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Bewertung vom 21.05.2020
Das gelbe Tagwerk
Setzwein, Bernhard

Das gelbe Tagwerk


sehr gut

Nach seinem »opus magnum« "Der böhmische Samurai" (2017) war es auf dem Buchmarkt still geworden um Bernhard Setzwein. Doch nun hat sich der 60-Jährige, der zwischenzeitlich zwei vielbeachtete Theaterstücke über schillernde Frauengestalten der bayerischen Geschichte schuf, mit der 300-Seiten-Collage "Das gelbe Tagwerk" zurückgemeldet. Der Titel knüpft an seinen autobiographischen Erstling "Das blaue Tagwerk" (2010) an, dem es in Idee, Aufmachung und Umfang ähnelt. Doch wegen der kräftigeren Schrift ist "Das gelbe Tagwerk" deutlich angenehmer zu lesen. Auch der sonnengelbe, mittagswarme Einband wirkt einladender, sympathischer als der abendkühle mittelblaue Umschlag des Vorgängers.

Auf den ersten Blick ist "Das gelbe Tagwerk" eine Sammlung von Erinnerungen Bernhard Setzweins an die 2010er-Jahre. Da geht es beispielsweise um zwei enge Angehörige: den früh verstorbenen Vater, der als "Inbegriff des Homo faber" (S. 55) eine tiefe weltanschauliche Kluft zu zweien seiner Kinder provozierte, aber als "verdammt guter Erzähler" (S. 58) ungewollt wohl auch die Saat zu Bernhard Setzweins literarischer Laufbahn legte, oder um die noch jünger verstorbene Schwester ("… begreift man, daß man den Tod nicht begreift"; S. 126). Es geht um kuriose, spektakuläre oder nachdenklich machende Alltagsbeobachtungen, um Träume, um Reflexionen über Wörter und Redewendungen oder um skurrile Lesefehler ("Krabbensuppe" statt "Krabbelgruppe"; S. 91).

Nach vielen Jahren äußert sich Bernhard Setzwein auch erstmals wieder politisch. Amerikas Donald Trump etwa sieht er als "irrlichternden Polit-Psychopathen" (S. 173), der "kaum einen Steuerknüppel von eine Baseball-Schläger unterscheiden kann." (S. 174) Sehr pointiert geht Setzwein anlässlich der "Propaganda-Schlacht um den Ukraine-Konflikt" (S. 143) mit "Putin-Verstehern" ins Gericht: "Immer soll nur der russischen Kollektivpsyche nachgefühlt werden", klagt er, anstatt sich "ernsthaft damit auseinander(zu)setzen, wieso (…) die früheren Bruderstaaten [der Sowjetunion nach deren Zerfall] nicht anderes im Sinn hatten, als möglichst schnell "auf die andere Seite" zu wechseln" (S. 144).

Für denjenigen, der mit Setzweins literarischem Werk, wie dem Klassiker "Die grüne Jungfer", näher vertraut ist, bietet "Das gelbe Tagwerk" manche Entschlüsselung. Vor allem aber liefert es Einblicke, wie ein Schriftsteller unserer Tage arbeitet.

Wer bislang nur das Klischee vom bleistiftkauenden Dichter vor Augen hat, der über ein leeres Blatt Papier brütet und darauf wartet, dass ihn die Muse küsst, wird nach der Lektüre des "Gelben Tagwerks" die Welt mit anderen Augen sehen. Ein nicht unerheblicher Teil von Setzweins Leben, erfährt man, besteht aus dem bienenfleißigen Studium von Werken anderer Autoren, aus Reisen, Studienaufenthalten und Wanderungen vor allem in und nach Tschechien, aus Begegnungen mit Künstlerkollegen, Rundfunk-Mitarbeitern und (hört, hört!) ganz normalen Menschen. All dies schildert Setzwein mit großer Wärme, mit enormem Wissen – und in einem geschliffenen, schnörkellosen, wunderbar farbigen Deutsch. So ist "Das gelbe Tagwerk" letzten Endes auch ein leidenschaftliches Plädoyer für die Tugend der Belesenheit – in einer Zeit, in der man, so der Autor, "mit dem allergrößten Selbstbewußtsein hinaus(trompetet), man habe überhaupt noch nie ein Buch gelesen." (S. 203)