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Benutzername: 
leukam
Wohnort: 
Baden-Baden

Bewertungen

Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 18.07.2024
Wieso? Weshalb? Warum?, Band 44: Wie leben wir miteinander?
Mennen, Patricia

Wieso? Weshalb? Warum?, Band 44: Wie leben wir miteinander?


sehr gut

Wichtiges Thema - kindgerecht umgesetzt
Der neueste Band aus der bewährten „ Wieso Weshalb Warum?“ -Reihe ist wieder einmal ganz besonders gut gelungen. Er umfasst 16 Seiten, ist großformatig wie alle Bände für die größeren Kinder ( 4-7 Jahre), hat Spiralbindung und ist aus stabiler Pappe. Zahlreiche Illustrationen veranschaulichen und ergänzen die kurzen und kindgerechten Texte. Auch die beliebten Klappen, die Szenen weiterführen oder zusätzliches Wissen vermitteln, fehlen nicht.
Hier geht es um das wichtige Thema des friedlichen Zusammenlebens. Schon das Cover zeigt, dass Wert gelegt wird auf Diversität. Kinder aller Hautfarben und auch mit kleinen oder größeren körperlichen Einschränkungen spielen gemeinsam.
Und diese Vielfalt wird durch das ganze Buch hin durchgehalten und zeigt so den Kindern, dass wir alle, trotz unserer Unterschiede, eine große Gemeinschaft sind. Zahlreiche Situationen des alltäglichen Lebens werden aufgegriffen. Dabei geht es um Konflikte und deren Lösungsmöglichkeiten, über Regeln des Zusammenlebens, sei es daheim, in der Kita oder Schule oder im öffentlichen Raum. Grundbedürfnisse eines Jeden werden benannt, Rechte von Kindern angesprochen und an Beispielen erläutert
Auch schwere Themen wie Krieg und Flucht werden behandelt. Zu Recht, denn Kinder bekommen mit, was aktuell passiert und die Geschehnisse machen ihnen Angst. Deshalb ist es wichtig, mit ihnen darüber zu sprechen. Das gelingt mit Hilfe dieses Buches sehr gut. Ausgehend von Streitigkeiten zwischen Kindern wird auf Ursachen und Folgen eines Krieges eingegangen. Eine Folge von Krieg sind die zahlreichen Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen. Für deren Schicksal Verständnis und Empathie zu entwickeln ist enorm wichtig, denn viele Kinder werden in ihrem Umfeld auf Flüchtlingskinder treffen.. Auch hierbei ist der Band hilfreich.
Positiv endet das Buch, nämlich mit Vorschlägen, was jeder Einzelne tun kann für ein friedliches und harmonisches Zusammenleben. Deshalb sollte dieser Band in keinem Kinderzimmer, in keiner Kita und in keiner Grundschule fehlen. Denn gerade heute, wo der Ton immer rauer, das friedliche Miteinander im Kleinen und im Großen von allen Seiten bedroht wird, ist die Botschaft des Buches so elementar.
Kleinere Kinder werden noch nicht alles verstehen. Da liegt es am Vorleser, was er auswählt. Wichtig ist aber auf jeden Fall, dass man über den Inhalt ins Gespräch kommt.

Bewertung vom 16.07.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


ausgezeichnet

Zwei Reisen -eine äußere und eine innere
Wie viele Debütantinnen ließ sich Maria Bidian, 1988 in Mainz geboren, für ihren ersten Roman von ihrer eigenen Familiengeschichte inspirieren. Wie ihre Protagonistin Ana hat auch die Autorin einen rumänischen Vater und eine deutsche Mutter und eine große Familie in Rumänien.
Als Ana zwei Jahre nach dem Tod ihres geliebten Vaters Nicu erfährt, dass die Familie den Prozess um ihren enteigneten Besitz endlich gewonnen hat, fährt sie nach Rumänien. Dabei ist sie weniger an dem großen Haus interessiert, das sie endlich zurückerhalten, sondern viel mehr an dem legendären Pfauengemälde, das ihrem Vater so viel bedeutet hat. Damit möchte sie auch ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Denn Ana fühlt sich schuldig, ihren Vater nicht bei seiner letzten Reise begleitet zu haben. Jener Reise, von der er nicht zurückkam. Und sie hofft, dass sie ihren Schmerz und ihre Trauer hinter sich lassen kann, wenn sie mit dem Bild nach Deutschland zurückkehrt.
Doch das Procedere erweist sich schwieriger als gedacht, denn die Mühlen der rumänischen Bürokratie mahlen langsam. Ana nützt die Zeit, um ihre weitverzweigte Familie zu besuchen. Sie reist zu Onkeln und Tanten, trifft Cousins und Cousinen. Dadurch bekommt der Leser ein anschauliches Bild vom Rumänien der Gegenwart, von den Unterschieden zwischen Stadt und Land, von verlassenenen Dörfern, weil ihre Bewohner nach 1989 ins Ausland gezogen sind. Andere Ortschaften schmücken sich für Touristen, die Arbeit und Geld ins Land bringen sollen. Viele Gespräche drehen sich auch um die aktuelle politische Situation. Die Rumänen sehen ihre Zukunft zwar in der EU, gleichzeitig aber setzen sie sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander. Ana besucht einmal eine Bar, die Cocktails anbietet, die nach Daten rumänischer Geschichte benannt sind. So z.B. bezieht sich das Getränk namens „1784“ auf den Aufstand rumänischer Bauern gegen den ungarischen Adel. Sinnigerweise nennt sich die Bar
„ Déjà-vu“, „ weil es wichtig ist, seine Geschichte zu kennen, alles wiederholt sich.“
Gleichzeitig weckt diese Reise Erinnerungen an die Sommer ihrer Kindheit, denn jedes Jahr verbrachte sie die Ferien hier mit ihren Eltern.
Dabei erfährt der Leser nach und nach von Nicos tragischem Schicksal. Unter der Diktatur wurde er als Widerstandskämpfer verfolgt und inhaftiert. Ihm gelang danach die Flucht nach Deutschland. Dort wollte er allen erzählen, was in Rumänien wirklich passiert, musste aber bald feststellen, dass sich niemand dafür interessiert.
Die Autorin erzählt von den zwei Reisen ihrer Protagonistin, einer äußeren durch das Land und einer inneren durch ihre Erinnerung und die Vergangenheit ihrer Familie. Ana muss dabei lernen, dass Trauer nicht verschwindet, aber der Schmerz weniger wird. Am Ende kann sie mit vielem abschließen, „ aber zu Ende war es nicht“.
Maria Bidian erzählt in einer bildhaften und schönen Sprache; der ruhige und melancholische Grundton passt zur Geschichte. Sehr gut gefallen haben mir auch die in den Text eingebetteten Parabeln und Märchen, die lebensklug und amüsant sind.
Es war allerdings nicht immer leicht, den Überblick über die vielen Figuren zu behalten. Hier wäre ein Stammbaum hilfreich gewesen.
„ Das Pfauengemälde“ ist ein Familienroman, der uns Rumänien, seine Bewohner und seine Geschichte näherbringt. Ein Debut, das große Erwartungen weckt

Bewertung vom 11.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


gut

Schnitzeljagd durch Georgien
Leo Vardiashvili, 1983 in Georgien geboren, lebt seit seinem zwölften Lebensjahr in England. Er ist Steuerberater und hat nun seinen ersten Roman veröffentlicht, in dem er viel aus seiner eigenen Biographie verarbeitet hat.
Der Ich-Erzähler Saba ist noch ein Kind, als er 1992 mit seinem Vater und dem zwei Jahre älteren Bruder Sandro vor dem Bürgerkrieg Georgien nach London flieht. Die Mutter bleibt vorerst zurück, denn das Ersparte reicht nicht für ihr Visum.
Der Vater Irakli arbeitet hart, um sie nachkommen zu lassen. Endlich hat er das Geld beisammen, doch der freundliche Landsmann, der sie aus Georgien holen soll, erweist sich als Betrüger.
Letztendlich stirbt die Mutter, ohne ihre Familie jemals wieder gesehen zu haben.
Elf Jahre nach dem Tod seiner Frau, die Söhne sind längst erwachsen, reist Irakli zurück in die alte Heimat, um seine toten und lebenden Verwandten zu besuchen. Doch dann hören die Brüder nichts mehr von ihm. So macht sich Sandro auf den Weg nach Georgien, aber auch er scheint dort zu verschwinden. Nun reist Saba ihm nach.
Schon kurz nach seiner Landung gerät Saba ins Visier der Polizei. Aber er findet auch im Taxifahrer Nodar einen verlässlichen Freund. Gemeinsam mit ihm macht sich Saba auf die Jagd nach den geheimen Botschaften, die Sandro ihm hinterlassen hat. Es ist ein lebensgefährliches Abenteuer, das die beiden Männer quer durch die Viertel von Tbilissi führt und schließlich zu einem Kloster im Kaukasus und am Ende bis über die Grenze nach Ossetien vor einem großen Walde.
Immer dabei sind auch die Geister der verstorbenen Familienmitglieder und Freunde, als ermutigende Stimmen im Kopf von Saba.
Es gibt aber noch weitere surreale und märchenhafte Elemente in diesem Roman. So irren beispielsweise Nilpferde, ein Tiger und andere wilde Tiere durch die Straßen und Wälder von Tbilissi. Dabei greift Leo Vardiashvili auf ein tatsächliches Ereignis zurück, das in Wirklichkeit erst später stattfand. 2015 sind aus dem Zoo von Tbilissi Tiere ausgebrochen.
Auch der Titel „ Vor einem großen Walde“ verweist auf ein Märchen der Gebrüder Grimm. „ Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker mit seiner Frau und seinen zwei Kindern,…“ so beginnt „ Hänsel und Gretel“. Und so wie diese Kinder Brotkrumen auf den Weg streuen, um wieder nach Hause zu finden, so verteilt Sandro überall seine rätselhaften Botschaften, die nur sein Bruder verstehen kann.
Leo Vardiashvili erzählt von Georgien und dessen unheilvoller Geschichte. Ein Land, das an der Schnittstelle von Europa und Asien liegt, und das schon immer die Begehrlichkeiten anderer Mächte geweckt hat. Georgien war auch eine der ersten Sowjetrepubliken, die nach Unabhängigkeit strebten. Doch damit kamen Gewalt und Krieg ins Land.
Der Roman beschreibt die Auswirkungen von Krieg und Gewalt, Flucht und Vertreibung am Beispiel einer Familie. Er zeigt auch , was der Verlust der Heimat bedeutet.
Dabei scheint immer wieder die Liebe zu Land und Leuten durch. So entstehen vor den Augen des Lesers die alten malerischen Viertel der Hauptstadt und die wilde Landschaft abseits der Zivilisation. Auch erfährt man viel über georgische Bräuche und die Kultur des Landes, so z.B. die legendäre Gastfreundschaft. „ Jeder Gast ist ein Geschenk Gottes“, so lautet ein georgisches Sprichwort. Doch der Autor verschweigt auch nicht die weniger schönen Seiten des Landes, so z.B. die allgegenwärtige Korruption.
„ Vor einem großen Walde“ ist ein spannender Roadtrip durch ein mir unbekanntes Land und gleichzeitig eine anrührende Familiengeschichte.
Doch die überbordende Fabulierfreude des Autors hat leider zu einigen Längen im Buch geführt. Auch hätte ich auf die vielen märchenhaften Elemente verzichten können und hätte weniger skurrile Momente und kauzige Figuren gebraucht.

Bewertung vom 19.05.2024
Eisernes Schweigen
Bünger, Traudl

Eisernes Schweigen


gut

Persönliche Aufarbeitung
Traudl Bünger, 1975 geboren, ist eine deutsche Autorin und promovierte Kulturschaffende. In ihrem neuesten Buch „ Eisernes Schweigen“ beschäftigt sie sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte.
Ihr Vater war Anfang der 1960er Jahre Doktorand der Chemie und mit seinem Zwillingsbruder zusammen verstrickt in einen terroristischen Anschlag.
Zu dieser Zeit war der Südtirol-Konflikt ein großes Thema. Nach dem Zweiten Weltkrieg hofften viele Südtiroler, wieder österreichisch zu werden. Sie fühlten sich seit Jahren unterdrückt von der Regierung Italiens und die rechte Szene in Deutschland solidarisierte sich mit der Unabhängigkeitsbewegung in Südtirol. So auch Heinrich Bünger. Er baute Zeitzünder für Sprengsätze und ließ auch, zusammen mit anderen Männern, eine Bombe in einem italienischen Bahnhof hochgehen. Doch statt wie geplant nachts zu explodieren, wenn niemand mehr am Bahnhof war, ging die Bombe am Nachmittag des 20. Oktober 1962 hoch. Der Zeitzünder hatte versagt, ein Mann kam dabei ums Leben.
18 Jahre lang zog sich das Verfahren gegen ihren Vater hin. Ein Urteil über dreieinhalb Jahre Haft wurde wieder aufgehoben. Letztendlich musste der Vater für seine Tat nie büßen.
Die Tochter wusste um das rechtsnationale Gedankengut ihres Vaters. Daraus hat er nie einen Hehl gemacht. Doch über dieses Attentat und seine Beweggründe hat er zeitlebens geschwiegen. „ Eisernes Schweigen“ nennt Traudl Bünger deshalb auch dieses Buch, bei dem sie versucht, nach dem Tod des Vaters, mehr über die Hintergründe zu erfahren.
Vier Jahre dauert ihre Recherche. Dafür hat sie sich in Archive vergraben, Hunderte von Akten durchsucht, Briefe, Protokolle und Gerichtsurteile gelesen. Aber auch Zeugen befragt, darunter den Zwillingsbruder ihres Vaters, der sich damals, um der Strafverfolgung zu entziehen, nach Südafrika abgesetzt hat. Herausgekommen ist ein über 360 Seiten starkes Buch, das sehr genau und detailliert das Ergebnis ihrer Suche zusammenfasst.
Dabei geht es natürlich auch oft um ihre persönliche Beziehung zum Vater. Denn einerseits war Heinrich Bünger ein verlässlicher Vater, einen, den sie geliebt hat. Gleichzeitig hat sie in ihm das gesehen, was er war: „ ein Rechtsradikaler, ein Täter“. Mit diesen widersprüchlichen Gefühlen gilt es fertig zu werden.
Was Traudl Bünger ebenfalls beschäftigt und was auch ich interessant finde, ist die Frage, warum die Einstellung ihres Vaters nicht auf sie abfärben konnte. Eine genaue Erklärung dafür hat sie nicht, aber eine ungefähre Ahnung: Sie ist zu einer ganz anderen Zeit aufgewachsen als ihr Vater. Die gesellschaftliche Haltung zum Nationalsozialismus war eine völlig andere. Man kannte „ Das Tagebuch der Anne Frank“ und im Fernsehen lief, mit großem Medienrummel begleitet, die amerikanische Serie „ Holocaust“. Ihr Umfeld war sehr kritisch eingestellt. Aber am prägendsten in dieser Hinsicht war die Haltung ihrer Mutter. Die hatte zwar nie mit dem Vater diskutiert und ist ihm auch nie ins Wort gefallen, wenn er sein rechtes Gedankengut verbreitet hat. „ Aber sie hatte ein Gegenmittel: Mitgefühl“. Da man weiß, dass das Verhalten der Eltern größere Auswirkungen hat als all ihr Gerede, ist dieses Argument stichhaltig.
Das Buch wechselt beständig zwischen verschiedenen Text- und Tonarten hin und her. Mal sachlich nüchtern werden Fakten zusammengetragen, werden Dokumente zitiert und ausführlich die Recherchearbeit geschildert. Dann wird es emotionaler, wenn sie versucht, sich in die Gefühls- und Gedankenwelt ihres Vaters hineinzuversetzen. Wobei sie hier nur spekulieren kann, denn sein beharrliches Schweigen machen verlässliche Aussagen unmöglich. Solche Passagen wären deshalb entbehrlich gewesen.
Interessanter dagegen sind Traudl Büngers Überlegungen zum Umgang des deutschen Staates mit der rechtsradikalen Szene, die sprichwörtliche Blindheit auf dem rechten Auge. Ganz offen konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg die rechte Szene organisieren und vernetzen.
Allerdings ist nicht jeder Gedankengang der Autorin nachvollziehbar, manche Bezüge erscheinen zu gewollt. Und, mein Hauptkritikpunkt, das Buch ist viel zu ausführlich. Nicht jedes Detail ihrer Nachforschung hätte so explizit geschildert werden müssen. Dem Buch hätte eine deutliche Straffung gutgetan.
Empfehlen möchte ich den achtteiligen Doku-Podcast des WDR mit Informationen und Hintergründen des Attentates, nachzuhören in der ARD- Mediathek.

Bewertung vom 29.04.2024
tiptoi® Mein Wimmelbuch
Kiel, Anja

tiptoi® Mein Wimmelbuch


ausgezeichnet

Bewährtes System
„ Mein Wimmelbuch“ ist ein neues Bilderbuch für Drei- bis Fünfjährige, das durch den tiptoi- Stift ( nicht im Buch enthalten) zum interaktiven Leseerlebnis wird.
Auf sieben großformatigen Doppelseiten gibt es Wimmelbilder aus der Alltagswelt der Kleinen, angefangen beim quirligen Leben in der Stadt, über einzelne Spielbereiche im Kindergarten bis zum vergnüglichen Badespaß im Schwimmbad oder den bunten Attraktionen auf dem Stadtfest.
Es empfiehlt sich, dass Eltern zuerst einmal mit ihrem Kind gemeinsam das Buch anschauen, den kurzen Text auf jeder Seite vorlesen und die verschiedenen Aktionen ausprobieren. Später kann das Kind sich eigenständig mit dem Buch beschäftigen. Und dafür wird viel Stoff für Auge und Ohr geboten. So müssen Geräusche zugeordnet oder Reime ergänzt werden. Sehr oft gilt es bestimmte Dinge zu entdecken, farbliche Gegenstände, einzelne Szenen und Abläufe. Durch die unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade ist das Buch tatsächlich für jüngere und etwas ältere Kinder geeignet. Drei Lieder lockern das Ganze noch auf.
Ansprechende und detailreiche Illustrationen laden zum genauen Hinsehen ein. Ebenfalls positiv zu bewerten ist, dass bei den Figuren auf Diversität geachtet wurde.
So ist „ Mein Wimmelbuch“ wieder ein gelungenes Buch aus der tiptoi- Welt, abwechslungsreich, spannend und lehrhaft.

Bewertung vom 25.04.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Aus Jim wird James

Percival Everett ist einer der renommiertesten schwarzen Schriftsteller der USA.
Mit dem Roman „ James“ ist er ein Wagnis eingegangen. Hat er doch einen Klassiker der amerikanischen Literatur, ja der Weltliteratur, genommen und seinen Fokus auf eine andere Figur gerichtet.
Bei Mark Twains „ Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, 1884 erstmals erschienen, spielt der Sklave Jim eine wesentliche Rolle . Everett nennt ihn nun „ James“ und macht ihn zur Hauptfigur seines Romans. Und zeigt uns so durch dessen Perspektive, wie anders sich hier die Geschichte liest.
Anfangs ist Everett noch sehr nah am Original. Jim und Huck treffen sich auf einer Insel im Mississippi. Beide sind hierher geflohen, Huck vor seinem gewalttätigen Vater und Jim, weil er verkauft werden soll. Mit einem Floß versuchen sie Richtung Süden zu kommen, in einen jener Staaten, in denen die Sklaverei schon abgeschafft worden ist. Dabei erleben sie viele gefährliche Situationen und treffen auf einige Gauner und Betrüger. Doch was sich bei Twain als vergnügliches Abenteuer liest, bekommt bei Everett, bei allem Witz, den der Roman hat, eine bittere, ernste Note. Denn für James ist das alles kein Spiel, sondern lebensbedrohend.
Wenn sich die Wege der beiden ungleichen Flüchtenden trennen, gibt das Everett die Möglichkeit, völlig neue Episoden dieser Geschichte hinzuzufügen. James wird Teil einer Minstrel-Show, wo er zwischen lauter schwarz geschminkten Sängern auftritt; er wird verkauft und muss in einem Sägewerk schuften. Dabei muss er ständig um sein Leben fürchten. Hier zeigt Everett das ganze Ausmaß und die Brutalität des Rassismus und erspart uns dabei keine Grausamkeit. So wird z. B. ein Sklave, der James einen Bleistiftstummel zukommen lässt, erst gefoltert, dann gelyncht.
Schon von Beginn an aber ist die Figur Jim/ James anders, wesentlich komplexer angelegt. Das zeigt sich schon in der Eingangsszene. Wie bei Twain wird Jim hier Opfer eines Streiches von Tom und Huck. Doch bei Everett durchschaut der Sklave das Spiel und stellt sich nur dumm.
So ist James höchst gebildet, hat in Richter Thatchers Bibliothek die großen Philosophen studiert und führt in seinen Träumen Diskussionen mit Voltaire und Locke. Dabei entlarvt er sie als nicht die großen Freiheitsdenker, sondern als Kinder ihrer Zeit.
Auch lässt Everett seinen James zweisprachig auftreten. Unter seinesgleichen sprechen die Schwarzen ein gepflegtes Englisch. Erst in der Begegnung mit Weißen verfallen sie in ihren Südstaatenslang. Da ist es nur folgerichtig, wenn James Kinder unterrichtet, wie sie mit Weißen zu sprechen haben.
Everett verweist nicht nur auf die subversive Kraft des Lesens und von Bildung, sondern lässt James seine Geschichte aufschreiben.
James‘ Geschichte steht stellvertretend für die vieler. Es ist wichtig und notwendig, die Geschichte der Schwarzen im ( literarischen ) Gedächtnis zu behalten, deshalb schreibt James, deshalb schreibt Everett.
Ein weiterer Unterschied zu Twain liegt in der zeitlichen Verortung. Spielte „ Huckleberry Finn“ in den 1840er Jahren, so verlegt Everett seinen „ James“ ins Jahr 1861, rund um den Beginn des amerikanischen Bürgerkriegs. Aber auch hier macht sich die Hauptfigur keine Illusionen. „ Eins wusste ich: Was auch immer zu diesem Krieg geführt hatte, die Befreiung der Sklaven war ein Nebenmotiv und würde ein Nebenergebnis sein.“
Am Ende sieht James keine andere Lösung, als sich mit Gewalt sein Recht zu verschaffen.
Im Verlaufe der Handlung wird Jim zu seinem eigenen Herr; er legt seinen alten Sklavennamen ab und nennt sich fortan James. „ Mein Name gehörte endlich mir.“
Mit viel Phantasie und großer Sprachmacht hat Percival Everett einen Roman geschaffen, der zwar in der Vergangenheit spielt, aber aktuelle Debatten aufgreift und auf die Gegenwart verweist.
Lobenswert ist die Leistung des Übersetzers Nikolaus Stingl. Denn es war kein Leichtes, die spezielle Sprache, derer sich James bedient, in ein glaubwürdiges Deutsch zu transportieren. Diese Aufgabe hat er bravourös gemeistert.
„ James ist ein kluges, ein wichtiges Buch; eine fesselnde und bedrückende Lektüre.

Bewertung vom 19.04.2024
Mühlensommer
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


sehr gut

Liebevoller, aber ungeschönter Blick auf den bäuerlichen Alltag
Maria freut sich auf ein entspanntes Wochenende. Gemeinsam mit ihren beiden Teenager- Töchtern und einem befreundeten Ehepaar geht es in die Berge. Doch dann erreicht sie ein Anruf ihrer Mutter und der Ausflug endet jäh. Der Vater hatte einen schweren Unfall und liegt nun im Krankenhaus, Ausgang ungewiss. Die Mutter ist voller Sorge, nicht nur um ihren Mann. Nein, der Hof daheim muss versorgt werden und die demente Großmutter braucht jemanden, der ein Auge auf sie hat.
Maria fährt sofort zum Elternhaus, dem Mühlenhof, und packt an. Die Arbeit ist ihr von Kindesbeinen an vertraut. Und zwischen all dem Vertrauten gehen die Gedanken zurück in ihre Kindheit, in die 1980er Jahre.
Es war eine unbeschwerte Zeit für Maria und ihren zwei Jahre älteren Bruder Thomas. Gemeinsam toben sie im Schnee herum, beobachten die Geburt junger Kätzchen, hecken Streiche aus. Doch das Leben im Verbund mit der Natur hat auch seine Schattenseiten. Wenn die anderen Kinder im Sommer ins Schwimmbad fahren, müssen Maria und Thomas bei der Heuernte mithelfen. Wenn die anderen nach den Sommerferien mit ihren Urlauben prahlen, sitzen sie still in der Ecke und hoffen, niemand würde bemerken, dass sie nichts zu erzählen haben. Der Hof und die Tiere wollen jeden Tag versorgt werden. Außerdem fehlt es an Geld für Ferienreisen und Geld für teure Klamotten. So endet z.B. eine Einkaufstour mit dem Vater in die nächste Stadt für Maria mit einer Enttäuschung. Der Vater sieht nicht ein, so viel für einen angesagten Benetton-Pulli zu bezahlen.
Es sind viele Episoden, heitere und weniger heitere, an die sich die Ich- Erzählerin Maria erinnert. Z.B. an das weihnachtliche Krippenspiel in der Kirche, bei dem immer, zum Ärger von Maria, die Tochter des Gemeindearztes die Hauptrolle spielen darf, oder an den Ausflug der Kommunionkinder, der für die Erzählerin doch noch ein gutes Ende nimmt. Die Gedanken reisen zurück an Schlachttage auf dem Hof oder an die vielen Handgriffe, die zum Anbau und zur Ernte von Hopfen notwendig sind. Und dabei ist es immer eine Selbstverständlichkeit, dass die Kinder mithelfen.
Doch neben den Erinnerungen muss sich Maria mit ganz konkreten Problemen auseinandersetzen. Tags darauf ist auch Bruder Thomas mit Ehefrau Christiane wieder auf dem Mühlenhof. Und nun steht ganz konkret die Zukunft des Hofes zur Debatte. Thomas ist bereit, das väterliche Erbe anzutreten, doch dazu braucht er Marias Entgegenkommen. Wird die Schwester, die schon lange in der Stadt wohnt, auf ihren Anteil verzichten? Und wie soll es weitergehen? Diesen Fragen ist man in der Familie nach einem großen Streit bisher ausgewichen. Doch nun muss eine Einigkeit erzielt werden, wenn der Hof eine Zukunft haben soll.
Auch hier entgeht die Autorin einer Romantisierung des Dorflebens. Stattdessen zeigt sie, vor welchen Problemen Landwirte heute stehen. Meist reicht der Verdienst nicht mehr aus, damit Alt und Jung davon leben können. Will man ganz aufgeben oder findet man zusätzliche Einnahmequellen? Neben der Sorge um den Vater und der täglichen Arbeit auf dem Hof müssen also grundsätzliche Dinge geklärt werden.
Die Autorin Martina Bogdahn ist selbst auf einem Einödhof in Mittelfranken aufgewachsen. So kann sie bei ihrem Debut auf eigene Erlebnisse und Erfahrungen zurückgreifen. Das spürt der Leser. Auch ihre Liebe zum Landleben zeigt sich in ihren atmosphärischen Beschreibungen. Man spürt die eisige Kälte im Winter ebenso wie die flirrende Hitze auf dem Feld, riecht den frisch gebackenen Apfelkuchen und den Duft von Brot, aber auch den Gestank im Schweinestall.
Trotz der schönen Kindheit steht für die jugendliche Maria aber fest, dass sie ein anderes, ein besseres Leben haben möchte. Gleich nach dem Abitur verlässt sie ihr Elternhaus, ihr Dorf und zieht in die Stadt.
Maria Bogdahn beschreibt das Landleben früher und heute mit viel Liebe, aber ohne jegliche Sentimentalität, fernab jeder „ Landlust“-Idylle.
Für zart besaitete Leser dürfte der Umgang mit den Tieren grenzwertig sein. Sicher, für den Bauern gehört das Schlachten des Schweines genauso zum Alltag wie die problematische Geburt von Ferkeln. Doch auf die ein oder andere Grausamkeit hier hätte ich verzichten können. Genauso wie auf den kurzen Flirt beim Schützenfest.
Trotz dieses Einwandes habe ich den Roman sehr gerne gelesen. „ Mühlensommer“ ist ein leicht zu lesender Unterhaltungsroman, der einen liebevollen, aber ungeschönten Blick auf den bäuerlichen Alltag wirft.

Bewertung vom 16.04.2024
Der Sommer, in dem alles begann
Léost, Claire

Der Sommer, in dem alles begann


sehr gut

Drei Frauen, drei Generationen, drei Lebenswege
Drei Frauen, drei Generationen, drei Lebenswege, alles zusammengeführt in einem Sommer im Jahr 1994 in der Bretagne. In drei Erzählsträngen entwickelt die französische Autorin Claure Léost ihre Geschichte.
1940 ändert sich mit dem Einzug deutscher Militärs das Leben im beschaulichen Le Bois d‘en Haut, auch für die zwölfjährige Odette, Tochter des Dorfarztes. Ihr Vater, der als Kommunist weiter für ein freies Frankreich kämpft, wird von Männern in schwarzen Ledermänteln abgeholt und später im Lager erschossen. Ein Jahr vor Kriegsende stirbt ihre Mutter und Odette reist zu ihrer Tante nach Paris. Sie findet Arbeit als Dienstmädchen bei einer Familie mit zwei Kindern. Hier zählt nicht mehr, dass sie daheim eine der besten Schülerinnen war und ihre Eltern angesehene Leute im Dorf. „ In Paris war sie ein nichts. Oder noch weniger als nichts : eine vom Dorf, ein Landei, ein Bauerntrampel.“ „ Bretonen, das waren …eine Horde hungernder Hinterwäldler, die in Paris einfielen, um zu verdienen.“ so war die einhellige Meinung der Pariser.
Doch es kommt noch schlimmer. Odette ereilt das Schicksal vieler Dienstmädchen: sie wird geschwängert von ihrem Dienstherrn. Allerdings verläuft ihr weiterer Lebensweg und der ihres Kindes nicht dem Klischee entsprechend.
1994 zieht Marguerite mit Ehemann und siebenjähriger Tochter nach Le Bois d‘en Haut. Was zieht die elegante Pariserin, Dozentin für Literaturwissenschaften, an das Gymnasium in diesen entlegenen Ort? Ist sie damit nur ihrem Mann Raymond gefolgt, einem ehemals erfolgreichen Schriftsteller, der in der ländlichen Abgeschiedenheit seine Schreibblockade bekämpfen möchte? Oder verfolgt sie damit ganz eigene Pläne? Die Kollegen, ja die meisten Dorfbewohner begegnen ihr mit Misstrauen.
Doch die sechzehnjährige Helene ist fasziniert von ihrer neuen Lehrerin. Die erkennt bald ihr Potential und fördert das kluge Mädchen. Und Helene verkehrt auch immer öfter im idyllischen Herrenhaus von Marguerite und fühlt sich zusehends vom charismatischen Raymond angezogen.
Sehr zum Ärger ihres Freundes Yannik, der ihre Schwärmerei voller Eifersucht beobachtet. Außerdem hegt er als stolzer Bretone einen Groll gegen Franzosen aus der Hauptstadt. „ Man hat uns unsere Identität gestohlen, wir leben auf besetztem Gebiet. Die Geschichte Frankreichs ist nicht unsere.“so argumentiert er. Sein Zurück zu seinen bretonischen Wurzeln begnügt sich bald nicht mehr nur mit dem Erlernen der bretonischen Sprache. Er schließt sich einer Gruppe Fanatiker an, die für eine freie Bretagne kämpfen und dafür auch nicht vor Gewalt zurückschrecken.
Helene fühlt sich zerrissen von ihren widersprüchlichen Gefühlen und als dann noch bei ihrem geliebten Vater eine unheilbare Krankheit diagnostiziert wird, ist sie völlig verzweifelt.
Es ist viel emotionaler Stoff, den Claire Léost in ihren Roman packt. Dabei schreibt sie in einer nüchternen, völlig unsentimentalen Sprache. Einzig in den Landschaftsbeschreibungen wird es poetisch. Hier ist die Liebe der Autorin zu ihrer Heimat spürbar. Allerdings wird hier nichts sentimental verklärt. Das Dorf ist keine Idylle. Man begegnet vielen Vorurteilen und kleingeistigem Denken.Und es ist nicht die Bretagne, in die es die Touristenströme zieht. Hier gibt es keine malerischen Hafenstädte direkt am Meer, keine wildromantischen Küsten. Nein, ihr Roman führt in die Bretagne der Wälder, der mythischen Orte. Der Leser erfährt so einiges über bretonische Geschichte und Kultur. Deshalb verwundert es nicht, dass die Autorin für diesen Roman mit dem Literaturpreis der Bretagne ausgezeichnet wurde.
Die Geschichte wird im Rückblick erzählt. Seit zwanzig Jahren lebt Helene schon in Paris, nun reist sie zum ersten Mal zurück in ihre Heimat. Und sie erinnert sich, was in jenem Sommer geschehen ist und was sie schließlich zum Weggehen veranlasst hat.
Wie viel von der Autorin steckt in dieser Figur? Die Eckdaten scheinen zu stimmen und gewidmet ist der Roman allen „ Bretonen, die irgendwann einmal fortgegangen sind“, wie sie selbst.
Es ist eine leise, sehr emotionale Geschichte, die auf ein dramatisches Ende zuläuft. Und obwohl dieses Ende vorweggenommen wird, bleibt der Roman spannend. Die Charaktere werden in ihrer Vielschichtigkeit gezeigt, nicht jede ihrer Handlungen kann man billigen, werden aber aus der Biographie heraus begründet. Die meisten Figuren durchlaufen eine Entwicklung, wobei die Autorin erfreulicherweise Leerstellen lässt, so dass der Leser diese selbst füllen muss.
„ Der Sommer, in dem alles begann“ ist ein leicht zu lesender Unterhaltungsroman, aber keiner mit Happy-End.

Bewertung vom 04.04.2024
Das Schweigen des Wassers
Tägder, Susanne

Das Schweigen des Wassers


ausgezeichnet

Altlasten
Susanne Tägder, 1968 in Heidelberg geboren, ist Juristin und war Richterin am Sozialgericht in Karlsruhe, und hat nun mit „ Das Schweigen des Wassers“ ihren ersten Kriminalroman vorgelegt. Inspiriert wurde sie dazu durch eine Zeitungsreportage, in dem es um einen Fall aus DDR-Zeiten ging, der kurz nach der Wende wieder aufgerollt wurde.

Die Geschichte setzt ein im Herbst 1991 in der fiktiven Stadt Wechtershagen in Mecklenburg - Vorpommern. Von hier ging Arno Groth 1960 in den Westen und hierher wird er als Hauptkommissar von seiner früheren Dienststelle in Hamburg geschickt. Abgeschoben fühlt er sich, als „ Altlast“ nach einem beruflichen Fehler. Nun soll er hier als Aufbauhelfer Ost seine neuen Kollegen in westdeutscher Polizeiarbeit schulen. Keine leichte Aufgabe, denn diese begegnen ihm mit Vorsicht und Misstrauen.
Da wird er eines Tages auf dem Parkplatz der Polizeiwache von einem heruntergekommenen Mann angesprochen, ein Alkoholiker, wie es scheint. Der fühlt sich verfolgt und wolle nochmal wiederkommen, dieses Mal mit Beweisen. Während Groth noch überlegt, wie glaubwürdig diese Behauptung sei ( „ Jemand ist hinter mir her. Gilt das nicht für uns alle? denkt Groth. Wer wird denn nicht von etwas verfolgt, und wenn es nur die eigenen Fehler sind.“) und ob er der Sache nachgehen muss, da wird eine Leiche am Seeufer gefunden. Als Groth am Fundort eintrifft, stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten im Wasser um genau jenen Mann handelt. Der Bootsverleiher und Musiker Siegmar Eck. Für die Polizei vor Ort kein Unbekannter. War er doch in einem aufsehenerregenden Mordfall elf Jahre zuvor als Hauptverdächtiger festgenommen und verhört worden. Damals wurde die Polizistentochter Jutta Timm vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Doch Eck kam wieder auf freien Fuß ; er hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Allerdings hat man danach das Verfahren eingestellt ; der Mörder der jungen Frau wurde nie gefasst.
Auch im aktuellen Fall versucht die Polizei die Sache schnell zu den Akten zu legen. Kein Verdacht auf Fremdeinwirkung; Eck scheint betrunken ins Wasser gefallen zu sein.
Doch Groth lässt das Ganze keine Ruhe. Seinem Gefühl nach stimmt hier etwas nicht. Er vermutet einen Zusammenhang zu dem alten ungelösten Fall und beginnt zu ermitteln, gegen den Befehl seiner Vorgesetzten.
Susanne Tägder entwickelt ihre Geschichte ruhig und mit viel Gespür für Details. Dabei fängt sie sehr gut die Atmosphäre dieser Umbruchszeit ein. Die DDR ist Geschichte, doch in den Köpfen ihrer früheren Bewohner steckt sie noch fest. Sie spüren die Verluste und fürchten sich vor dem Neuen. Auch die alten Seilschaften funktionieren nach wie vor.
Erzählt wird aus zwei Perspektiven. Neben dem melancholischen Ermittler Groth ist Regine Schadow die zweite Hauptfigur. Ihre tatsächliche Rolle wird erst im Verlaufe der Handlung klar. Warum hat sie ihren guten Job im Kempinski in Berlin aufgegeben, um nun in einem drittklassigen Ausflugslokal in Wechtershagen als Kellnerin zu arbeiten? Will sie tatsächlich nur die Wohnung ihrer Großmutter aufräumen, wie sie sagt, oder verfolgt sie ganz andere Pläne? Wie stand sie zu dem ermordeten Siegmar Eck?
Neben der Krimihandlung, bei der es um zwei zusammenhängende Verbrechen geht, überzeugt die Autorin vor allem mit ihrer Figurenzeichnung. Es sind beinahe alles Versehrte, die uns im Roman begegnen. Groth mit seiner grüblerischen Art und seinen Selbstzweifeln ist eine interessante Figur. Ein Kommissar mit einer Liebe zur Literatur, ein Mann, der mit Verlusten klarkommen musste - seine Ehe ist schon lange geschieden, seine Tochter gestorben - bringt allein schon deshalb viel Verständnis auf für diejenigen auf der Opferseite. Und auch Regine hat, trotz ihrer Jugend, schon viele traurige Erfahrungen machen müssen. Aber auch die Nebenfiguren werden vielschichtig gezeichnet, so z.B. der eher verschlossene Kollege mit fragwürdiger Vergangenheit, der Groth bei seinen Ermittlungen unterstützt oder der schweigsame und gebrochene Vater von Eck. All diesen Personen begegnet die Autorin mit viel psychologischem Einfühlungsvermögen und Empathie.
Susanne Tägder schreibt im Präsens. Das wirkt unmittelbarer und verstärkt den filmischen Effekt. Dabei bedient sie sich einer präzisen, z.T. lakonischen Sprache und zeigt gerade in den Dialogen ihr ganzes Können.
Der Autorin ist mit „ Das Schweigen des Wassers“ ein atmosphärisch dichter und fesselnder literarischer Krimi gelungen. Gleichzeitig ist der Roman ein stimmig gezeichnetes Porträt jener Umbruchjahre. Es ist zu hoffen, dass Susanne Tägder weitere Fälle mit dem sympathischen Ermittler folgen lässt.

Bewertung vom 02.04.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


ausgezeichnet

Freundschaft vor dem Hintergrund großer Probleme
Lize Spit ist eine flämische Autorin, die mit ihren ersten beiden Romanen nicht nur in ihrer Heimat sehr erfolgreich war. Beide sind sehr umfangreich und düster. Ihr neuester Roman fällt aus der Reihe, ist er doch im Gegensatz sehr schmal und sehr warmherzig. Der geringe Umfang liegt daran, dass „ Der ehrliche Finder“ eine Auftragsarbeit war. Lize Spit sollte das Buch zur alljährlichen Bücherwoche 2023 schreiben. Das sog.„ Boekenweekgeschenk“ ( Bücherwochengeschenk) wird während dieser Woche jedes Jahr im März von niederländischen Buchhändlern an ihre Kunden verschenkt. Meist handelt es sich dabei um eine Novelle.
Und diese Gattungsbezeichnung passt hier, auch wenn der Verlag dem Buch das Etikett „ Roman“ gegeben hat.
Die Geschichte spielt in den 1990er Jahren in der fiktiven Ortschaft Bovenmeer in Belgien. Hier wohnt der neunjährige Jimmy, ein Einzelgänger und Außenseiter, allein mit seiner Mutter. Seine Familie hat einen schweren Stand im Dorf, denn der Vater, ein Steuerberater, hat einige Menschen hier mit dubiosen Geschäften um ihr Geld gebracht. Jimmy ist sensibel und klug, ein eifriger Sammler und Sachensucher. Sein ganzer Stolz ist seine Flippo-Sammlung. Flippos sind kleine Scheiben mit Sammelbildern, die in Chipstüten zu finden sind.
Kurz nachdem nun sein Vater verschwunden ist, tritt Tristan Ibrahimi in Jimmys Leben. Der Elfjährige ist mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo geflohen und die Familie hat hier nun eine Unterkunft gefunden. Jimmy soll sich auf Wunsch der Lehrerin um den fremden Jungen kümmern; eine Aufgabe, die er gerne erfüllt. Endlich ist er nicht mehr allein. Er hilft Tristan nicht nur beim Erlernen der Sprache und den Hausaufgaben, sondern die beiden werden richtige Freunde. Als größten Freundschaftsbeweis legt Jimmy sogar ein eigenes Flippo-Sammelalbum für Tristan an. Das will er ihm feierlich überreichen, als er zum Übernachten bei Tristan eingeladen ist. Aber dann drängt sich ein anderes Ereignis in den Vordergrund. Die Ibrahimis sollen abgeschoben werden. Um das zu verhindern, schmieden Tristan und seine zwölfjährige Schwester Jetmira einen gewagten Plan, in dem Jimmy eine nicht unerhebliche, aber gefährliche Rolle zukommt. Das ist eine Herausforderung für ihn, doch um der Freundschaft willen bekämpft er seine inneren Zweifel und Ängste.
Sehr einfühlsam und konsequent aus der Perspektive des neunjährigen Jimmy beschreibt die Autorin die Geschehnisse. Die Einsamkeit des Jungen ist deutlich spürbar. Auch, wie sehr ihn die Gemeinschaft dieser Großfamilie anzieht. Hier erlebt er einen Zusammenhalt und eine Wärme, wie er sie nicht kennt.
Dafür bringt Jimmy viel Verständnis auf, wenn sein älterer Freund von „ inneren Erdbeben“ erschüttert wird. Wenn Tristan plötzlich Angst bekommt vor lauten Geräuschen, vor Uniformen, vor dem Meer, dann beruhigt Jimmy ihn, ohne nachzufragen. Schließlich weiß er, dass die Familie Schlimmes erlebt hat auf ihrer langen Flucht. Die Lehrerin hat, sobald Tristan sich verständlich machen konnte, der ganzen Klasse den Fluchtweg auf einer Landkarte aufgezeigt. „ Kosovo lag in Luftlinie ungefähr zweitausend Kilometer von Belgien entfernt, aber sie waren keine Vögel, sie hatten Grenzposten passieren müssen, zweimal kehrte der Zeigestock von Italien auf dem Landweg nach Albanien zurück, zweimal waren sie nach der lebensgefährlichen Überquerung des Meeres in einen Bus nach Albanien gesetzt worden. Beim dritten Mal hatten sie es geschafft, obwohl sie einen halben Kilometer vor der Küste aus dem Boot gestoßen worden waren. Sie waren auch keine Fische, ein Kind der Familie, mit der sie das kleine Boot teilten, hatte sich nicht bis ans Ufer retten können.“
Die Familie aus dem Kosovo ist im Dorf freundlich aufgenommen worden. Freigebig wurden alle zum „ Ausmustern bestimmten Sachen -Matratzen, Elektrogeräte, Bettwäsche, Spielzeug, Bücher, Instrumente, Trampoline, Babysachen, Werkzeuge - lieber den Ibrahimis“ geschenkt, statt beim Recyclinghof abgeliefert. Die Wohnung dort ist ein Abenteuerspielplatz für die Kinder.
Der Roman beschreibt eine Freundschaft zwischen Kindern vor dem Hintergrund großer Probleme. Dabei schafft es die Autorin, nicht in Klischees zu verfallen oder ins Sentimentale abzurutschen. Was Flucht und Integration bedeutet, wird an konkreten Figuren nachvollziehbar dargestellt.
Eine packende und bewegende Lektüre, die auch für ältere Kinder und Jugendliche geeignet ist, ja, sich als aktuelle Schullektüre anbietet.
Wie es im Nachwort heißt, wurde die Autorin von einer wahren Geschichte inspiriert. Eine zehnköpfige Familie aus dem Kosovo, die nach ihrer Flucht in einem belgischen Dorf unterkam, sollte wieder ausgewiesen werden. Doch nach massivem Protest des Dorfes erhielten sie Asyl.