offiziell öfter als als Jugendbuch gehandelt...), die Protagonistin hat die Pubertät und erste Berufsjahre hinter sich ... nur den Schmerz der frühen Jahre so ganz und gar nicht. "Keine gute Geschichte" ist wirklich zeitgenössische Literatur, die den Stand der Gesellschaft zeigt, indem sie ehrlich und unverblümt die Ränder zeigt. Und wenn das zu trocken klingt, zu wissenschaftlich - nein, das ist dieses Buch alles nicht: Es ist spannend, witzig, bitter, sprachversiert, sarkastisch und extrem klug. Mein bisheriges Highlight 2023, würde ich sagen.

Bewertung vom 03.03.2023
Wovon wir leben
Birnbacher, Birgit

Wovon wir leben


ausgezeichnet

Zwischen Stadt und Land
"Wovon wir leben" hebt stilistisch so an, wie ich "Ich an meiner Seite" von Birgit Birnbacher in Erinnerung habe: Glasklar, schnoddrig, ironisch - ein wacher Blick ins soziale Gefüge. Am Anfang des Buches ist die Protagonistin noch in der Stadt - nach schwerer Krankheit und einem fatalen Fehler am Arbeitsplatz zieht sie sich in ihren Heimatort zurück, holt neu Anlauf für eine noch unklare Zukunft. Kaum ist Julia im Innergebirg ändert sich der Ton - die Sprache wird verschwommener, weicher, diffuser. Man kann es poetisch nennen oder lyrisch, aber ich weiß nicht - der wache, erkennende Ton gefällt mir eigentlich besser und ist für mich Brigit Brinbacher at her best.
Ich mag das Buch trotzdem, aber erstens bin ich vielleicht einfach zu sehr selbst eine Städterin und zweitens bin ich vielleicht verblüfft, wie sehr sich dann doch das Dörfliche (zumal in Österreich?) in Mentalität und Rhythmus vom Städtischen unterscheidet. Drittens scheint die Literatur mit dem Leben in der Provinz ein wirklich zeitgenössisches Thema gefunden zu haben. Nicht nur (die mich weniger begeisternde) Juli Zeh hat's ja schon lange in die Provinz verschlagen, erst Recht beschriebt Judith Herrmanns "Daheim" einen weiblichen Rückzug aufs Land - in der frühen Mitte des Lebens, neu navigierend, was mit diesem Leben sei und sein könnte.
Judith Herrmann ganz im Norden, Birgit Birnbacher jetzt in den Bergen - diese beiden Bücher ähneln sich durchaus.
Ich mag nach dem Zuklappen des Buches die Wendungen und Unsicherheiten und das Tasten des Weges von Julia, mag das Offene und Verletzliche. Und habe mich im Übrigen auch gefragt, wieviel Pandemie auf eine verfremdete Art verarbeitet wurde (Atemnot, kurz vorm Sauerstoff, Rückzug ins Ländliche, Auszeit und Stillstand). Natürlich ist es auch ein Buch über Arbeit und Arbeitslosigkeit, wie die Autorin und auch das Feuilleton sehr nahelegen, aber ich finde das gar nicht so den einzigen Strang, der hier motivbildend ist. Auch wenn meine Erwartungshaltung bezüglich des Sprachstils sich nicht ganz erfüllt hat, ist es ein Buch über das ich noch öfters nachdenken werde.

Bewertung vom 08.10.2022
Tohrus Japan
Nakamura, Tohru

Tohrus Japan


sehr gut

Nach der "Lese"probe habe ich ein ähnlich genial-einfaches Kochbuch erwartet wie das von Uri Buri, einem Meister der israelischen Küche und großartigen Könner darin, das Raffinierte und absolut bescheiden-Simple zu verbinden.
Nun stelle ich fest, dass die japanische Küche wohl per se doch noch viel fremder und ungewohnter ist als gedacht. Oder: Dass sich Tohru Nakamura - der im Übrigen total sympathisch rüberkommt - kaum bemüht hat, Ersatzprodukte für sehr spezifisch japanische Zutaten zu empfehlen. Dadurch ist jedenfalls kein Buch entstanden, mit dem man gleich mal "loslegen" kann - noch nicht einmal, wenn man in der Großstadt wohnt. Wir werden das Pferd jetzt wohl gemütlich von hinten aufzäumen und erst einmal Kombu Dashi herstellen - jedenfalls wenn wir rausbekommen haben, wo die dafür notwendigen Algen zu erwerben sind. Dieses Dashi wird dann nämlich bei einer Reihe von Gerichten als Würzmittel eingesetzt...
Nun ja, die Befürchtung bleibt, dass es kein alltagstaugliches Buch ist, dass man in Gefahr gerät, alles mögliche umständlich anzuschaffen, das dann hauptsächlich rumsteht, weil man es nicht ständig verwenden kann etc. Aber es ist ein schönes Buch und man erfährt auch wirklich Einiges über die japanische Küche und einen interkulturellen Koch!

Bewertung vom 31.08.2022
Jahre mit Martha
Kordic, Martin

Jahre mit Martha


ausgezeichnet

Einerseits steht das sehr besondere Begehren zwischen Martha, der deutlich älteren Professorin und dem 15jährigen Jimmy, der eigentlich Željko heißt und bildungshungriger Sohn einer bosnisch-kroatischen Einwandererfamilie ist, im Mittelpunkt dieses Romans. Besser noch gesagt: Es bildet seinen Rahmen. Andererseits geht es noch um einiges andere, um Charme und Scheitern eines aufstiegsinteressierten Jungen aus dem tiefsten Arbeitermillieu, um das Leben als Kind von Immigranten, um Sichtbarkeit und Unsichbarkeit, um Familie und Klassenunterschiede. Und in der überraschenden Parallelbegegnung mit dem Münchner Dozenten Alex zeigt sich auch ein weiteres und noch viel deutlicheres Spiel zwischen Macht, Akademie und Anziehung...
So überschreitet Martin Kordic immer wieder thematische Grenzen, führt ganz nebenbei eine überraschende und ziellose Bisexualität ein, verlässt erotische Gefilde genauso, um den Boden zwischen allen Stühlen, auf denen das Leben des Protagonisten steht, sachlich auszumessen.
Ich habe diesen interessanten, herben Roman recht flink und wirklich gerne gelesen.

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Bewertung vom 02.12.2020
Aus dem Schatten des Vergessens / Victor Lessard Bd.1
Michaud, Martin

Aus dem Schatten des Vergessens / Victor Lessard Bd.1


ausgezeichnet

Ideenreich und (fast zu) komplex...
Ich hatte Schwierigkeiten in das Buch reinzukommen, der Anfang ist recht umständlich und auch reichlich brutal. Ohne Rezensentinnen-Pflicht hätte ich es womöglich bald wieder auf einen Stapel gelegt und die Lektüre auf einen unbestimmten Zeitpunkt vertagt - nicht unbedingt ein gutes Zeichen für einen Thriller. (Dieser ist außerdem als dickes Paperback zunächst recht unhandlich, die Seiten müssen bei dem backsteinähnlichen Teil anfangs ganz schön gebändigt werden...)
Plötzlich entwickelte das Buch aber einen ziemlichen Sog und ich zog mich ein verlängertes Wochenende, immer wenn es möglich war, aufs Sofa zurück, um weiter zu lesen. Was sich auch empfiehlt, um in dieser etwas überkomplexen Handlung nicht den Faden zu verlieren...
Ein spannender Schmöker, aber die Ideen des Autors hätten vermutlich auch für drei Thriller gereicht. So nimmt die Handlung wirklich viele Abzweige, jede Spur für sich scheint schon kompliziert angelegt, aber kaum ist sie zu Ende verfolgt, zeigt sich, dass noch etwas ganz anderes hinter allem steckt - bzw. jemand ganz anders. Hinzu kommen noch "Familienangelegenheiten", die auch recht kompliziert konstruiert sind.
Ein herausragender Thriller ist meiner Ansicht nach natürlich keineswegs eindimensional, aber vielleicht doch etwas klarer strukturiert.
Last not least empfinde ich die Figurenzeichnung von Jacinthe, dem weiblichen Teil des Ermittler*innen-Duos etwas diffamierend. Augenscheinlich ist sie immer etwas doofer als ihr Kollege Victor, ihre Thesen sind uninspirierter und tragen weniger zu Auflösungen bei, außerdem ist sie lesbisch, grob und dick und isst ständig. Ganz das Gegenteil von Nadja, dem engelsgleichen Geschöpf an Victors Seite. Naja...