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Juma

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2024
Gefährliche Betrachtungen
Eckardt, Tilo

Gefährliche Betrachtungen


sehr gut

Thomas Mann – kein Sherlock Holmes, aber ein echter Dichterfürst

Nun also von Tilo Eckardt – literaturverbundener und -verliebter Deutsch-Schweizer – ein Kriminalroman, den der Autor zu einer hochbrisanten Zeit spielen lässt und mit Nidden, der Mann‘schen Zuflucht an der litauischen Ostsee, einen idyllischen Ort des Geschehens wählt. Ich konnte gar nicht anders, als dieses Buch auszuwählen, mit dem Zauberberg als ewiges Lieblingsbuch und mit der Zeit der 1930er Jahre und dann noch mit einem Kriminalfall, waren alle Register meines Interesses gezogen.
Tilo Eckardt hat sich an seinem Thomas Mann gut geschult, er hat einen Schreibstil und eine Wortwahl entwickelt, die dem Dichter zu Ehren gereichen würden. Als Leser amüsiert man sich über längst nicht mehr gebräuchliche Ausdrücke, wenn „fürderhin Eindringlinge abzuschrecken“ sind, Frau Bryl den einen oder anderen „Choc“ bekommt, sich einen „Shawl“ umlegt oder ein Herr ein „Plastron“ trägt. Mich erinnerte diese Art des Schreibens jedenfalls sehr an die Mann’sche Art, alles langsam und mit einem Gespür fürs Detail zu erzählen. Nicht umsonst zählt der Zauberberg rund tausend Seiten, auch die Buddenbrooks brachten es auf über siebenhundert. Da hat Tilo Eckardt seinen Kriminalroman regelrecht kurzweilig zum Ende gebracht, inklusive der Anmerkungen des Autors, die man unbedingt noch lesen sollte, wurden es gerade einmal 298 Seiten. Mir kamen sie gelegentlich trotzdem etwas lang vor, aber ab Kapitel Sechzehn bekam das Buch doch noch einen enormen Schwung und das Lesen machte wieder Spaß.
Der Blick auf den sich 1930 gerade in die Höhe schwingenden Nationalsozialismus, auf Bespitzelungen und Anfeindungen von politischen Gegnern, auf den Versuch, sich nicht mundtot machen zu lassen, auf die Künstlerschaft in Nidden und die einfachen Leute, das wurde alles sehr fein zu Papier gebracht und lohnt das geduldige Lesen.

Fazit: ein Roman ganz im Stile Thomas Manns, der erst zum Ende hin ein echter Kriminalroman wird und den gewogenen Leser sehr in seinen Bann zieht.

(gekürzt wegen Zeichenbeschränkung)

Bewertung vom 10.11.2024
Wir finden Mörder Bd.1
Osman, Richard

Wir finden Mörder Bd.1


sehr gut

Krimineller Lesespaß

Wer würde zugeben, nicht den Donnerstagsmordclub von Richard Osman zu kennen? Keine Frage, Osman hat sich in den letzten Jahren mit dieser Serie einen Leserkreis erobert, der wirklich angetan ist von seinen Büchern. Jetzt wurde umgesattelt, "Wir finden Mörder" ist seine neue, gänzlich anders geartete Krimi-Serie.
Das Buch startet am Pool, Amy Wheeler, Bodygard für die alternde und momentan schutzbedürftige Krimischriftstellerin Rosie D'Antonio, fühlt sich eher als Anstandsdame oder Babysitter. Beide Frauen geraten im Laufe der Handlung dann aber doch in securitywürdige Situationen. Amys Schwiegervater und Ex-Kriminalkommissar ist einer der unzähligen Protagonisten, es gibt da noch den sehr eloquenten, die Handlung vorantreibenden Kriminellen François Loubet, seine Marionetten, einige Polizisten und ab und an einen Toten. Man kann die Geschichte mit ihren minütlich wechselnden Wendungen, Handlungen und Personen nicht nacherzählen. Einerseits würde anderen Lesern die Spannung genommen und andererseits ist es kaum möglich, den feinen Spott und Humor von Osman zu kopieren.
Für meinen Geschmack wechselten Protagonisten und Ereignisse zu häufig, meine Konzentration ließ leider auch dann nach, wenn Loubet sich selbst beweihräucherte. Die zumeist kurzen Kapitel lesen sich aber flüssig und lassen einen bei der Lektüre nicht nur einmal schmunzeln.
Das Buch hat bei mir für gute Unterhaltung gesorgt. Das halte ich besondere den beiden Sprechern zu Gute, die sich adäquat in die einzelnen Szenen hineinlasen. Ich habe nämlich parallel das Hörbuch gehört. Wer also lieber hört als liest, nehme dies als Empfehlung.
Ich bin gespannt, was diesem fulminanten Feuerwerk an Ideen in einem zweiten Band folgen wird. Osman-Fan bleibt Osman-Fan!

Bewertung vom 04.11.2024
Gegenspieler
Strobel, Arno;Bott, Ingo

Gegenspieler


gut

Neues Ermittlerteam mit Charakter und Schwächen

Jedem Liebhaber deutscher Krimis, so auch mir, ist Arno Strobel ein Begriff, seine Bücher zieren nicht selten die Bestsellerlisten. Auch schrieb er schon im Duett mit Ursula Poznanski, der „Gegenspieler“ ist nun das erste Buch, das er gemeinsam mit dem Krimiautor Ingo Bott (bekannt durch die Pirlo-Serie) herausbringt. In diesem Buch treffen sich der Ex-Kriminalist Max Bischoff, der auch einer Krimiserie entstammt, und der Anwalt Dr. Anton Pirlo zu einem ersten Match. Die Aufmachung des Buches ist schon ein Hingucker, das Cover zeigt rundum die beiden Autoren (sehen so auch die Protagonisten aus?) oder sollte man lieber sagen, Antagonisten – man kann das Buch ins Regal stellen, wie man will, es hat auch zwei Rücken. Der Untertitel „Bischoff und Pirlo ermitteln“ hält alles zusammen.
Mit über 400 Seiten ist es ein recht umfangreiches Buch, da erwartet der (den) Krimileser auch einiges. Leider sind sich die beiden Hauptakteure überhaupt nicht grün und der ursprünglich zu lösende Kriminalfall eines vorgetäuschten Selbstmords bläht sich im Verlauf des Buches zu Größerem auf. Zuerst kommt der Anwalt Karl Müller von der renommierten Kanzlei Müller & Mahler zu Tode, danach folgt eine zweite Führungsperson aus dieser Kanzlei. Anwalt Ernst Mahler seinerseits will durch Privatermittler Max Bischoff zunächst den ersten Todesfall klären lassen, dass er Bischoff nur mit 50.000 Euro ködern kann, die dieser für die Heilungschance seiner Schwester verwenden will, mutet recht merkwürdig an. Weiter lernt man zu Beginn Sophie, die Tochter von Mahler, kennen, auch sie recht eigensinnig und von sich eingenommen. Der Apfel… Dummerweise wird Kanzleichef Mahler als Verdächtiger in Untersuchungshaft genommen. Als dann auch noch Sophies Lover und Mitanwalt Pirlo, der natürlich Mahler vertreten und heraushauen soll, in die Ermittlungen einbezogen wird, ist das Chaos fast perfekt. Gleich zu Beginn und zwischen den einzelnen Scharmützeln der Protagonisten meldet sich eine Mörderstimme aus dem Off und stiftet beim Leser Verwirrung – augenscheinlich strebt er nach unsterblichem Ruhm – und soll bestimmt die Spannung steigern.
Dass sich erst am Ende des Buches alles aufklärt, ist selbstverständlich, sonst hätte es mindestens 200 der 400 Seiten nicht gebraucht. Die letzten Kapitel nahmen aber doch unerwartet Fahrt auf und wurden dem Genre Krimi gerecht. Kurz, aber nicht ganz schmerzlos, rasant, und mit am Ende etwas überschwänglichem Ausgang. Ernst Mahler erscheint im wunderbaren Licht, das einem hochkarätigen Anwalt wohl gebührt. Mehr will ich nicht verraten. Dass es weitere Bischoff-Pirlo-Krimis geben wird, ist eigentlich klar. In diesem Buch haben sich die beiden Gegenspieler erst einmal nur beschnuppert.
Mich haben die langen Wortgefechte, das ewige aufs Handy starren und telefonieren, und die nicht ganz logischen Aktionen und Reaktionen der Protagonisten zuweilen etwas gelangweilt. Welcher Leser kann sich denn vorstellen, dass ein gestandener Professor sich als Anwaltspraktikant zu einer Anhörung beim Staatsanwalt einschmuggeln lässt? Recht absurd. Leider geriet das Ermitteln bei den vielen äußerlichen Beschreibungen, wie z. B. von Pirlos Haaren, manchmal in den Hintergrund.
Fazit: Ein neues Ermittler-Duo am Krimihimmel, da haben die beiden Autoren bestimmt noch Luft nach oben. Obwohl zwei Autoren am Werk waren, liest sich das Buch sehr stimmig, dass die Sicht- und Schreibweise passend zu den beiden Protagonisten Bischoff und Pirlo ausgelebt wird, ist überzeugend. Gute 3 Sterne.

Bewertung vom 31.10.2024
Zorn - Der Fall Schröder / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.14
Ludwig, Stephan

Zorn - Der Fall Schröder / Hauptkommissar Claudius Zorn Bd.14


ausgezeichnet

Auch Krimis können gute Laune machen

Ich bin ja so froh, dass Stephan Ludwig wieder in seinen Zorn-Rhythmus gefunden und in diesem Herbst mit Der Fall Schröder meine länger werdenden Abende verkürzt hat. Der 14. Fall ist ein großer Wurf, dieses Mal so spannend wie lange nicht. Denn es geht um Schröder, dessen Superhirn von einem Tag zum anderen recht angeschlagen wirkt und es geht um einen Suizid, der einige Rätsel aufgibt. Wer den 13. Teil gelesen hat, weiß warum Frieda (unterdessen Ehefrau von Kommissar Claudius Zorn, dem Titelgeber) seit Monaten in der Reha behandelt wird. Trotz der angeschlagenen Laune versucht Frieda, positiv und fein lenkend auf Zorn einzuwirken. Der hat es aber auch wirklich nicht leicht, sein Chef Schröder gesundheitlich angeschlagen, sein Sohn Edgar frühpubertär, sein Kollege zu wissbegierig, sein Auto dreckig, Friedas Hibiskus am Ende und auch sonst jede Menge Verdruss. Dass es auch noch Tote und Enthüllungen gibt ist klar, wie sich alles (auf)-klären lässt, behalte ich für mich. Ich will niemandem die Spannung nehmen an diesem klasse Krimi. Und freue mich schon sehr auf den nächsten Herbst!

#NetGalleyDE

Bewertung vom 29.10.2024
Das rote Vogelmädchen
Steinhardt, Stephanie Marie

Das rote Vogelmädchen


ausgezeichnet

Überschäumende Liebe und tiefe Selbstzweifel

Das Cover ist passend zum Titel mit vielen Rottönen sehr aufmerksamkeitsstark. Das Mädchen aber schaut am Betrachter vorbei, vielleicht auf einen unsichtbaren Dritten, von dem nur noch die Finger sichtbar sind. Ein gedruckter Button gibt dem künftigen Leser den ersten Hinweis auf den Inhalt: Ein außergewöhnlicher Adventskalender voll Liebe und Glück.

Die Autorin Stephanie Marie Steinhardt bringt hier ihr erstes Buch zur Welt, ihre Bilder aber sind bereits seit einigen Jahren in der Welt. Sie hat durch Studium und Berufstätigkeit einen hohen Level, was Kunstkenntnis, künstlerisches Arbeiten, Texten und Schreiben anbelangt. All das verwendet sie gekonnt in ihrem Buch. Sie hat sich als Arbeitsort ihrer Protagonisten eine Werbeagentur erwählt, in der Jacob als Grafikdesigner tätig ist und in die sich Bene als neue Mitarbeiterin bewirbt. Bene also ist das rote Vogelmädchen des Titels. Während des Lesens hatte ich das eine oder andere Mal das Gefühl, ich hätte das Buch mit dem Titel „Das bunte Vogelmädchen“ versehen, dann wieder war sie für mich „Das verlorene Vogelmädchen“. Es gäbe wohl noch andere Adjektive, die ich der wilden, bunten, ausgelassenen, traurigen Bene geben könnte, sie ist der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Und sie ist es, die von Anfang an Jacob zu ihrem Ideal erhoben hat und ihn unbedingt erobern will. Erst ganz am Ende löst sich das Geheimnis um den Titel auf.

Die Lovestory wird dem Leser in 24 Adventsgeschichten erzählt, Bene gibt ihrem Jacob für jeden Tag ein Geschenk, immer eine ausgefallene Dose, immer mit passendem Dekor, in die sie ihm immer einen Tagebuchabschnitt aus der Zeit ihres Kennenlernens legt. Zu Beginn sah ich in Bene die junge verliebte Frau, mit Tausend Gedanken und Ideen im Kopf, mit immer mindestens zwei Dingen gleichzeitig beschäftigt, mit einem vollen Herzen und überhaupt nicht auf den Kopf, noch weniger auf den Mund gefallen. Man lernt peu à peu ihre Freunde und Bekannten kennen, man erlebt das Zueinanderfinden zweier verliebter Seelen.

Aber es ist wie im richtigen Leben, nicht alles, was nach außen glänzt und leuchtet, ist auch im Inneren so wunderschön. Jacob zweifelt an seinen künstlerischen Fähigkeiten, Bene will ihn zu seinem Glück zwingen, aber zweifelt an sich selbst, sie gleicht einer tickenden Zeitbombe. Dieses Miteinander birgt dann auch tückische Fallen. Wie sich beide daraus befreien wollen, das verrate ich natürlich nicht, auch nicht, ob es gelingt.

Für mich war das ein interessantes Lesevergnügen, auch wenn mir die Verherrlichung von Jacob, dem unwiderstehlichen und perfekten Mann, etwas zu vordergründig war. Jacob steht aber seiner Bene da im Buch auch nicht nach, er ist Seite für Seite entzückt von ihr. Dass die pure Lovestory dann doch einige Knicks und Falten bekommt, ist nachvollziehbar. Was ich nicht so recht nachvollziehen kann, das sind die massiven Selbstzweifel von Bene, hier fehlte mir dann doch etwas Hintergrundwissen. Wer oder was hat sie jemals so enttäuscht oder gedemütigt, dass die Minderwertigkeitsgefühle und der Selbstzweifel trotz der Verliebtheit und der schönen Zeit mit Jacob so massiv in Benes Psyche eingreifen? Offenbar braucht sie ein buntes, auffallendes Äußeres und sehr viel Deko und Antikes in ihrer Wohnung, um sich sichtbar und nicht minderwertig oder langweilig zu fühlen. Wie wird man so? Das verrät das Buch nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur an dem „langweiligen Leben“ der Eltern liegt. Andererseits weist das Buch auf ein Grundproblem des Zusammenlebens hin: dass Menschen sich ständig verpflichtet fühlen. Zum Loben, zum Schenken, zum Einladen, wozu auch immer. Etwas ohne Gegenleistung zu tun, fällt vielen schwer, den Schenkenden wie auch den Beschenkten.

Der Schreibstil ist mal leichtfüßig, mal gedankenbelastet, aber gut lesbar. Ein bisschen mehr Genauigkeit im Korrektorat hätte mich zu einer „sehr gut lesbar“-Bewertung veranlasst. Gut gefallen hat mir die Typografie, die 24 Tage immer auf einer neuen Seite, jeder Tag beginnt mit einer passenden Vignette. Aber die Grundschrift hätte für mich 1 p größer sein können, besonders die langen kursiven Passagen fand ich anstrengend zu lesen. (Liegt sicher am Alter und meiner Brille.)

Bene und Jacob, die sich gegenseitig glücklich machen wollen, das ist eine schöne Liebesgeschichte. Die kann man auch zu anderen Jahreszeiten lesen, aber zum Advent passt sie ganz besonders gut. Tränen der Rührung inklusive.

Fazit: Ob man es als Liebesgeschichte der anderen Art oder als ungewöhnlichen Adventskalender betrachtet, dieses Buch hat seine Reize! Vielleicht ist es mehr ein Frauenbuch, ich glaube, Männer lesen solchen Geschichten nicht so häufig. Zum Verschenken eignet es sich bestimmt in der jetzt beginnenden Vorweihnachtszeit.

Bewertung vom 29.10.2024
Rath / Kommissar Gereon Rath Bd.10
Kutscher, Volker

Rath / Kommissar Gereon Rath Bd.10


ausgezeichnet

Wiedersehen und Abschied

Als ich 2012 „Haus Vaterland“ las, war das meine erste Begegnung mit Volker Kutscher und seinen beiden Protagonisten Gereon Rath und Charlotte Ritter, genannt Charly. Seitdem habe ich auch die ersten drei Bände und alles, was danach erschien, mit Freude und Interesse gelesen. Zwischendurch aufgelockert von Hörspielserien, Hörbüchern und natürlich „Babylon Berlin“. Durch diese Fernsehserie erhielten die Protagonisten Gesichter, ich habe mir jedenfalls vor allem immer Volker Bruch und Liv Lisa Fries vorgestellt in den Romanen.
Kutscher ist es mit seiner historischen Berlin-Krimi-Reihe hervorragend gelungen, seine Leser zurückzuholen in die Zeit des Nachkriegs, der Weimarer Republik, der Machtergreifung Hitlers und nun im 10. und letzten Band ins Jahr 1938 mit seinen grausamen Höhepunkten: Der Anschluss Österreichs, die Unterwerfung der Tschechoslowakei, die Vertreibung von zehntausenden polnischen Juden über die polnische Grenze in eine ungewisse Zukunft, und – die Pogromnacht am 9. November, die nicht ganz zu Unrecht früher Reichskristallnacht genannt wurde. Denn in dieser Nacht wurden unzählige Spiegel, Scheiben und nicht zuletzt die Synagogen ein Opfer der entfesselten „Volksseele“, die Scherben blieben zurück, die Juden wurden gedemütigt, gefoltert, getötet, ins KZ gesperrt. In diesem letzten Jahr vor Kriegsbeginn spielt dieser Roman und er lässt einen tiefen Einblick zu in die Gepflogenheiten von SA und SS, in die fast unsichtbar gewordene Kriminalpolizei um Ernst Gennat. Berlin bildet den Hintergrund mit seinen teilweise heute nicht mehr existierenden Straßen und Plätzen, mit seiner Bevölkerung, die sehr gemischt ist, von obrigkeitshörig über devot bis hin zu brutal und denunzierend. Und unter ihnen leben Tausende Juden, deren Lebensgefahr von Tag zu Tag größer wird.
Der ehemalige Pflegesohn von Charlotte und Gereon Rath, Fritze, lebt unterdessen wieder in der Familie des HJ-Führers Rademann und gerät im Verlauf der Geschichte unter Mordverdacht. Gleichzeitig stirbt seine Geliebte in einem Berliner Krankenhaus. Fritze begibt sich wieder einmal auf die Flucht. Gereon, der seit dem letzten Teil der Serie in Deutschland als tot gilt, taucht wieder auf und auch sein Bruder Severin, nun amerikanischer Staatsbürger, hat mit seiner Freundin den Weg nach Deutschland gewagt. Der Vater der beiden Männer liegt im Sterben, es scheint, dass das die Familienbande im Hause Rath wieder kittet. Ausreichend Stoff schon zu Beginn des Buches, Volker Kutscher mit seiner Fantasie gibt dem Leser gutes Futter, es macht Spaß, die verschlungenen Pfade der einzelnen Figuren zu verfolgen und zu rätseln, was als nächstes passiert, wer als nächster in die Fänge der Gestapo gerät oder gar zu Tode kommt. Tragische Verwicklungen und Entwicklungen halten die Spannung hoch bis zum Ende.
Kutscher hat einen gut lesbaren Stil, seine Dialoge sind wirklichkeitsnah und seine Charaktere interessant gezeichnet. Das düstere Cover verleiht dem Buch etwas Dunkles, nicht Greifbares, es scheint wie die letzte Szene mit Gereon und Charly im Buch unwirklich und doch endgültig. Ohne Übertreibung kann ich sagen, schade, dass diese Romanreihe hier ihr Ende gefunden hat. Wenn man der Entwicklung von Kutschers Protagonisten so lange und sehr begeistert gefolgt ist, würde man schon gern wissen, wie sie sich weiterentwickeln, was ihnen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges geschieht. Da ist nun die eigene Fantasie gefragt.
Fazit: Leseempfehlung, Krimi mit historischem Hintergrund auf hohem Niveau. Fünf Sterne.

#Rath #NetGalleyDE

Bewertung vom 14.10.2024
Suche liebevollen Menschen
Borger, Julian

Suche liebevollen Menschen


sehr gut

Dem Vergessen entrissen

Julian Borger, Vollblutjournalist und auf der ganzen Welt zu Hause, geboren Anfang der 1960er Jahre in England als Sohn eines jüdischen Wiener Emigranten und einer britischen Mutter, beginnt 20 Jahre nach dem Freitod des Vaters dessen Geschichte und die Familiengeschichte zu recherchieren. Dass es bis 2020 dauerte, ehe er damit überhaupt begann, hatte viele Gründe: das Schweigen in der Familie, das viele dieser Generation kennen und erst spät aufbrechen wollen oder müssen, die Arbeit, die Schnelllebigkeit der heutigen Zeit, immer war etwas anderes wichtiger. Dann fiel ihm die Anzeige wieder in die Hände, um die er sich schon lange kümmern wollte „Seek a kind person who will educate my intelligent Boy, aged 11, Viennese of good family, Borger, … Vienna 3“. Sie war im Manchester Guardian am 3. August 1938 veröffentlicht worden. Der intelligente Junge, der in der Anzeige beschrieben wird, war sein Vater Robert. In der gleichen Zeitungsspalte wird für vier weitere Kinder ein „Ausbildungsplatz“ gesucht. Julian Borgers Interesse ist plötzlich geweckt, er beginnt zu suchen und findet zuerst Material für einen umfangreichen Zeitungsartikel, der dann den Grundstock für dieses Buch bildet.
Julian Borger beschränkt sich aber in seinen Recherchen rund um den Erdball nicht auf die Lebensgeschichte seines Vaters, er sucht auch nach den anderen Kindern, die auf diese Weise vor dem sicheren Tod bewahrt wurden. So entstehen mehrere Porträts von jüdischen Familien mit ihren unterschiedlichen Schicksalen, immer im Fokus die geretteten Kinder.
Bisher gab es wahrscheinlich kein einziges Buch, dass die Geschichte der privaten Rettung von jüdischen Kindern über Zeitungsanzeigen beschrieben hat. Ich kenne jedenfalls keines. Schon das allein ist für mich die große Überraschung dieses Buches. Mich haben die einzelnen Geschichten sehr berührt, gerade weil auch ich Nachkomme eines Holocaustopfers und dessen Tochter, einer Überlebenden, bin. Ich beschäftige mit seit Jahren mit der Thematik und bin doch immer wieder erstaunt, wie vielfältig und unterschiedlich die Schicksale einzelner Menschen sind, die am Ende doch ein großes Ganzes bilden, immer mit der Hoffnung „Nie wieder“.
Fazit: Ein starkes und tragisches Buch, gut lesbar, nahe an den beschriebenen Menschen. Jedes einzelne Schicksal könnte einen Roman füllen. Eindeutig eine Leseempfehlung. Gute vier Sterne.

Bewertung vom 09.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


ausgezeichnet

Wie schön ist diese Welt!
Meine Überschrift zu dieser Rezension ist ein im Buch verwendetes Zitat aus dem Roman von Lili Grün „Zum Theater“ – es passt sehr gut zum neuen Buch von Isabel Bogdan, die diesmal nicht die feine schottische Gesellschaft oder das Laufen als innere Reinigung und Befreiung aufgreift, sondern mitten im Leben landet. Wohnverwandtschaften lassen – zumindest bei mir – ja sofort im Kopf das Wort Wahlverwandtschaften aufblitzen und beim Lesen stellte ich fest, dass auch letzteres gut als Titel getaugt hätte für dieses wunderbare Buch.
Die wichtigsten Protagonisten des Romans kann man an einer Hand abzählen, dadurch bildet sich schon von Beginn an eine sehr emotionale Nähe zwischen ihnen und dem Leser. Kaum hat man begonnen, kennt man Constanze, die junge Zahnärztin, Murat, den Zauberkoch, Anke, das verkannte Schauspielgenie, und Jörg, den Endsechziger mit großem Reisewunsch. Die vier sind es, die eine WG (gern auch Wohngemeinschaft genannt, vielleicht auch Wahlgemeinschaft) bevölkern, Jörg ist der Besitzer der Wohnung und Constanze das Kücken, das als letztes inklusive unnützem und ungeliebtem weißen Klavier zur WG stößt.
Bezaubernd die Beschreibungen des ersten Kennenlernens, gemeinsamen Kochens und Sinnierens. Mit gekonnter Leichtigkeit geht die Autorin in die Vollen und lässt die Hüllen der vier Stück für Stück fallen. Aber nichts ist so leicht, wie die Fantasie, und so kommen erhebliche Probleme auf das Kleeblatt zu, das gegenseitige Liebe und Freundschaft entwickelt hat. Und diese wird auf eine harte Probe gestellt, als Jörg zu einer Not-OP ins Krankenhaus muss. Den weiteren Verlauf dieser ungewöhnlichen und sehr zu Herzen gehenden Viererbeziehung möge jeder selbst lesen. Es lohnt sich auf jeden Fall.
Der Stil von Isabel Bogdan hat eine Leichtigkeit und Frische, die man nicht so häufig findet in den Gegenwartsromanen. Ihre Dialoge und Selbstgespräche lesen sich echt und lebensnah. Das hat mir sehr gefallen. Das Einstreuen von Zitaten und Liedtexten gelingt ihr punktgenau.
Jede der vier Hauptfiguren ist auf ihre Art lebendig und nachdenklich, es macht Freude, den Gedankensprüngen zu folgen, die Traurigkeiten machen etwas traurig und trotzdem bleibt bis zum Ende des Buches eine fast euphorische Lebensfreude erhalten. Meine Lieblingsfigur ist Murat, der Deutsche mit türkischen Wurzeln und einem großen Herzen und einem Händchen für Küche und Garten. Die fünfte Hauptfigur ist dann auch sein spontan adoptierter Hund Alien, eine perfekte Idee für die WG hatte die Autorin auch hier.
Gern würde ich das Buch auch als Hörbuch genießen, die Vorstellung ist jedenfalls sehr verführerisch, schon weil viele gute Schauspieler, z. B. Heikko Deutschmann, lesen. Und die Geschichte ist es auf jeden Fall wert!

Fazit: Ich kann das Buch aus vollem Herzen empfehlen, mir waren es bereichernde Lesestunden. Uneingeschränkt 5 Sterne!

#Wohnverwandtschaften #NetGalleyDE

Bewertung vom 06.10.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13 (13 Audio-CDs)


weniger gut

Kluftinger passt nicht in die Politik

Rein gefühlsmäßig ist schon der Titel Lückenbüßer eine große Bürde für einen Krimi. Nun ist dieser ja zu allem UNGLÜCK auch noch der 13. Teil einer bisher zumindest für mich recht unterhaltsamen Krimireihe. Hätte ich die beiden Autoren Klüpfel und Kobr beraten dürfen, hätte ich dazu geraten, Nummer 13 gekonnt zu überspringen und für Kommissar Kluftinger einen neuen, spannenden Fall zu erfinden. Selbst die sehr regionale und gekonnte Lesung der Autoren gemeinsam mit Martin Umbach reißt dieses Buch nicht mehr raus. Ich jedenfalls gehöre zu den Krimilesern, die Spannung, Ablenkung vom Alltag und gute Unterhaltung suchen. Mit politischen Witzchen, versuchter Satire und vermeindlich ÖRR-tauglichem Geschwätz fand ich mich aber nicht gut bedient. Der Kriminalfall an sich ist so unbedeutend, dass er fast verschwindet im Wahlkampfgetöse. Political Correctness hingegen wurde sehr groß geschrieben, wenn irgend etwas davon als Satire gemeint war, sollten die Autoren es gern als solche markieren. Sieht man in einem Hörbuch leider nicht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.10.2024
Gebt mir etwas Zeit
Kerkeling, Hape

Gebt mir etwas Zeit


sehr gut

Opulente niederländische Geschichte(n)
Warum höre ich so gerne Hörbücher? Weil HP Kerkeling mich mit seinem "Ich bin dann mal weg" einfach süchtig gemacht hat. Das ist bald 20 Jahre her, ich höre immer noch gerne und ganz besonders ihn, HP! Trotzdem bin ich geneigt, dieses jetzt erschienene Hörbuch doch etwas kritisch zu betrachten. Ahnenforschung ist auch mein Hobby und unterdessen ist mir klar geworden, dass nicht jeder an den Tausenden Details interessiert ist, die ich im Laufe vieler Jahre über meine Vorfahren ausgegraben habe. Nun ist mir nicht das Talent des Romanschreibens in die Wiege gelegt, aber auch HP Kerkeling macht aus seiner Obsession nicht gerade einen Bestsellerroman. Sein Motto "Gebt mir etwas Zeit" hat er für meine Begriffe etwas zu lang gedehnt, insbesondere die niederländische Geschichte und die Geschichten, die er sich rund um seine Vorfahren ausgedacht hat, ließen mich ziemlich ermüdet in den Schlaf sinken. Nun gehöre ich wahrscheinlich zu den Ignoranten, die das Niederländische vor allem mit den Malern Rembrandt, Hals oder Vermeer, um nur drei zu nennen, und mit deren Gesellschaftsbildern verbinden. Aber nur deshalb konnte ich mir dann beim Zuhören auch einiges vorstellen, Städte, Schiffe, Leute und Gewänder, die beschrieben werden. Besonders gedehnt fand ich die Heraldik, die Wappenbeschreibungen sind wirklich nicht geeignet, meine Fantasie zu beflügeln. (Wobei ich mich gefragt habe, ob es im gedruckten Buch vielleicht Abbildungen gibt, die man als Hörer gar nicht sieht.)
Dass mir dann die Geschichten um Urgroßmutter Agnes und die uneheliche Oma Bertha wirklich gut gefallen haben, liegt vielleicht an den für mich eher vorstellbaren Gegebenheiten und dem Kuriosum der Abstammung vom englischen Königshaus. Solche Enthüllungen hätten mich bestimmt auch bei meiner Ahnenforschung beflügelt.
Die tragische Liebe zu Duncan wird von HP sehr zurückhaltend und doch mit Traurigkeit in der Stimme erzählt. Einiges kann ich nicht nachvollziehen, aber das Leben spielt manchmal mit den Menschen schon ein seltsames Spiel. In jedem Fall erinnerten mich diese Szenen um das Thema AIDS sehr an die 1980er Jahre und das Entsetzen über diese Krankheit, ja, Seuche ist der bessere Ausdruck, und an die Angst, die damals mit rasender Geschwindigkeit um sich griff und wohl niemanden ausließ.
HP Kerkeling ist ein begnadeter Sprecher seiner eigenen Bücher und ich hoffe, dass er noch ein weiteres schreiben und dann sprechen wird.
Fazit: bei den opulenten niederländische Geschichten kommt der englische König fast etwas zu kurz. Hörenswert schon weil HP Kerkeling so toll vorlesen kann!

#GebtmiretwasZeit #NetGalleyDE