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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
leukam
Wohnort: 
Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 15.02.2025
Von hier aus weiter
Pásztor, Susann

Von hier aus weiter


ausgezeichnet

Weiterleben
Schon in ihrem 2017 erschienenen Roman „ Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster“ ging es um Tod und Trauer. Dass sich die Autorin, die als ehrenamtliche Sterbebegleiterin arbeitet, mit diesem Thema auskennt, beweist sie auch in ihrem neuesten Buch „ Von hier aus weiter“.
An ein Weitergehen mag Marlena nicht mehr glauben. Nach dreißig Ehejahren und dem Selbstmord ihres Mannes steht sie nun allein da . So war das nicht geplant. Deshalb ist Marlena nicht nur traurig, sondern auch wütend. Einsam und lebensmüde zieht sie sich immer mehr zurück, lehnt jegliche Hilfsangebote stur ab.
Dabei war sie es lange gewohnt, alleine zu leben, hat ihre Unabhängigkeit geliebt. Sie war nicht mehr ganz jung, als sie Rolf geheiratet hat. Ihn, einen Witwer mit drei fast erwachsenen Söhnen, hat sie damals über eine Kontaktanzeige kennengelernt. Es war eine glückliche Ehe. Marlena arbeitete weiter als Grundschullehrerin, Rolf hatte bis zu seinem Ruhestand eine gut gehende Landarztpraxis. Alles lief bestens, bis seine Krebsdiagnose ihr beschauliches Leben auf den Kopf stellte.
Die Tage nach der Trauerfeier übersteht Marlena nur mit Hilfe von Beruhigungsmitteln. Eigentlich hält sie nichts mehr am Leben.
Doch dann benötigt Marlena einen Klempner, der ihre defekte Dusche reparieren soll. Der Handwerker entpuppt sich als ehemaliger Schüler von ihr. Jack, so heißt der junge Mann, braucht dringend eine Unterkunft und Marlena bietet ihm ihr Gästezimmer an.
Jack revanchiert sich, in dem er für beide kocht und sich auch sonst um seine Gastgeberin kümmert. Langsam freunden sie sich an und Marlena nimmt wieder mehr Anteil am Leben.
Sie geht auch wieder ans Telefon und erfährt so, dass ihre alte Freundin Wally einen Brief von Rolf an sie hat. Den muss sie aber persönlich in Wien abholen. Jack lässt Marlena nicht allein die weite Strecke fahren. Und mit von der Partie ist auch Ida, die junge Ärztin, die Rolfs Praxis übernommen hat. Eine Art Roadmovie beginnt, mit einem überraschenden Ende.
Susann Pásztor erzählt hier von einer Frau, die wieder lernen muss, ins Leben zurückzufinden. Denn: Wie lebt es sich weiter, wenn der geliebte Mensch tot ist? Marlena reagiert mit Rückzug, doch es braucht Menschen aus ihrem Umfeld, die einfach da sind, zuhören und Mut machen, damit ihr ein Neubeginn gelingen kann. Und ihre Enttäuschung und Wut kann der Leser erst richtig einordnen, wenn er die genaueren Umstände kennt.

Auch in diesem Roman verbindet die Autorin ein schweres Thema mit erzählerischer Leichtigkeit. Es gibt immer wieder Situationen voller Komik, und Witz in den Dialogen. Besonders ans Herz wachsen einem die Figuren, die liebevoll und sympathisch gezeichnet sind. Und dieses Mal tragen noch eine Prise Magie und eine beginnende Liebesgeschichte zum Zauber der Erzählung bei.
Mag manches auch zu schön um realistisch zu sein, so ist es doch eine Lektüre, die Hoffnung macht und zum Nachdenken anregt.

Bewertung vom 04.02.2025
Halbe Leben
Gregor, Susanne

Halbe Leben


ausgezeichnet

Psychologisch stimmige Frauenporträts
Die Geschichte beginnt äußerst dramatisch. Gleich auf der ersten Seite stürzt bei einer Wanderung eine der Hauptfiguren in die Tiefe. Und der Leser fragt sich, wie es dazu kommen konnte.
Danach Rückblende: ein Jahr zuvor.
Klara, eine Frau Ende Dreißig, arbeitet als Architektin in einem renommierten Architekturbüro. Die Arbeit macht ihr Spaß und wird sehr gut bezahlt. Das ist auch notwendig, denn ihr Mann Jakob verdient als Photograph kaum etwas. Um die zehnjährige Ada kümmert sich Irene, Klaras Mutter. Das bisher funktionierende Gefüge der Familie bricht zusammen, als Irene einen Schlaganfall erleidet. Sie kann nicht mehr für sich selbst sorgen und braucht rund um die Uhr Betreuung. Klara kann das unmöglich neben ihrem arbeitsintensiven Job leisten. In ihrer Not wendet sie sich an eine Agentur für Pflegekräfte. Und nun kommt Paulina ins Haus, die sich die Arbeit im zweiwöchigen Rhythmus mit Radek teilt. Alle sind glücklich. Irene versteht sich gut mit ihrer Betreuerin; Klara kann sich wieder mit voller Kraft ihrer Arbeit widmen. Denn Paulina macht mehr als nötig, kocht für die ganze Familie, führt den Hund aus und hilft bei Festen. Dafür gibt es dann schon mal ein paar Scheine mehr.
Und die kann Paulina gut gebrauchen. Denn seit der Scheidung von ihrem Mann ist sie allein verantwortlich für die beiden halbwüchsigen Söhne. Ihr Gehalt als Krankenschwester hat hinten und vorne nicht gereicht. Einzig um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, hat Paulina diese Arbeit angenommen. Nur deshalb pendelt sie alle zwei Wochen zwischen der Kleinstadt in Slowenien und dem oberösterreichischen Kremstal hin und her. Die Söhne werden während ihrer Abwesenheit von der Schwiegermutter betreut.
Aber die Situation ist für Paulina natürlich alles andere als leicht. Ständig plagt sie das schlechte Gewissen, nicht für ihre Söhne da zu sein. Auch die leiden naturgemäß unter der Trennung. Und Paulina fragt sich, ob es die richtige Entscheidung war, sich für eine fremde Familie aufzuopfern, während ihre eigene auf der Strecke bleibt.
Susanne Gregor greift hier ein Thema auf, das in unserer alternden Gesellschaft immer mehr Menschen betrifft. Wir holen uns Arbeitskräfte aus ärmeren Ländern, die uns bei der Pflege und Betreuung unterstützen. Doch was bedeutet das für diejenigen, in der Regel sind es Frauen, die dafür ihre eigene Familie vernachlässigen müssen? Und welche Folgen hat das für die zurückgelassenen Kinder? Und was heißt das für die Infrastruktur eines Landes, wenn so viele Arbeitskräfte abwandern?
Die Autorin beleuchtet aber nicht nur diesen Aspekt, sondern geht auch auf das komplizierte Verhältnis zwischen Klara und Paulina ein. Klara ist freundlich und verständnisvoll, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Die Extradienste, die Paulina anfangs freiwillig übernommen hat, werden zwar honoriert, aber auch immer mehr eingefordert. Dabei übersieht Klara völlig, dass auch Paulina ein eigenes Leben hat und unter ganz anderen Zwängen steht als sie selbst.
Aber Klara führt ebenso ein „ halbes Leben“, wenn auch ein privilegierteres. Ihren Erfolg im Beruf bezahlt sie mit einem enormen Arbeitspensum und dem Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Denn ihr ist nicht entgangen, dass ihre Tochter Ada ein weitaus besseres Verhältnis zur Oma hat als zu ihr.
Die dritte spannende Frauenfigur ist Irene. Sie hat ihre Tochter allein großgezogen, sich als Gymnasiallehrerin ihren Unterhalt verdient und legt auch als pflegebedürftige Frau Wert auf Selbstbestimmung und Würde.
Die Männer im Roman spielen eine eher unrühmliche Nebenrolle. Jakob ist zwar lieb und nett, aber keine wirkliche Stütze. Und Paulinas Mann entzieht sich gleich der Verantwortung und gefällt sich darin, seiner Ex- Frau Vorwürfe zu machen.
Die Situation im Roman spitzt sich immer mehr zu und eskaliert auf der eingangs beschriebenen Wanderung. Aber Susanne Gregor hat keinen Krimi geschrieben.
Stattdessen ist ihr ein äußerst feinfühliger, psychologisch stimmiger Roman gelungen. Sie erzählt wechselweise aus Klaras und Paulinas Perspektive. In vielen kleinen Alltagsszenen werden die Verschiebungen im Beziehungsgefüge deutlich. Es sind unterschiedliche Lebenswelten, die hier aufeinanderstoßen, wobei von vornherein ein Ungleichgewicht besteht. Verständnis kann man für beide Frauen aufbringen, wobei das größere Mitgefühl Paulina gilt.
Susanne Gregor, in Slowenien geboren, seit ihrem neunten Lebensjahr in Österreich heimisch, hat mit diesem Roman endgültig bewiesen, dass sie zu den interessantesten Autorinnen der österreichischen Gegenwartsliteratur gehört.

Bewertung vom 31.01.2025
tiptoi® Meine Lern-Spiel-Welt - Logisches Denken
Neubauer, Annette

tiptoi® Meine Lern-Spiel-Welt - Logisches Denken


sehr gut

Abwechslungsreich
Bücher und Spiele mit dem Tiptoi -Stift verknüpfen Spiel und Spaß mit Lerninhalten und sind eine gute Möglichkeit für die Eigenbeschäftigung von Kindern.
Mit diesem neuesten Buch soll logisches Denken vermittelt und geübt werden. In einer Rahmenhandlung begleiten wir den kleinen Tiger Theo auf einer Reise. Los geht es von Zuhause und dann weiter ans Meer, in Höhlen und Bergen und in den Wald. Wir sind in einem Schloss und auf einem Jahrmarkt. Auf jeder Doppelseite gilt es zwei bis drei Aufgaben zu lösen. Dabei variieren die Schwierigkeitsgrade, so dass schon kleine Kinder Erfolgserlebnisse haben und Ältere sich nicht langweilen. Man muss genau beobachten und aufmerksam zuhören. Mal sollen Reihen weitergeführt , mal Fußspuren erkannt werden. Oder es geht darum, Schattenbilder zuzuordnen, Reime zu ergänzen und Mengenangaben zu bestimmen. Sudoku- Freunde kommen auch auf ihre Kosten. Die beiden Lieder im Buch sorgen für eine kleine Lernpause..
Fazit:
Das Buch bietet abwechslungsreiche Aufgaben und Rätsel und dürfte auf großes Interesse bei der Zielgruppe stoßen . Auch wenn die Bilder nicht ganz meinen Geschmack treffen, so bin ich mir sicher, dass Kinder ihre Freude daran haben werden.

Bewertung vom 30.01.2025
Bohrer, Lampe, Spülmaschine / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.76
Erne, Andrea

Bohrer, Lampe, Spülmaschine / Wieso? Weshalb? Warum? Junior Bd.76


ausgezeichnet

Wieder sehr gelungen
Dies ist bereit der 76. Band aus der beliebten Reihe „ Wieso Weshalb Warum? Junior“ und wieder ein sehr gelungener.
Auf 16 Seiten erfahren Kinder ab zwei Jahren Wesentliches über alltägliche Haushaltsgeräte und Maschinen. Eingeteilt in die verschiedenen Lebensbereiche einer Wohnung, geht es von der Küche bis zur Werkstatt und in den Garten. So vermitteln kurze Texte und anschauliche Bilder Informationen über Elektrizität, über Küchen - und Gartengeräte, über verschiedene Medien usw. Die bewährten Klappen gewähren einen Blick in das Innere der Spülmaschine oder den Rasenmäher. Andere Klappen laden zur Interaktion ein, so kann man z.B. einen Rolladen runterlassen oder Batterien wechseln.
Sogar der Hinweis auf Gefahren fehlt nicht.
Positiv hervorzuheben ist auch, dass bei der Darstellung auf Diversität geachtet wurde und dass keine alten Rollenklischees verbreitet werden. Hier sieht man Papa beim Befüllen der Waschmaschine und beim Bügeln, während Mama gekonnt mit der Bohrmaschine umzugehen versteht.
So kann ich auch den neuesten Band uneingeschränkt empfehlen.

Bewertung vom 16.01.2025
Über allen Bergen
Goby , Valentine

Über allen Bergen


sehr gut

Ein leises und poetisches Buch
Es ist mitten im Winter des Jahres 1942, als der 12jährige Vincent in Vallorcine, einem Bergdorf im Schatten des Mont Blanc ankommt. Der Junge hat Asthma und die klare Bergluft wird seinen empfindlichen Bronchien guttun. Doch seine Krankheit ist nicht der einzige Grund, warum er mutterseelenallein in die französischen Alpen geschickt wurde. Sein Leben wäre in Gefahr, wenn er weiterhin in Paris bliebe. Dort ist er als Vadim in einem Arbeiterviertel aufgewachsen, mit einem russischen Vater und einer französischen Mutter. Sein Vater und seine Großeltern sind Juden. Und obwohl Vadim katholisch getauft wurde, muss er nun seine frühere Identität abstreifen und als Vincent ein neues Leben führen.
Die Familie, die ihn aufnimmt, behandelt ihn wie einen Sohn. Und auch die Dorfbewohner und der Pfarrer heißen ihn willkommen.
Aber für das Stadtkind ist hier alles fremd und neu. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er so viel Schnee, zum ersten Mal die Berge. Der Junge ist fasziniert von den majestätischen Gipfeln und dem vielen unterschiedlichen Weiß des Schnees. Langsam wird er vertraut mit dem Alltag der Dorfbewohner. Es ist ein einfaches und mühsames Leben, geprägt vom Rhythmus der Natur. Vincent hilft mit bei den Arbeiten auf dem Hof, ist dabei, als ein Kalb geboren wird. Und als das Frühjahr kommt, gibt es für die Kinder des Dorfes einiges zu tun. Vincent hat eine eifrige Freundin, die ihm alles zeigt und erklärt. Die 10jährige Moinette amüsiert sich über seine Unwissenheit . „ Noch nie Huflattich gesehen?“ „ Noch nie Kröteneier gegessen?“ „ Noch nie Vögel singen gehört!“ So nimmt sie ihn unentwegt auf den Arm, aber Vincent ist ein gelehriger Schüler. Er saugt alles Neue begierig auf, versucht einer von hier zu werden. .
So begleitet der Leser diesen liebenswerten Protagonisten durch drei Jahreszeiten. Und in drei große Kapitel ist der Roman auch eingeteilt. „ Weiß“ für Winter, „ grün „ für Frühling, „ gelb“ für Sommer. Jede Jahreszeit bringt für den Jungen neue Erfahrungen. Alles nimmt er intensiv wahr, Farben, Bilder, Töne, Gerüche. Vor allem die Farben spielen eine große Rolle, denn Vincent ist Synästhetiker. Jeder Buchstabe steht für ihn mit einer bestimmten Farbe in Verbindung. So wundert es nicht, dass der Junge seine Umgebung in selbstgemalten Bildern festhält.
Auch die Autorin spricht mit ihrem Roman die Sinne an. In unendlich vielen Variationen werden die Eindrücke des Jungen geschildert. Die vielen Weißtöne, das frische Grün des Frühlings, das Gold der Felder im Sommer, überhaupt die Schönheit der Natur -all das wird mit viel Poesie beschrieben. Wir sehen alles durch den offenen und unverfälschten Blick eines Kindes.
Vincents Entwicklung steht im Zentrum des Romans. Weg von zuhause muss er sich in eine fremde Umgebung integrieren. Die intensive Begegnung mit der Natur, die Gemeinschaft im Dorf, Freundschaften und eine erste zarte Liebe machen aus dem schüchternen Jungen aus der Stadt ein Kind der Berge. Das alles wird liebevoll und mit viel Empathie geschildert.
Der Krieg selbst steht im Hintergrund. Das isolierte Tal hält vieles fern. Die italienischen Besatzer im Dorf scheinen wenig bedrohlich. Doch die ziehen nach der Niederlage Italiens ab und auf sie werden die deutschen Soldaten folgen. Nun ist es auch hier nicht mehr sicher für Vincent.
„ Über allen Bergen“ ist ein leises Buch, das von seinen intensiven Beschreibungen lebt. Wer lyrische Landschaftsbetrachtungen liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Für mich hätten es etwas weniger sein dürfen. Auch war es mir zu viel Idylle im Dorf. Das Böse war etwas, das es nur außerhalb gab.
Trotzdem habe ich den Roman gerne gelesen.

Bewertung vom 03.01.2025
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


sehr gut

Herausragender historischer Roman
Der norwegische Schriftsteller Tore Renberg hat mit „ Die Lungenschwimmprobe“ seinen ersten historischen Roman vorgelegt. In seiner Heimat wurde er dafür gefeiert und auch in Deutschland dürfte er damit erfolgreich sein, spielt doch die erzählte Geschichte in Sachsen, vorrangig in Leipzig, Ende des 17. Jahrhunderts.
Die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges sind noch lange nicht vergessen und auch nicht die Pest, die erst vor kurzem die Stadt heimgesucht hat.
Der Roman fußt auf einem historisch verbrieften Fall. Im Herbst 1681 bringt die ledige 15jährige Anna Voigt ein Kind zur Welt. Zusammen mit ihrer Mutter, die völlig überrascht von der Schwangerschaft ihrer Tochter war, vergraben die beiden das Totgeborene. Dienstboten, die das Kind ausgraben, bringen den Fall zur Anzeige. Nun sieht sich das Mädchen mit dem Vorwurf der Kindstötung konfrontiert, die Mutter ist als Mittäterin ebenfalls angeklagt. Nach dem damaligen geltenden Recht, der „ Constitution Criminalis Carolina“ droht ihr damit der Tod, durch lebendiges Begraben, durch Pfählen oder Ertränken. Dafür ist aber ihr Schuldeingeständnis erforderlich, was notfalls durch Folter erzwungen wird.
Anna ist aber die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers, der über die nötigen Mittel verfügt und sich einen angesehenen Rechtsgelehrten leisten kann. Der Vater beauftragt den Leipziger Rechtsanwalt Christian Thomasius, einen streitbaren Juristen, der sich mutig gegen die herrschende Obrigkeit stellt. ( Thomasius, eine historisch bedeutsame Figur, gilt als Wegbereiter der Aufklärung in Deutschland und war einer der Gründungsväter der Universität Halle.) Dieser kann sich in seiner Beweisführung auf die „ Lungenschwimmprobe“ stützen. Denn bei den ersten Untersuchungen des toten Kindes war der Arzt Schreyer zugegen, der bei Annas Kind diese neue Untersuchungsmethode anwendet. Sinkt die Lunge nach der Autopsie im Wasser, ist das Kind totgeboren, sinkt sie nicht, enthält sie Luft, dann hat das Kind gelebt. Die titelgebende Lungenschwimmprobe markiert den Beginn der modernen Rechtsmedizin.
Obwohl das Ergebnis Annas Aussage stützt, ist Anna noch lange nicht gerettet. Der Prozess zieht sich über Jahre hin, zu viele Widersacher machen dem Verteidiger die Arbeit schwer und Annas Leid immer größer.
Um ein differenziertes Bild zu bekommen, erzählt Tore Renberg aus verschiedenen Perspektiven. So leidet der Leser nicht nur mit der angeklagten jungen Frau, sondern liest ebenso von der Verzweiflung und den Rachegedanken des Vaters, verfolgt die Bemühungen des Rechtsanwalts und erfährt viel über das Leben und die Arbeit eines Scharfrichters. Auch schaltet sich hin und wieder der Autor selbst ein, lässt uns in die Zukunft der Figuren blicken, zeigt auf, wo er den Bereich der Fakten verlässt und macht seine Faszination für das Thema spürbar.
Dabei zeichnet er seine Figuren facettenreich und ambivalent. So ist sein Thomasius nicht nur ein kluger Kopf, der sich dem Fortschritt und der Aufklärung verschrieben hat, sondern auch eitel und aufbrausend
Mein einziger Kritikpunkt an diesem außergewöhnlichen historischen Roman ist der Rachefeldzug des verbitterten Vaters. Dieser genau beschriebenen Gewaltexzesse hätte es nicht bedurft.
Recherchiert hat der Autor über fünf Jahre lang, nicht nur in zahlreichen Archiven und im Austausch mit Wissenschaftlern, sondern auch ganz konkret vor Ort.
Lesenswert ist ebenso noch der Anhang, der online abrufbar ist ( per QR-Code oder per Link ), in dem die Kurzbiograhien aller historischer Personen aufgeführt werden, sowie historisches Bildmaterial und sämtliche Quellenangaben.
„ Die Lungenschwimmprobe“ ragt aus der Masse an historischen Romanen heraus, denn hier ist der historische Hintergrund nicht nur Kulisse für eine spannende Geschichte. Tore Renberg lag es vielmehr daran, ein authentisches Bild dieser Zeit zu vermitteln, einer Zeit, in der traditionelles Denken auf Wissenschaft und Rationalismus trifft. Dabei erfährt der Leser vieles über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, über die Macht der Obrigkeit und der Kirche, das geltende Rechtssystem und die Stellung der Frau.
Mit seinen über 700 Seiten, mit seinem detailreichen Sachwissen und seinen Zeiten- und Perspektivwechseln , sowie einer Sprache, die sich der barocken Zeit anpasst, ist es aber kein leicht zu konsumierendes Buch, sondern erfordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers.
Fazit: Nicht nur für historisch Interessierte ein äußerst lesenswerter Roman!

Bewertung vom 05.09.2024
Mein drittes Leben
Krien, Daniela

Mein drittes Leben


ausgezeichnet

Trauerarbeit - ein langer Prozess
Mein Name ist Linda. Linda bedeutet die Milde, die Freundliche, die Sanfte. Dieser Name hat nichts mehr mit mir zu tun.“ So stellt sich die Ich- Erzählerin im neuen Roman von Daniela Krien vor. Die Linda von früher, eine kultivierte und gepflegte Frau, glücklich verheiratet mit dem Maler und Kunstlehrer Richard, diese Linda gibt es nicht mehr. Ein einziger Moment hat alles verändert.
Die 17jährige Tochter Sonja ist mit ihrem Rad unterwegs und wird von einem abbiegenden LKW überfahren.
Auch zwei Jahre nach dem Unfalltod hat Linda aus ihrer tiefen Trauer noch nicht herausgefunden. Nach ihrer Krebserkrankung hat sie ihren alten Job in einer Kulturstiftung gekündigt und sich auf einen heruntergekommenen Bauernhof in einem kleinen Dorf zurückgezogen. Sie braucht Abstand, braucht Zeit für sich selbst. In der früheren Wohnung in Leipzig erinnert alles an die verstorbene Tochter.
Ihr Mann Richard besucht Linda regelmäßig und versucht, sie zur Rückkehr zu bewegen. Vergeblich! Auch er trauert, doch er will endlich wieder nach vorne schauen, will weiterleben. Irgendwann wird er in der Schriftstellerin Brida eine neue Partnerin finden. ( Sie ist uns schon in Daniela Kriens Roman „ Die Liebe im Ernstfall“ begegnet.)
Mit sehr viel Sensibilität und Einfühlungsvermögen beschreibt die Autorin die Gefühlswelt ihrer Protagonistin, einer Frau, der das Schlimmstmögliche zugestoßen ist. Dabei zeigt sie, wie lange es brauchen kann, aus einem solchem Tiefpunkt herauszufinden.
Was Linda dabei hilft, ist die körperliche Arbeit auf dem Hof und im Garten. Diese Arbeit gibt ihrem Tag Struktur und Sinn. Und der Kreislauf der Natur vom Wachsen und Vergehen hat etwas Tröstendes.
In der Erinnerung durchlebt Linda die Zeit mit ihrer Tochter. Dabei macht sie sich Vorwürfe, ihr Kind mit zu kritischen Augen betrachtet zu haben, stellt sich auch die sinnlose Frage, ob sie das Unglück nicht hätte verhindern können.
Dazwischen gibt es immer wieder Phasen, wo der Schmerz unerträglich wird und der Gedanke an Selbstmord verlockend erscheint.
Während Linda sich beinahe ganz von ihrem früherem Umfeld gelöst hat, findet sie langsam neue Kontakte im Dorf. Das sind Menschen, die weit weg sind von dem gutbürgerlichen Milieu, in dem sie sich früher bewegt hat. Solche wie Nachbar Klaus und seine Frau, die sich als Wendeverlierer sehen und trotzdem nicht resignieren. Oder Natascha, die ein Leben mit einer behinderten Tochter meistern muss.
Es ist ein langer Weg raus aus der Trauer, langsam, oft mit Rückschritten verbunden, bis Linda gelernt hat, mit dem Verlust zu leben.
Dass sie mit ihrer Mutter über die gemeinsame Vergangenheit reden konnte, Verdrängtes ansprechen, war ebenso hilfreich wie der Bruch mit einer früheren Freundin, mit der sie nichts mehr verbindet.
Der Roman ist aber nicht nur die Geschichte über einen unerträglichen Schmerz, sondern auch die Geschichte einer großen Liebe.
Denn dass Richard ihr „ Lebensmensch“ ist, weiß Linda schon lange. „ Nicht die Liebe ist Richard und mir abhandengekommen, nur die gemeinsame Blickrichtung.“
Und als Richard sie braucht, ist sie für ihn da.
Obwohl der Roman tieftraurig ist, entlässt er den Leser mit einem Gefühl der Hoffnung.
Selten treffen die Adjektive „ berührend“ und „ bewegend“ so gut auf einen Roman zu wie hier. Daniela Krien findet die richtigen Worte , nie gleitet sie ins Sentimentale ab. Und obwohl der Leser sehr nah bei Linda ist, hat er großes Verständnis und Sympathie für Richard. Das spricht für die sensible Figurenzeichnung der Autorin. Auch die Nebenfiguren werden nuancenreich beschrieben.
Gleichzeitig ist das Buch eine Lehrstunde in Sachen Empathie. Linda hat früh gespürt, wie sich Freunde und Bekannte abwenden. „ Menschen ermüden vom Leid anderer Menschen. Sie verlieren die Lust, Rücksicht zu nehmen, wollen wieder selbst klagen dürfen. Sie sind heimlich wütend darüber, dass vor meinem Problem jedes ihrer eigenen Probleme verblasst. Meine Anwesenheit zwingt sie, ihr Glück zu begreifen.“
Im Roman erfahren wir, was Trauernde brauchen. Keine gut gemeinten Sprüche, keine Ungeduld! Jeder trauert anders, jedem steht die Zeit zu, die er dafür braucht.
Der Roman findet sich völlig zu Recht auf der Longlist für den diesjährigen Buchpreis. Es ist das bisher beste Buch der Autorin. Klug, einfühlsam und realistisch

Bewertung vom 18.07.2024
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 44 - Wie leben wir miteinander?
Mennen, Patricia

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 44 - Wie leben wir miteinander?


sehr gut

Wichtiges Thema - kindgerecht umgesetzt
Der neueste Band aus der bewährten „ Wieso Weshalb Warum?“ -Reihe ist wieder einmal ganz besonders gut gelungen. Er umfasst 16 Seiten, ist großformatig wie alle Bände für die größeren Kinder ( 4-7 Jahre), hat Spiralbindung und ist aus stabiler Pappe. Zahlreiche Illustrationen veranschaulichen und ergänzen die kurzen und kindgerechten Texte. Auch die beliebten Klappen, die Szenen weiterführen oder zusätzliches Wissen vermitteln, fehlen nicht.
Hier geht es um das wichtige Thema des friedlichen Zusammenlebens. Schon das Cover zeigt, dass Wert gelegt wird auf Diversität. Kinder aller Hautfarben und auch mit kleinen oder größeren körperlichen Einschränkungen spielen gemeinsam.
Und diese Vielfalt wird durch das ganze Buch hin durchgehalten und zeigt so den Kindern, dass wir alle, trotz unserer Unterschiede, eine große Gemeinschaft sind. Zahlreiche Situationen des alltäglichen Lebens werden aufgegriffen. Dabei geht es um Konflikte und deren Lösungsmöglichkeiten, über Regeln des Zusammenlebens, sei es daheim, in der Kita oder Schule oder im öffentlichen Raum. Grundbedürfnisse eines Jeden werden benannt, Rechte von Kindern angesprochen und an Beispielen erläutert
Auch schwere Themen wie Krieg und Flucht werden behandelt. Zu Recht, denn Kinder bekommen mit, was aktuell passiert und die Geschehnisse machen ihnen Angst. Deshalb ist es wichtig, mit ihnen darüber zu sprechen. Das gelingt mit Hilfe dieses Buches sehr gut. Ausgehend von Streitigkeiten zwischen Kindern wird auf Ursachen und Folgen eines Krieges eingegangen. Eine Folge von Krieg sind die zahlreichen Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen. Für deren Schicksal Verständnis und Empathie zu entwickeln ist enorm wichtig, denn viele Kinder werden in ihrem Umfeld auf Flüchtlingskinder treffen.. Auch hierbei ist der Band hilfreich.
Positiv endet das Buch, nämlich mit Vorschlägen, was jeder Einzelne tun kann für ein friedliches und harmonisches Zusammenleben. Deshalb sollte dieser Band in keinem Kinderzimmer, in keiner Kita und in keiner Grundschule fehlen. Denn gerade heute, wo der Ton immer rauer, das friedliche Miteinander im Kleinen und im Großen von allen Seiten bedroht wird, ist die Botschaft des Buches so elementar.
Kleinere Kinder werden noch nicht alles verstehen. Da liegt es am Vorleser, was er auswählt. Wichtig ist aber auf jeden Fall, dass man über den Inhalt ins Gespräch kommt.

Bewertung vom 16.07.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


ausgezeichnet

Zwei Reisen -eine äußere und eine innere
Wie viele Debütantinnen ließ sich Maria Bidian, 1988 in Mainz geboren, für ihren ersten Roman von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren. Wie ihre Protagonistin Ana hat auch die Autorin einen rumänischen Vater und eine deutsche Mutter und eine große Familie in Rumänien.
Als Ana zwei Jahre nach dem Tod ihres geliebten Vaters Nicu erfährt, dass die Familie den Prozess um ihren enteigneten Besitz endlich gewonnen hat, fährt sie nach Rumänien. Dabei ist sie weniger an dem großen Haus interessiert, das sie endlich zurückerhalten, sondern viel mehr an dem legendären Pfauengemälde, das ihrem Vater so viel bedeutet hat. Damit möchte sie auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Denn Ana fühlt sich schuldig, ihren Vater nicht bei seiner letzten Reise begleitet zu haben. Jener Reise, von der er nicht zurückkam. Und sie hofft, dass sie ihren Schmerz und ihre Trauer hinter sich lassen kann, wenn sie mit dem Bild nach Deutschland zurückkehrt.
Doch das Procedere erweist sich schwieriger als gedacht, denn die Mühlen der rumänischen Bürokratie mahlen langsam. Ana nützt die Zeit, um ihre weitverzweigte Familie zu besuchen. Sie reist zu Onkeln und Tanten, trifft Cousins und Cousinen. Dadurch bekommt der Leser ein anschauliches Bild vom Rumänien der Gegenwart, von den Unterschieden zwischen Stadt und Land, von verlassenenen Dörfern, weil ihre Bewohner nach 1989 ins Ausland gezogen sind. Andere Ortschaften schmücken sich für Touristen, die Arbeit und Geld ins Land bringen sollen. Viele Gespräche drehen sich auch um die aktuelle politische Situation. Die Rumänen sehen ihre Zukunft zwar in der EU, gleichzeitig aber setzen sie sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander. Ana besucht einmal eine Bar, die Cocktails anbietet, die nach Daten rumänischer Geschichte benannt sind. So z.B. bezieht sich das Getränk namens „1784“ auf den Aufstand rumänischer Bauern gegen den ungarischen Adel. Sinnigerweise nennt sich die Bar
„ Déjà-vu“, „ weil es wichtig ist, seine Geschichte zu kennen, alles wiederholt sich.“
Gleichzeitig weckt diese Reise Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit, denn jedes Jahr verbrachte sie die Ferien hier mit ihren Eltern.
Dabei erfährt der Leser nach und nach von Nicos tragischem Schicksal. Unter der Diktatur wurde er als Widerstandskämpfer verfolgt und inhaftiert. Ihm gelang danach die Flucht nach Deutschland. Dort wollte er allen erzählen, was in Rumänien wirklich passiert, musste aber bald feststellen, dass sich niemand dafür interessiert.
Die Autorin erzählt von den zwei Reisen ihrer Protagonistin, einer äußeren durch das Land und einer inneren durch ihre Erinnerung und die Vergangenheit ihrer Familie. Ana muss dabei lernen, dass Trauer nicht verschwindet, aber der Schmerz weniger wird. Am Ende kann sie mit vielem abschließen, „ aber zu Ende war es nicht“.
Maria Bidian erzählt in einer bildhaften und schönen Sprache; der ruhige und melancholische Grundton passt zur Geschichte. Sehr gut gefallen haben mir auch die in den Text eingebetteten Parabeln und Märchen, die lebensklug und amüsant sind.
Es war allerdings nicht immer leicht, den Überblick über die vielen Figuren zu behalten. Hier wäre ein Stammbaum hilfreich gewesen.
„ Das Pfauengemälde“ ist ein Familienroman, der uns Rumänien, seine Bewohner und seine Geschichte näherbringt. Ein Debut, das große Erwartungen weckt

Bewertung vom 11.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


gut

Schnitzeljagd durch Georgien
Leo Vardiashvili, 1983 in Georgien geboren, lebt seit seinem zwölften Lebensjahr in England. Er ist Steuerberater und hat nun seinen ersten Roman veröffentlicht, in dem er viel aus seiner eigenen Biographie verarbeitet hat.
Der Ich-Erzähler Saba ist noch ein Kind, als er 1992 mit seinem Vater und dem zwei Jahre älteren Bruder Sandro vor dem Bürgerkrieg Georgien nach London flieht. Die Mutter bleibt vorerst zurück, denn das Ersparte reicht nicht für ihr Visum.
Der Vater Irakli arbeitet hart, um sie nachkommen zu lassen. Endlich hat er das Geld beisammen, doch der freundliche Landsmann, der sie aus Georgien holen soll, erweist sich als Betrüger.
Letztendlich stirbt die Mutter, ohne ihre Familie jemals wieder gesehen zu haben.
Elf Jahre nach dem Tod seiner Frau, die Söhne sind längst erwachsen, reist Irakli zurück in die alte Heimat, um seine toten und lebenden Verwandten zu besuchen. Doch dann hören die Brüder nichts mehr von ihm. So macht sich Sandro auf den Weg nach Georgien, aber auch er scheint dort zu verschwinden. Nun reist Saba ihm nach.
Schon kurz nach seiner Landung gerät Saba ins Visier der Polizei. Aber er findet auch im Taxifahrer Nodar einen verlässlichen Freund. Gemeinsam mit ihm macht sich Saba auf die Jagd nach den geheimen Botschaften, die Sandro ihm hinterlassen hat. Es ist ein lebensgefährliches Abenteuer, das die beiden Männer quer durch die Viertel von Tbilissi führt und schließlich zu einem Kloster im Kaukasus und am Ende bis über die Grenze nach Ossetien vor einem großen Walde.
Immer dabei sind auch die Geister der verstorbenen Familienmitglieder und Freunde, als ermutigende Stimmen im Kopf von Saba.
Es gibt aber noch weitere surreale und märchenhafte Elemente in diesem Roman. So irren beispielsweise Nilpferde, ein Tiger und andere wilde Tiere durch die Straßen und Wälder von Tbilissi. Dabei greift Leo Vardiashvili auf ein tatsächliches Ereignis zurück, das in Wirklichkeit erst später stattfand. 2015 sind aus dem Zoo von Tbilissi Tiere ausgebrochen.
Auch der Titel „ Vor einem großen Walde“ verweist auf ein Märchen der Gebrüder Grimm. „ Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern,…“ so beginnt „ Hänsel und Gretel“. Und so wie diese Kinder Brotkrumen auf den Weg streuen, um wieder nach Hause zu finden, so verteilt Sandro überall seine rätselhaften Botschaften, die nur sein Bruder verstehen kann.
Leo Vardiashvili erzählt von Georgien und dessen unheilvoller Geschichte. Ein Land, das an der Schnittstelle von Europa und Asien liegt, und das schon immer die Begehrlichkeiten anderer Mächte geweckt hat. Georgien war auch eine der ersten Sowjetrepubliken, die nach Unabhängigkeit strebten. Doch damit kamen Gewalt und Krieg ins Land.
Der Roman beschreibt die Auswirkungen von Krieg und Gewalt, Flucht und Vertreibung am Beispiel einer Familie. Er zeigt auch , was der Verlust der Heimat bedeutet.
Dabei scheint immer wieder die Liebe zu Land und Leuten durch. So entstehen vor den Augen des Lesers die alten malerischen Viertel der Hauptstadt und die wilde Landschaft abseits der Zivilisation. Auch erfährt man viel über georgische Bräuche und die Kultur des Landes, so z.B. die legendäre Gastfreundschaft. „ Jeder Gast ist ein Geschenk Gottes“, so lautet ein georgisches Sprichwort. Doch der Autor verschweigt auch nicht die weniger schönen Seiten des Landes, so z.B. die allgegenwärtige Korruption.
„ Vor einem großen Walde“ ist ein spannender Roadtrip durch ein mir unbekanntes Land und gleichzeitig eine anrührende Familiengeschichte.
Doch die überbordende Fabulierfreude des Autors hat leider zu einigen Längen im Buch geführt. Auch hätte ich auf die vielen märchenhaften Elemente verzichten können und hätte weniger skurrile Momente und kauzige Figuren gebraucht.