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probelesen
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Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 57 Bewertungen
Bewertung vom 19.09.2024
In Zeiten des Todes
D'Andrea, Luca

In Zeiten des Todes


sehr gut

Ein Wälzer von über 700 Seiten aus dem Bozener Drogen- und Prostituiertenmilieu. Der jinge Commissario Krupp ist ehrgeizig und integer. Noch lässt er sich nicht von seinen älteren ermüdeten Kollegen beeinflussen. So setzt er durch, dass der Mord an einer jungen Frau gründlich untersucht und nicht als "Arbeitsunfall" im Milieu abgetan wird. Es zeigt sich bald, dass der Fall viel komplizierter ist als zunächst angenommen. Krupp ermittelt, verstrickt sich aber immer mehr in die eingefahrenen Strukturen der Polizeiarbeit und übernimmt deren Methoden bis hin zur Folter. Die Aufklärung wird immer umfangreicher. Unterstützt wird Krupp durch den engagierten Fotojournalisten Milla, der wie er hin- und hergerissen ist zwischen seinem Gerechtigkeitsempfinden und der Realität. Der Roman bietet mehr als eine Aufklärungsgeschichte einer Mordserie. Gleichzeitig eine psychologische Studie von Gewaltauswirkung, von Polizeiarbeit. Spannend, aber auch sehr deprimierend.

Bewertung vom 20.08.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


sehr gut

Die ehemalige Redakteurin im Büro von Augstein schreibt hier routiniert und anmutig ihren ersten Roman, über ein Thema, das sie wahrscheimlich noch aus ihrer Kindheit kennt. Sie ist auf Nordstrand aufgewachsen. Die Hallig-Gräfin Diana von Reventlow-Criminil war eine außergewöhnliche, extravagante Frau, die sich aus dem höfischen Leben zurückzog und 1910 die einsame Hallig Südfall kaufte und dort einsam mit einigen Hilfskräften und ihren Tieren lebte. Nelles beschreibt nur einige Tage im Leben dieser ungewöhnlichen Frau aus dem Jahre 1944, als ein britischer Pilot im Wattenmeer abstürzt und sie ihn rettet und beherbergt. Sie steht dem Naziregime kritisch gegenüber und versucht, das Mißtrauen des Briten abzubauen. Sehr einfühlsam beschreibt Nelles die emotionalen Strömungen zwischen den wenigen Menschen auf der Hallig. Fast impressionistisch bleibt vieles im Vagen, aber die Stimmung der norddeutschen Landschaft wird gut eingefangen, auch verdeutlich durch einige plattdeutsche Einschübe. So bleibt auch der Ausgang dieser Begegnung offen. Sehr lesenswert und ein wunderschönes Cover.

Bewertung vom 06.08.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


ausgezeichnet

Ein ganz besonderes Buch. Im Mittelpunkt steht der Schweizer Jude Benjamin Oppenheim, vor langer Zeit Bestsellerautor, der sich jetzt als Werbetexter über Wasser hält. Er lebt in Trennung von seiner Frau und seinen Kindern, hat eine Geliebte, kreist um seine Ängste und schafft es kaum, seinen Alltag zu organisieren. Immer wieder erklärt er sich seine Probleme mit der jüdischen Geschichte. Immer sind die Juden auf der Flucht. Nie sind sie angekommen. Und er erlebt diese Fluchtgedanken intensiv, als er die politische Lage - höchst aktuell die Bedrohung durch Kriege - als so gefährlich erlebt, dass er mit seiner Familie überstürzt nach Brasilien ausreist, dem Asyl seines verehrten Schriftstellers Stefan Zweig. Aber auch hier keine Lösung seiner Ängste. Was ist diese Person? Tölpel? Neurotiker? Clown? Immer wieder machen Ironie und Humor die Lektüre leicht. Ernst bleiben die Gedanken zur jüdischen Identität, die über Jahrhunderte durch Diskriminierung, Vertreibung und Verfolgung geprägt sind. Interessant, nachdenkenswert, dabei auch noch unterhaltsam.

Bewertung vom 28.07.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


gut

Karl V. (1500-1558) zieht sich kurz vor seinem Tod in ein Kloster in Spanien zurück. Er hat alle Ämter abgeben und will sich - schwer erkrankt- auf sein Ende vorbereiten. Bei ihm ist sein illegitimer elfjähriger Sohn, der aber nichts von seiner kaiserlichen Herkunft weiß. Mit ihm begibt sich Karl auf eine imaginäre Reise mit Pferd und Maulesel bis an an die Küste bei Laredo. Es ist nicht einfach, diese schön beschriebene Reise als Phantasie zu erkennen und sich auf diese Erzählung einzulassen. Es ist eine abenteuerliche Welt, voller Grausamkeit, Armut, hasserfüllter Ausgrenzung. Aber es gibt auch Freundschaft und Liebe. Das Buch ist gut recherchiert, gibt ein realistisches Bild der Zeit mit interessanten Bezügen zu historischen Personen und Ereignissen. Auch die Reflektionen Karls zum Sinn des Lebens, zu dem was bleibt von seinem Reich und seinem Ruhm, sind interessant. Es fehlt leider ein fesselnder Spannungsbogen. Etwas enttäuschend nach den Erfahrungen mit den Büchern von Geiger.

Bewertung vom 15.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Eine radikale Partei hat die Macht in Irland übernommen, verschärft Gesetze und Notstandsverordungen und greift immer stärker ein in private Verhältnisse. Eilish, berufstätige Mutter von vier Kindern, erlebt einen Albtraum, als ihr Mann, Gewerkschaftsaktivist, zu einem Verhör geladen wird, nach einiger Zeit verhaftet wird und spurlos verschwindet. Eindrucksvoll beschreibt Lynch wie sich die Bedrohung verdichtet, wie sich Einschränkungen und Unsicherheiten auf die Kinder auswirken. Schließlich eskaliert die Situation und entwickelt sich zu einem Bürgerkrieg. Dramatische Szenen werden geschildert: die Stadt wird zerstört, es finden Kämpfe direkt vor der Tür statt, der demente Vater versteht alles gar nicht mehr. Verstörend und ergreifend sind die Schilderungen der Mutter, die nicht fliehen möchte, weil sie immer noch hofft, ihr Mann würde zurückkommen, die ihren Vater nicht zurücklassen kann, die ihren Kindern helfen möchte und nicht. kann. Erst als zwei ihrer Kinder sterben, entschließt sie sich zur Flucht und erlebt eine Geschichte, die heute von tausenden Geflüchteten erlebt wurde. Ein Roman, der manchmal schwer auszuhalten ist, aber eine wichtige Ermahnung, die mit dem Booker Prize gewürdigt wurde.

Bewertung vom 08.07.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

In Mesopotamien lag einst die Wiege der Zivilisation vom Wasser geprägt, vom Mangel bis zum Überfluss. Hier liegt die Wurzel des übermächtigen Epos mit den drei Ezählsträngen: über den Entzifferer der Keilschrift des Gilgamesch-Werkes, der kleinen Jesidin Narin, die im Irak getauft werden soll und der Hydrologin in London mit ihrer irakischen Familie. Zum Schluss werden die drei Stränge vereint und ergeben ein geschlossenes Werk. Immer wieder steht das Thema Wasser im Mittelpunkt. Shafak hat viel recherchiert und beleuchtet historische, kulturelle und geistesgeschichtliche Hintergründe. Man erfährt viel über die Entzifferung der Keilschrift wie auch über die Verfolgung der Jesiden. Im Nachwort erklärt Shafak ihre Quellen und ihre fiktionalen Eingriffe. Eine Fülle von Informationen hat sie verarbeitet, hat aktuelle Diskussionen aufgegriffen wie den Umgang der westlichen Museen mit dem kulturellen Erbe indigener Völker oder Umweltprobleme, aber auch Organhandel. Fast ein bisschen viel. Dabei sind die Schilderungen spannend, nie langweilig oder unverständlich. Ein monumentales Werk. Sehr zu empfehlen.

Bewertung vom 24.06.2024
Toskanisches Verhängnis
Trinchieri, Camilla

Toskanisches Verhängnis


sehr gut

Es ist bereits der vierte Krimi um den New Yorker ehemaligen Polizisten, der nach dem Tod seiner italienischen Frau in das malerische Chianti zieht, dort im Restaurant seiner Familie neue Rezepte ausprobiert und immer wieder zur Klärung von Mordfällen herangezogen wird. Es ist ein beschaulisches Ambiente, in dem es um Kochen und Rezepte, um kleine Famlienkonflikte, Liebesbeziehungen geht. In dieser Idylle geschieht wieder einmal ein Mord und Nico Doyle wird zu den Ermittlungen herangezogen. Es scheint sich bei dem Mord an der unsympathischen Witwe um eine Familientragödie zu handeln, aber die Ermittlungen laufen doch zunächst auf eine Überraschung zu. Oder geht es doch darum, das Erbe zu sichern? Ein wunderbarer Ferienkrimi, der eine heitere Atmosphäre mit italienischem Flair vermittelt, die sich auch schon auf dem Cover mit dem Bild einer toskanischen Villa kund tut.

Bewertung vom 02.06.2024
Der 1. Patient / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.4
Schwiecker, Florian;Tsokos, Michael

Der 1. Patient / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.4


ausgezeichnet

Der vierte Band um den Strafverteidiger Rocco Eberhardt und den Rechtsmediziner Justus Jarmer widmet sich einem aktuellen Thema: KI in der Medizin. Im Mittelpunkt steht die Ärztin Sasha Müller, die Hilfe sucht, weil der Patient gestorben ist, den sie routinemäßig operiert hat mit Unterstützung von KI. Sie ist engagierte Verfechterin der neuen Techniken und erscheint entsetzt, dass sich jetzt eine Debatte über die Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit des Einsatzes auch in der Öffentlichkeit entwickelt. Die beiden Experten auf den Gebieten Strafrecht und Rechtsmedizin haben hier wieder einen fachkundigen und spannenden Krimi geschrieben. Dabei zeigen sie verständlich die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz auf, debattieren die strafrechtlichen Folgen von Fehlentscheidungen, beschreiben auch kritisch die Funktion der Presse in der öffentlichen Diskussion und letztlich auch die wirtschaftliche Dimension der technischen Entwicklung. Es bleibt ein überraschendes Ende des fundierten, interessanten Romans. Sehr empfehlenswert.

Bewertung vom 02.05.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


ausgezeichnet

Der georgische Autor kam als Kind nach dem Bürgerkrieg in den 90er Jahren nach England und schrieb seinen ersten Roman auf Englisch. Geprägt ist dieser von autobiographischen Erfahrungen: der Flucht, dem Zurückbleiben der Mutter in Tiblis, der Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit. Es ist ein Roman geworden über die Geschichte des Landes zwischen Asien und Europa, geprägt von blutigen Kriegen, von Grausamkeiten und Unterdrückung. Saba, der Ich-Erzähler, fährt nach Georgien auf der Suche nach seinem Vater und seinem Bruder, die nach einer Reise in ihre alte Heimat verschollen sind. Er folgt den Spuren, die Vater und Bruder gelegt haben, gerät in gefährliche Situationen. Er spricht mit den Toten seiner Familie, reist in entlegene Gebiete des Kaukasus verfolgt von einem Kommissar, der seinen Vater für einen Mörder hält. Ein ergreifendes Epos mit sehr aktuellen Bezügen. 20 Prozent Georgiens sind heute von Russland besetzt und gerade eskalieren die Spannungen wieder. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 28.04.2024
Unter dem Moor
Weber, Tanja

Unter dem Moor


ausgezeichnet

Der Hund der jungen Ärztin, die eine Auszeit von ihrem anstrengenden Beruf am Stettiner Haff nimmt, findet einen menschlichen Knochen. Das ist der Ausgangspunkt zu einem Roman über drei weibliche Schicksale der letzten hundert Jahre. Drei Frauen, die 14-jährige Gine in der Nazizeit, die 20-jährige Sigrun in der DDR und Nina, die im heutigen Berlin lebt. Sie kennen sich nicht und doch sind sie durch verschiedene Verkettungen miteinander verbunden. Eindrucksvoll werden die politischen Mechanismen der Unterdrückung geschildert, wie sie sich bis in die intimen Beziehungen auswirken. Was wie ein Krimi beginnt, ist doch eher ein Gesellschaftsroman, der aber spannennd wie ein Krimi ist. Der Knochenfund ist der Faktor, der die Handlung zusammenhält, er stellt die Bezüge zwischen den drei Frauen her. Die Geschichte ist eingebettet in schöne Schilderungen des Haffs und des Moores. Sehr empfehlenswert.