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miss.mesmerized
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Bewertungen

Insgesamt 1245 Bewertungen
Bewertung vom 26.10.2023
Das Nachthaus
Nesbø, Jo

Das Nachthaus


gut

Nach dem Tod seiner Eltern kommt Richard aus der Großstadt in das beschauliche Ballantyne. Doch bald schon ist es dort mit der Ruhe vorbei, denn zwei Jugendliche verschwinden auf mysteriöse Weise. Die Polizei hat Richard im Verdacht, etwas mit den Vorfällen zu tun zu haben, doch dieser erzählt schier unglaubliche Geschichten über den Verbleib seiner Klassenkameraden. Warum will ihm niemand glauben, dass auch das Böse in Ballantyne ist und dort Dinge geschehen, die über den menschlichen Verstand hinausgehen?

Seit vielen Jahren schon begeistert mich Jo Nesbø mit seinen Krimis und Thrillern, weshalb die Erwartungen an „Das Nachthaus“ hoch waren. Leider wurden sie so gar nicht erfüllt. Selbstverständlich kann ein Autor ganz neue Wege gehen, jedoch fallen dann unter Umständen Ergebnis und Erwartung weit auseinander und lassen Leser enttäuscht zurück. Es hat mich sehr viel Motivation gekostet, das Buch immer wieder aufzunehmen und zu Ende zu lesen, weil es mich immer wieder verloren hat.

Ohne Frage hat sich das Durchhalten bis zur letzten Seite trotz aller Anstrengung gelohnt, da Nesbø alle fantastischen Elemente klärt und in ein in sich logisches Gesamtgerüst packt. Rein literarisch ist der Aufbau sogar sehr gelungen und überzeugend. Leider fehlt der Geschichte jedoch jede Spannung und die erste Hälfte ist insbesondere ziemlich zäh, vor allem im Vergleich zu anderen Romanen des Autors, die sofort fesseln und die man kaum weglegen kann. Wenn man zudem kein Fan von Fantasy-Literatur ist, fällt das Weiterlesen zudem schwer, weil einfach weite Teile der Handlung zunächst sehr realitätsfern sind.

Jo Nesbø mag neue Leser mit dem Buch gewinnen können, mich konnte er leider gar nicht erreichen, im Gegenteil, bei seinen nächsten Romanen werde ich vorher intensiver recherchieren, welche Richtung er einschlägt: Experimente in anderen Genres oder wieder die bekannten Krimi-Strukturen, die mich so oft begeistern konnten.

Bewertung vom 10.09.2023
Die Lügnerin
Karig, Friedemann

Die Lügnerin


ausgezeichnet

Clara erzählt ihre Geschichte, in einer abgeschiedenen Klinik in den Bergen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich selbst verloren hat und eine eigene Welt aufgebaut hat. Eine Welt, in der man nur lange genug an etwas glauben muss, bis es auch tatsächlich wahr wird. Für Clara – und die Menschen um sie herum. Sie gibt telefonische Horoskopberatung und erfüllt so den Anrufern deren Wünsche, sie ermöglicht Siri beim Roulette ungeahnten Reichtum. Nur sich selbst kann sie nicht glücklich machen, da ihr dazu der Glaube fehlt. Doch was für ein Glaube soll ihr überhaupt Antworten oder Trost liefern?

Der Journalist Friedemann Karig spielt in seinem Roman „Die Lügnerin“ mit Wahrheit, Lüge und der Macht des Glaubens an etwas. Für mich ist es ein wenig die literarische Umsetzung seines Buchs „Erzählende Affen. Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen.“, in dem er gemeinsam mit seiner Podcast Partnerin Samira El Ouassil bereits den ewigen Narrativen und Geschichten der Menschheit nachging. Allerdings ist seine Protagonistin weder klassische Heldin noch Antiheldin und auch als Leser weiß man lange nicht, was innerhalb der Fiktion Wahrheit und was Lüge ist.

Clara ist mit ihrer Überzeugungskraft lange Zeit harmlos, sie verbessert ein wenig die Welt für einzelne, bleibt aber zu mutlos, um aus ihrer Gabe etwas wirklich Wichtiges und Bedeutendes zu machen. Sie hat kein Ziel und wandert in der Welt entsprechen verloren umher. Sie fühlt sich unvollständig, kann jedoch das Teil, das ihr fehlt, nicht finden.

Glaube im religiösen Sinn, Glaube in Form eines motivierenden Mantras, Glaube als Flucht aus dem Selbstdenkenmüssens, Glaube als selbsterfüllende Prophezeiung – alle Spielarten von Varianten und Möglichkeiten der Realität, von Erklärungen für nicht Erklärbares, für Sinn für nicht Sinnhaftes spielt der Roman durch. Biete sie uns als Leser an. Entlarvt vielleicht auch die eine oder andere Denkweise, deren Sinnlosigkeit man sich durchaus bewusst ist, die aber, ach ja, doch einfach nur Hoffnung spendet.

Clever aufgebaut entfaltet der Roman erst nach und nach sein volles Potenzial. Eine Einladung zum Nachdenken und aufgrund der sprachlichen Pointiertheit auch zum Genießen.
#FriedemannKarig #DieLügnerin #Roman #Rezension


Wahrheit oder Lüge? Oder wie kann etwas real werden, nur weil man fest genug daran glaubt. Ein Spiel mit unseren Gedanken und Wünschen.

Bewertung vom 06.08.2023
Das Meer der endlosen Ruhe
Mandel, Emily St. John

Das Meer der endlosen Ruhe


ausgezeichnet

Im Jahr 1912 wird Edwin, nachdem er einen Eklat beim Abendessen verursacht hat, ins kanadische Exil geschickt, wo er nach Wochen der Untätigkeit in einem tiefen Wald eine seltsame Erscheinung und eine unvergessliche Begegnung mit einem Priester hat. Im Jahr 2020 wird Mirella an ein traumatisches Ereignis aus ihrer Kindheit erinnert, bei dem ein mysteriöser Mann eine Rolle spielte. Auch der Autorin Olive begegnet im Jahr 2203 ein Fremder bei ihrer Lesereise, der nicht nur heißt wie eine ihrer Figuren, er empfiehlt ihr eindringlich so schnell wie möglich in ihre Heimat auf einer galaktischen Kolonie zurückzukehren. Noch zwei Jahrhunderte später versucht Gaspery-Jacques einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum zu klären.

Wie auch schon in „Station Eleven“ schafft Emily St. John Mandel eine eigene Welt, die der Realität gar nicht so fremd ist und doch nach eigenen Regeln funktioniert. Die Zeitsprünge sind zunächst irritierend, bald schon erschließt sich jedoch der Verbindung, ihre eigentliche Ursache wird jedoch erst am Ende aufgelöst. „Das Meer der endlosen Ruhe“ greift die Pandemie auf, die die fiktive Autorin Olive in ihrem Roman beschrieben hat, genau wie die Autorin selbst auch, weit vor der Zeit, nicht ahnend, welche Folgen ein solches Ereignis wirklich haben wird. Der Roman überzeugt vor allem durch den cleveren Aufbau der Verknüpfung der verschiedenen Handlungsstränge.

Streng genommen muss man die Geschichte wohl zum Genre der Science-Fiction rechnen, interessanterweise erscheinen die technischen Möglichkeiten – allein die Existenz von Kolonien auf fremden Planeten! – gar nicht so futuristisch und fremd, sondern ganz im Gegenteil nimmt man sie als gegeben und natürlich hin, ganz als wären sie auch Teil unserer Realität. Das macht die Handlung sehr zugänglich und wird durch einen poetischen Sprachstil passend kontrastiert.

Das geheime Zeitinstitut bleibt lange mysteriös, auch was es mit der Anomalie zu tun hat, wirft mehr Fragen auf, als dass man sich einer Erklärung nähern würde. Die Möglichkeiten des Zeitreisens werden jedoch scheinbar außer für Korrekturen nicht genutzt, aber es eröffnen sich auch andere Möglichkeiten, den vorgesehenen Plan ein Schnippchen zu schlagen wie Olive demonstriert. Vielleicht muss man gar nicht darüber betrübt sein, wenn in der Vergangenheit etwas nicht wie erhofft eintraf, sondern einfach nur aktiver die Zukunft gestalten.

Die Parallelen zur Autorin, das Aufgreifen von Figuren und Handlungen ihrer früheren Romane und den Ereignissen der Covid19 Pandemie sind sicherlich nicht zufällig, eröffnen dem Leser aber Reflexions- und Resonanzräume, die weit über die Handlung hinaus führen und auch bei einer Lesepause und nach dem Ende noch Raum für Gedanken lassen, denen man gerne nachhängt. Ein Roman, der mich schnell packte und restlos überzeugen konnte.

Bewertung vom 15.03.2023
Es war einmal in Brooklyn
Atlas, Syd

Es war einmal in Brooklyn


ausgezeichnet

Ende der 70er Jahre haben Juliette und David das Leben vor sich. Sie stehen kurz vor dem Schulabschluss, doch für die besten Freunde hat das Schicksal noch größere Herausforderungen als das Dasein als Außenseiter geplant. David erkrankt und weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Juliette verliebt sich, aber die Liebe ist kompliziert, vor allem mit einem todkranken besten Freund. Es sind die entscheidenden Wochen im Leben der beiden Teenager, die sie auseinander und immer wieder auch zusammenführen und ihr enges Band gehörig unter Spannung stellen.

Syd Atlas hat mit „Es war einmal in Brooklyn“ einen bemerkenswerten coming-of-age Roman geschrieben. Die amerikanische Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin, die in Berlin lebt, lässt das Brooklyn einer längst vergangenen Zeit wieder auferstehen, das die Welt der Protagonisten auf einen engen Radius einstampft, der aber trotzdem alle Dramen des Lebens erlaubt. Verwirrte Gefühle, das langsam Lösen und Erwachsenwerden mit allem, was dazu gehört. Es war damals nicht leicht und ist es heute nicht, wird hier jedoch wundervoll erzählt.

Man schließt beide, Juliette wie auch David, sofort ins Herz. Sie sind nicht perfekt, sie sind jung und fehlbar, aber vor allem verletzlich und verletzt. Sie treffen falsche Entscheidungen, die nicht folgenlos bleiben und bereuen auch manches, das sie sagen und tun. Dadurch wirken sie glaubwürdig und echt und man wünscht ihnen, dass alles gut wird. Aber das echte Leben ist nun mal kein Ponyhof ud jede Geschichte findet ein Happy End.

Vor allem die Atmosphäre hat mich sofort gepackt und in der Geschichte versinken lassen. Die Erwachsenen sind nur Randfiguren, wenn auch mit wichtigen Momenten. Die Sorgen und Gedanken der Teenager wirken authentisch und in keiner Weise überzeichnet oder klischeehaft.

Ein Roman, der einem an die eigene Jugend erinnern lässt und mich restlos begeisterte.

Bewertung vom 06.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Eine Ausnahmesituation bringt die Essayistin und Poetin Doireann Ní Ghríofa zu einer Adligen, Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die zwei Jahrhunderte vor ihr lebte und ihre Gedanken und Emotionen ebenfalls in Gedichtform äußerte. Als erwachsene Frau nimmt sie den Text, den sie bereits in der Schulzeit einmal lesen musste, gänzlich anders wahr und spürt eine Verbindung, der sie nachgeht, wenn sie nicht gerade den Haushalt schmeißt oder sich um ihre drei Kinder kümmert. Eine Verbindung zwischen zwei Frauen über Zeit und gesellschaftliche Veränderungen hinweg.

Die Autorin hat für das Buch „Ein Geist in der Kehle“ eine Mischform von Texten gewählt, die am besten zum Ausdruck bringt, was sie leitet und wie sehr die Texte von Eibhlín Dubh sie bewegen. Das Schwangersein und Mutterwerden lässt sie mehr denn je als Frau empfinden und schafft ein starkes Band zu jener Frau, die heute zum irischen Nationalmythos zählt.

Beide Leben werden clever miteinander verwoben. Das der Autorin ist für mich besonders intensiv im Ausdruck, als sie ihre Tochter zur Welt bringt und bange Wochen nach der Frühgeburt durchlebt. Die Erschöpfung und Zweifel werden in jeder Zeile lebendig und treffen einem auch als Leserin unmittelbar, auch wenn man eine derartige Erfahrung nicht machen musste. Vor allem das Gefühl, in ihrer ureigenen Funktion als Mutter, die das in ihr heranwachsende Kind nicht gut versorgt, versagt zu habt, trifft die Autorin hart.

Im Kontrast dazu Eibhlín Dubh, die einerseits stark wirkt und doch nach dem Tod ihres Mannes das Schicksal der Frauen ihrer Zeit erleidet: sie verschwindet. Sie wird unsichtbar, nicht mehr erwähnt, weder in offiziellen noch in privaten Dokumenten. Einzig durch ihre Söhne lebt sie weiter und sehr gelegentlich als Randfigur, die jedoch nur beim Mädchen Rufnamen genannt wird.

Die Autorin nennt ihren Text feministisch. Nicht nur die beiden Protagonistinnen, sondern das, was sie gesellschaftlich zu Frauen macht, stehen im Zentrum. Die Angst zu versagen, die gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu erfüllen, wirken stark durch. Und auch das Verschwinden, in dem Moment, wo der Gatte nicht mehr da ist, ist wohl ein sehr weibliches Phänomen.

Ein starker Text, der sich einer Genre-Zuordnung versagt. Eine feministische Perspektive, die einerseits sehr persönlich und doch auch wieder universell ist. Sprachlich außergewöhnlich und gerade in den poetischen Passagen ein literarischer Hochgenuss.

Bewertung vom 25.02.2023
Ohne mich
Schüttpelz, Esther

Ohne mich


ausgezeichnet

Gerade erst hatten sie ihre Hochzeit gefeiert und jetzt schon trennen sich ihre Wege. Die namenlose Erzählerin hängt fest im juristischen Referendariat in Münster, das sie nicht im Geringsten interessiert. Der Ehemann hat sein Studium auch endlich beendet und zieht nach Berlin. Mit Mitte zwanzig in der Mid-Life Crisis - Alkohol, Partys, Koks: nichts kann wirklich über die Frustration und die Leere und Sinnlosigkeit hinweghelfen, die die Erzählerin in sich spürt. Wenn man gerade ins Leben starten will und plötzlich vor einem Scherbenhaufen steht, wie soll man damit umgehen?

Esther Schüttpelz hat in ihrem Roman „Ohne mich“ viele autobiografische Elemente verarbeitet und eine Protagonistin erschaffen, die typisch für ihre Generation in ihrer Zeit ist. Man folgt ihrem Gedankenfluss und durchlebt mit ihr Wochen und Monate der Sinnsuche, die auf äußere Impulse angewiesen ist, da aus der Protagonistin heraus kaum mehr eine Entwicklung beginnen kann. Es ist ein sehr persönliches Leiden, dass von der Außenwelt kaum wahrgenommen wird, da sie weiterhin noch funktioniert, obwohl innerlich die Leere immer mehr Raum einnimmt.

Die Erzählperspektive macht es leicht sich in die Erzählerin einzufinden. Sie bleibt namenlos, könnte also jede sein und einige ihrer Gedanken sind sicher jedem Leser bekannt. Motiviert ist sie in ihr Studium gestartet, wollte Karriere machen und sich ein schönes Leben einrichten. Doch dann haben irgendwann die Ziele ihren Sinn verloren. Mit dem Ende der Ehe kommt die vollständige Sinnlosigkeit über sie. Es folgt das tiefe Loch, das nur noch minimales Funktionieren erlaubt.

Es ist keine pathologische Depression, die sie durchlebt, sondern eine Phase der Orientierungslosigkeit, in der sich Fixpunkte auflösen und die Halt gebenden Parameter des Lebens plötzlich fehlen. Was zuvor noch gewiss und leitend war, wird infrage gestellt und durch ein suchendes Hin und Her abgelöst.

Man fragt sich, ob das Empfinden der Erzählerin symptomatisch für eine Generation, eine Lebensphase oder doch mehr eine individuelle Erfahrung ist. Zeiten des Umbruchs, die mit einer gewissen Desorientierung einhergehen, sind menschlich, das Ausmaß jedoch verschieden. Es mag unserer Leistungsgesellschaft geschuldet sein, die durch den schönen Schein der Social Media Kanäle, auf denen sich jeder im besten und glücklichsten Licht darstellt, nochmals in den Erwartungen an das eigene Leben im Vergleich zu anderen intensiviert wurde. Im Umkehrschluss reißt es jedoch auch die Fragen auf: nehmen wir das Empfinden unser Mitmenschen, ja unserer besten Freunde überhaupt noch wahr und wie viel Schein tut uns allen eigentlich gut?

Ein Roman seiner Zeit, der zwar ein versöhnliches Ende bietet, jedoch durchaus wichtige Fragen anreißt.

Bewertung vom 19.02.2023
Siegfried
Baum, Antonia

Siegfried


ausgezeichnet

Der Erzählerin wird einfach alles zu viel. Sie zieht die Reißleine und begibt sich in die Psychiatrie. Dort muss sie warten und so beginnen die Gedanken zu rotieren. Sie erinnert sich an ihre Kindheit mit Siegfried, dem Mann ihrer Mutter, und dessen strenge Mutter Hilde, bei der sie immer dann bleiben musste, wenn ihre Eltern auf Geschäftsreise waren. Und sie hält ihr jetziges Leben mit Alex und der gemeinsamen Tochter dagegen. Alex ist nicht wie Siegfried, er kann ihr auch nicht das Leben bieten, das Siegfried ihrer Mutter bot. Je länger der Tag und das Warten dauern, desto negativer wird ihr Bild von ihrem Leben und vor allem ihrem Partner.

Antonia Baums Roman „Siegfried“ spiegelt zwei Männer verschiedener Generationen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Es könnte egal sein, wenn nicht die Erzählerin den Vergleich anstellen würde und unausgesprochene Erwartungen ihr Leben ins Wanken bringen würden. Es ist eine Geschichte von Schieflagen, zwischen den Geschlechtern, den Generationen, auch zwischen Ost und West und je tiefer man eintaucht, desto dominanter wird die kindliche Prägung, die stärker ist, als den Figuren bewusst ist.

Der Titel des Buchs überrascht, ist Siegfried doch eigentlich nicht die zentrale Figur. Erst im Lauf der Handlung wird jedoch deutlich, wie bestimmend der Mann für die Ideale und Erwartungen der Erzählerin ist. Er hat ein Modell vorgelebt, nach dem sie sich mit zunehmendem Alter immer mehr sehnt. Die Strenge seiner Mutter hat ihn erfolgreich werden lassen, auch wenn dies ein unterkühltes Verhältnis zur Folge hatte. Jedoch ermöglicht sein Erfolg einen Lebensstandard, der vor allem mit Sicherheit verbunden ist.

Mit Alex genoss die Erzählerin zunächst die Sorglosigkeit und ein Leben nach eignen Maßstäben. Doch schleichend offenbart sich, dass er ein Kind seiner ostdeutschen Erziehung ist und sie in verschiedenen Welten leben. Unweigerlich treffen zwei sehr verschiedene Sichtweisen aufeinander, die nicht vereinbar sind. Je prekärer die finanzielle Lage des Paares, desto kritischer beäugt die Erzählerin die Leistung ihres Partners und vor allem sein Unvermögen, ihr das zu bieten, was Siegfried ihr bieten konnte.

Die Erzählerin ist eine erfolgreiche und intelligente Frau und dennoch scheitert sie am Alltag und daran, die richtigen Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie beobachtet und weiß. Es fehlt ihr der richtige Weg zu kommunizieren, klar zu machen, was sie braucht, stattdessen läuft sie in Eskalation, deren erstes Opfer sie selbst ist.

Auch mich würde Alex wahnsinnig machen, doch er kann nicht aus seiner Haut und kann auch nicht verstehen, was er falsch macht. Die Erzählerin ist jedoch keineswegs in einem Leben mit ihm gefangen. Sie könnte ausbrechen, wie einst ihre Mutter, sie kennt allerdings auch den Preis.

Ein intensiver Roman, der ohne dies groß zu umschreiben eine genaue Analyse vieler westdeutschen Nachkriegsfamilien liefert und Lebensmodelle kontrastiert, die weiter nicht voneinander entfernt sein könnte. Im selben Land zur selben Zeit aufzuwachsen und zu leben, genügt nicht, um auch erfolgreich gemeinsam leben zu können.

Bewertung vom 17.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


ausgezeichnet

Das schreckliche Ereignis ist bereits Jahre her. Liv war noch Studentin, als sie vergewaltigt wurde und doch verfolgt das Erlebnis sie als erwachsene Frau und Mutter immer noch. Sie wollte nie Opfer sein, hat andere für die öffentliche Zurschautragung ihres Leids verachtet, aber den schönen Schein zu wahren, kostet sie enorm viel Energie. Das Kopfkino, die rasenden Gedanken im Zaum zu halten und nicht durchzudrehen. Es war nicht nur in dieser Situation, dass der Mann Macht über sie hatte, er hat sie immer noch, ohne dabei in seinem Familienidyll etwas davon zu ahnen.

„Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen.“

Die norwegische Fotografin und Autorin Hedi Furre verleiht in ihrem Roman einer Frau eine Stimme, die eigentlich keine haben will. Am Beispiel von Liv wird deutlich, wie gesellschaftliche Normen das Opfer einer Straftat nochmals strafen, indem sie Mitschuld erhält (auch selbst zugeschrieben), indem sie verdrängt, was ihr passiert ist, weil es niemand hören und sehen will und schon gar nicht mit so etwas Schrecklichem belästigt werden möchte. Es sind nicht nur die äußerlichen Wunden, die Leid verursachen, „Macht“ zeigt sehr deutlich, wie schlimm die innerlichen, nicht so leicht erkennbaren Wunden schmerzen und eben nicht verheilen.

Es sind die kleinen Einschränkungen des Alltags, an denen sich tagtäglich die Auswirkungen eines jahrelang zurückliegenden Ereignisses zeigen. Die Ängste, beispielsweise im Dunkeln nach Hause zu laufen, bestimmte Texturen, die an den Tag erinnern, die alle in sich nicht schlimm sind, in der Summe jedoch lebensbestimmend werden. Immer wieder versucht sie, die Kontrolle zurückzugewinnen, es gelingt jedoch nur mäßig.

Es ist ein Buch, das sich nicht leicht aushalten lässt, das für manche Leserinnen wie ein Trigger für böse Erinnerungen wirken könnte und doch ist es wichtig, da es etwas zum Thema macht, über das gesprochen können werden muss. Das einen öffentlichen Raum braucht, damit es Opfern von Gewalttaten eben genau nicht geht wie der Protagonistin.

Bewertung vom 12.02.2023
Northern Spy – Die Jagd (eBook, ePUB)
Berry, Flynn

Northern Spy – Die Jagd (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein bewaffneter Überfall ist in Nordirland nichts Ungewöhnliches. Doch als die Journalistin Tessa die Aufnahmen des Vorfalls sieht, traut sie ihren Augen kaum: einer der Täter ist ihre Schwester Marian. Das kann nicht sein. Die Rettungssanitäterin kämpft für Menschenleben und würde sie nie riskieren. Und schon gar nicht ist sie Mitglied der IRA. Doch Tessa muss erkennen, dass sie nur eine Seite von Marian kannte und diese ihr eine andere offenbar über Jahre erfolgreich verschwiegen hat. Die junge Mutter wird vor eine schwere Entscheidung zwischen Familie und Idealen gestellt, die sie und ihren Sohn in größte Gefahr bringen.

Für ihren Debütroman wurde die amerikanische Autorin Flynn Berry mit dem Edgar Award ausgezeichnet, dem bedeutendsten Preis für Kriminalromane. „Northern Spy“ ist ihr dritter Roman, der geschickt die politische Lage in Nordirland mit der persönlichen Geschichte der zwei Schwestern verbindet.

Niemand ist unpolitisch in Nordirland. Selbst wenn man sich nicht positionieren will, hat man doch gewisse Pubs, die man besucht, und ein Umfeld, dass klar der einen oder anderen Seite zuzuordnen ist. Neutralität gibt es nicht, auch wenn Tessa und ihre Familie das lange Zeit glauben. Mit dem Überfall und der zweifelsfreien Zuordnung von Marian zur IRA scheinen sowieso alle Fragen beantwortet. Auch die Folgen bekommen Tessa und ihre Mutter unmittelbar zu spüren, nicht nur die Befragung durch die Polizei, sondern auch die beruflichen Konsequenzen, die sie für das Handeln Marians tragen müssen, lassen sie für das Handeln Marians bezahlen.

Die Autorin bietet einige Überraschungen, die jedoch immer auch einen Funken Zweifel mit sich schwingen lassen. Sagen die Figuren die Wahrheit oder spielen sie doch nur eine Rolle? Zwischen Freund und Feind, Agent und Doppelagent scheint lange alles möglich.

Ein spannungsreicher Krimi, der mehr auf der persönlichen Ebene als auf der politischen spielt. Der Konflikt zwischen den katholischen Nordiren und den englischen Besatzern liefert nur die Kulisse und wird durch das persönliche Schicksal überlagert. Daher sicher kein politischer Roman, sondern eher einer, der psychologisch von den Figuren viel abverlangt.

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Bewertung vom 29.01.2023
Die Perfektionen
Latronico, Vincenzo

Die Perfektionen


ausgezeichnet

Anna und Tom kommen nach Berlin. Es ist die Zeit, als es viele aus aller Herren Länder in die deutsche Hauptstadt zieht. Sie finden günstige Wohnungen und arbeiten freiberuflich an ihren Laptops in Cafés. Zwischen Kunstgalerien und Nachtclubs verwischen Arbeit und Privatleben und alles scheint für die 20 bis 30-Jährigen möglich. Nur gelegentlich kommt der Gedanke an die Heimat, die man zurückgelassen hat. Der Freundes- und Bekanntenkreis ist in Dauerbewegung, neue kommen hinzu, andere verschwinden. Doch langsam verändert sich die Stadt und irgendwann beginnen auch Anna und Tom darüber nachzudenken, ob das noch das Leben ist, wie sie es sich vorgestellt haben.

Der Italiener Vincenzo Latronico ist Autor und Übersetzer und lebt selbst in Berlin. „Die Perfektionen“ ist sein zweiter Roman und eine Hommage an seine Wahlheimat. In starken Bildern fängt er eine inzwischen schon wieder vergangene Zeit und ein Lebensgefühl einer ganzen Generation ein.

„In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen.“

Mit hübschen Bildern zeichnen sie online ein Bild von ihrem Leben, das mehr Fassade als Realität ist. Ein Scheinleben online wie offline in einer Stadt, deren Sprache sie kaum sprechen und in der sie nie wirklich ankommen, geschweige denn in das Leben der Deutschen eindringen. Alle, die sie kennen, sind Expats wie sie selbst, die denselben Lebensstil pflegen, jung und mobil sind, die globalen englischsprachigen Nachrichten verfolgen, aber nichts von den Vorfällen oder Sorgen um die Ecke wissen.

Es braucht ein extremes Ereignis wie die Ankunft tausender Geflüchteter im Jahr 2015, damit sie etwas von dem Leben in der Stadt mitbekommen und ihre Blase kurzzeitig verlassen. Doch auch das bleibt eine kurze Momentaufnahme und ist schnell schon wieder vergessen.

Es sind vor allem die präzisen Beschreibungen, die den kurzen Roman zu einem herausragenden Leseerlebnis machen. Poetisch und doch präzise lässt Vincenzo Latronico konkrete Bilder vor dem inneren Auge aufsteigen und den Leser darin versinken.