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Bücherwurm
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Tübingen

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Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 08.01.2025
Sternstunden der Menschheit
Zweig, Stefan

Sternstunden der Menschheit


ausgezeichnet

Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Herausgegeben und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Hanns Frericks. Stuttgart: Kröner 2025.

Die von Hanns Frericks edierte, kommentierte und mit einem Nachwort versehene Ausgabe von Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit ist schon ein ästhetischer Genuss, noch bevor man mit dem Lesen begonnen hat. Der in marineblauem Leinen gebundene Band, mit hübscher Titelvignette, mit treffenden Abbildungen zu jeder der zwölf „historischen Miniaturen“ und mit einem reichen Anhang, der erklärende Anmerkungen zu den einzelnen Texten bietet, ein fulminantes Nachwort und eine ausführliche Zeittafel – all dies ist eine haptische und optische Freude von Beginn an.
Der Titel Erlesenes Lesen für die Reihe von Kröners Fundgrube der Weltliteratur, in der der Band erscheint, ist daher keineswegs eine Übertreibung, vielmehr passende Beschreibung.

Und selbstredend gehören die Sternstunden – in 50 Sprachen übersetzt, seit nahezu 100 Jahren auf dem Buchmarkt und viele Millionen Mal verkauft – zur Weltliteratur.
Die zwölf Texte sind nicht nur brillant und spannungsreich erzählt, häufig dramatisch-novellistisch angelegt, ein reines Lesevergnügen. Sie sind zudem äußerst lehrreich, vermitteln bedeutsames historisches Wissen aus den unterschiedlichsten Kulturräumen und –zeiten. Der Kosmopolit Zweig will dem Leser zeigen, wie weltgeschichtliche Veränderungen, die gewöhnlich im gemächlichen Zeitstrom sich vollziehen, manchmal in geschichtlichen Augenblicken verdichten und einen „qualitativen Sprung“ im Zeitverlauf vollbringen. Historia non facit salti – diese Weisheit von Geschichtslehrern strafen die Sternstunden Lügen.
Im Fokus jeder der zwölf geschichtlichen Ereignisse, von denen erzählt wird, steht eine historische Persönlichkeit: Politiker wie Cicero, Sultan Mehmet II, Lenin und W. Wilson; Künstler, wie Händel, Goethe, Tolstoi, Abenteurer, Entdecker, Forscher, wie Nunez de Balboa, A. Sutter, R. Scott. Und beim Lesen wird rasch deutlich, wo Zweigs Sympathien liegen: nicht bei jenen vermeintlichen Helden der Geschichte, die gewaltsam den Lauf der Dinge in eine neue Richtung drängen, sondern eher bei den Antihelden, den Schwachen, den Scheiternden. Das ist die humanistische Lehre, die uns Zweig angedeihen lässt: Die Menschheit schreitet nicht durch Gewaltakte historischer Größen voran, sondern durch künstlerische und technische Großtaten der Kleinen. Delectare et prodesse im besten Sinne bieten so die Sternstunden.

Allerdings empfehle ich, vor deren Lektüre das Nachwort von Hanns Frericks zu lesen. Es steigert den Lesegenuss erheblich, weil es sensibilisiert für die rhetorischen und stilistischen Feinheiten der Texte, das Verständnis fördert durch historische Erläuterungen der Hintergründe, einen Zugang legt zu den moralischen und geschichtstheoretischen Botschaften und plausible Erklärungen bietet für den anhaltenden Erfolg der Sternstunden bei der Leserschaft. Gerade Letzteres weist weit über die übliche Aufgabe von Nachworten hinaus. Denn hier wird das Gesamtwerk Zweigs eingehend gewürdigt, auch indem dieser selbst, seine Weggefährten und seine Interpreten ausgiebig zu Wort kommen. Dieses Nachwort, so lese ich es, dient auch dazu, Stefan Zweig, der von der Literaturwissenschaft und –kritik häufig nicht seinem literarischen Rang gemäß gewürdigt wurde, einen legitimen Platz im Pantheon der großen Dichter zuzuweisen. Und das gelingt diesem Nachwort von Hanns Frericks überzeugend.
Es ist zudem eingebettet in hilfreich-ausführliche Anmerkungen und Begriffserläuterungen zu den zwölf Texten der Sternstunden und eine Zeittafel, die die produktive Energie des großen Schriftstellers ebenso unterstreicht wie seine persönliche Einbettung in die literarischen Kreise und künstlerischen Zirkel seiner Zeit.

Bewertung vom 28.01.2023
Die Zukunft der Ethik
Fischer, Johannes

Die Zukunft der Ethik


weniger gut

Das schmale Bändchen formuliert einen treffenden Befund: Der ethische Diskurs über das richtige Urteil vernachlässigt leider allzu oft die lebensweltliche Praxis der Betroffenen und hantiert mit abstrakten Regeln, Kategorien, Prinzipien und Normen. Aber auch wenn die Diagnose stimmt, ist der Therapievorschlag doch arg überzogen: Denn diese gelegentlichen Mängel rechtfertigen es keinesfalls, wie Fischer es tut, die Ethik insgesamt zu diskreditieren und ihr alle Problemlösungskompetenz abzusprechen. Denn zum komplexen moralischen Urteilen können selbstverständlich auch lebensweltliche, situative Einschätzungen und Erfahrungen zählen. Warum etwa sollte sein Hinweis auf die Nöte der Hinterbliebenen von Menschen, die einen Freitod wählen, nicht im moralischen Urteil mitbedacht werden können? Dazu braucht es keinesfalls eine Abkehr vom „Exklusivanspruch des urteilenden Denkens“, wie Fischer meint. Seine bunte Mischung aus Emotivismus, Präskriptivismus, postmoderner Ethikkritik à la Zigmunt Bauman und Care-Ethik, mit einem kräftigen Schuss theologischer Philosophiekritik ist jedenfalls nicht dazu angetan, das Monopol vernünftigen Urteilens und emotionalen Bewertens im ethischen Diskurs ernsthaft infrage zu stellen. Im Hintergrund mag bei dem Autor – bewusst oder uneingestanden – die Verbitterung über den Verlust der moralischen Deutungshoheit der Kirchen resp. der Religion stehen – aber das rechtfertigt es nicht, das Kind mit dem Bade auszuschütten.