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Christa Eckert

Bewertungen

Insgesamt 2 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2019
An Tagen im Juli
Bersdorf, Paula

An Tagen im Juli


ausgezeichnet

Zunächst habe ich ein wenig gebraucht, mich dieser Sibylle anzunähern, die sehr spröde und forsch, oft entblößend von diesen Tagen im Juli erzählt. Sie ist so ganz anders als ich. Aber das ist ja das große Abenteuer Lesen: Mich jemand anderes sein zu lassen, ob mir die Romanfigur sympathisch ist oder nicht. Die Welt aus anderen Augen sehen, Erfahrungen nicht nach meinen, sondern nach des anderen Sichtweisen einzuordnen. Das weitet! Das nährt.
Bald schon „wohnte“ ich in jenem Dorf, atmete die trocken-heiße Luft jenes Julis und spürte den Wind, der wie alles hier wohlvertraut und zugleich besonders ist: „Tagneuer Wind schaukelt das blaue Vogelhaus in meinem Pflaumenbaum.“ Eine gekonnte Sprache, die dennoch sehr schlicht wirkt. Manchmal gekonnt knapp, immer dazu anhaltend, mitzudenken, mit dort zu sein, immer wieder überraschend.
Was ist los mit Sibylle, die in derart flapsiger Sprache, in der irgendetwas Beunruhigendes mitschwingt, alles mit lakonisch-ironischem Humor kommentiert, in ihren Gedanken wie in den Dialogen? Versucht sie, sich selbst Lebensmut zu machen?
Zwei Mädchen werden vermisst, sie wohnen fast nebenan. Vermisst wird aber auch die eigentliche Sibylle, die sich nicht mehr wiederfindet, wenn sie nur einen Tag außerhalb ihres Dorfs verbringt. Die in atemloser Weise erzählt und erzählt, als hätte das Verschwinden der Mädchen sie endlich auf die Spur gebracht. Die Spur führt – auch – zu ihrer eigenen Geschichte, nur angedeutet zuerst. Dann wird es deutlicher und lässt den Atem anhalten. Es ist viel, was auf Sibylle hereinprasselt. Aber ich kenne das selbst, manchmal überschlägt das Leben sich geradezu mit schwerverdaulichen Herausforderungen. Und genau dann meldet sich noch Unverdautes aus der eigenen Vergangenheit. Es ist gut so, sehr gut. Jede Krise ist eine Chance.
Facettenreich erzählt ist dieser Roman, wie ich es kaum je in einem Text gelesen habe. Um nur eine zu nennen: Wunderschön sind die Fantasiegeschichten, die sie den beiden vermissten Mädchen erzählt, als könnte sie sie trösten, ihnen Mut machen – wiederum in einer Geschichte, in der sie sich ausmalt, die Kinder gefunden zu haben.
Die Sprache ist viel zu besonders zum schnellen Lesen, muss genossen werden, aber ich konnte nicht anders, etwas zog mich voran. Ich musste lösen und erlösen – ja, ich, denn inzwischen war ich längst Sibylle mit den spröden Sprüchen, die so Schweres trägt und deshalb für manch einen sonderbar wirkt. Jetzt ist sie mir sehr nah. Und ich bin bereichert um eine weitere Sichtweise auf das Thema und alle Themen, die davon berührt sind: Täterschaft, Mittäterschaft, Opfer sein – und das alte Leid: kein Opfer befreit sich, indem es selbst Täter wird. Sehr fein aufgespürt, all diese Facetten!
Der Roman hat mich gefesselt und überrascht. Vor allem aber hat er mich tief berührt.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.08.2019
Die Welt in allen Farben
Heap, Joe

Die Welt in allen Farben


ausgezeichnet

Alle Achtung - ein tiefgründiges und zugleich rasend spannendes Debüt!!

Wow! Die vierhundert Seiten habe ich an drei Abenden gelesen - und sehr gerne! Aber eigentlich ist das Buch zu schade, um es schnell zu lesen, denn die vielen Erfahrungen von Nova mit dem Sehenlernen sind etwas ganz Besonderes, wovon ich ohne dieses Buch nie erfahren hätte und wovon ich mich sehr bereichert fühle. Für all die Dinge, die uns Sehenden selbstverständlich sind, habe ich jetzt viel mehr Achtung, speziell für das, was sich in unserem Gehirn abspielt, ohne dass wir die geringste Ahnung davon haben! Nova selbst ist mir dadurch sehr nahe gekommen. Aber auch durch liebenswerte Aspekte ihres Wesens. Und der Autor hat das Sehenlernen sehr, sehr gut nachempfunden - meine Hochachtung!
Beide Protagonistinnen, Nova und Kate, sind sehr eigen. Ich hätte gern hier und da mehr Hintergrundwissen über sie gehabt, speziell über Kate. Es ist aber für mich sehr spürbar, dass etwas mit ihr ist und was es ist, schon dadurch, dass sie sich selbst immer ganz schnell in Frage stellt und oft mit sich selbst schimpft. Das tun nur Menschen, die als Kind nicht einfach geliebt worden sind, sondern von denen erwartet wurde, dass sie die Erwartungen ihrer Eltern erfüllen und dafür dann "geliebt" werden. Auch dass Kate mit so wenig Nähe und liebevollem Umgang in ihrer Beziehung zufrieden ist, sagt eine Menge. Mir war, als lebten da zwei einander völlig Fremde zusammen, bloß, um nicht allein zu sein. Als später kurze Einblicke in Novas und vor allem in Kates Familie gegeben werden, ist endgültig klar, was Kate geformt hat und warum Nova trotz Blindheit ein Sonnenschein ist.
Die einzige Figur, die mir zu wenig lebendig und verstehbar blieb und die dadurch klischeehaft wirkt, ist der Gegenspieler der beiden Frauen, Tony, durch den die Spannung für mich manchmal kaum noch zu ertragen war. Aber ich bin bei einem solchen Thema vorbelastet und eh empfindlich, es braucht bei mir nicht viel, dass ich Herzrasen bekomme. Vielleicht ist das für andere anders?
Wunderbar zart und fein ist die Annäherung der beiden Frauen beschrieben, und immer wieder weicht Kate zurück und verkriecht sich in ihrem Heile-Welt-Kokon, in dem sie sich sicher fühlt - bis genau der sich als der unsicherste Ort der Welt herausstellt...
Nova hat am Anfang das Gefühl, Kate schütteln zu müssen, damit sie mal aufwacht und ganz da ist. Das Leben hat das dann übernommen, sehr heftig, aber vielleicht war das nötig.
Ohne viel über die Geschichte zu verraten, ist es nicht leicht, sie zu besprechen, denn sie ist vielschichtig, hat dadurch Tiefe - und ist zugleich im typischen Muster eines Thrillers gestrickt. Obwohl ich keine Thriller-Leserin bin, hat mich das hier nicht gestört. Das Werk ist in sich rund. Dadurch, dass Kate ist, wie sie ist, zieht sie auch ein solches Verhängnis an, das ihr begegnet. Sehr Klasse finde ich das Ende! Sehr, sehr heikel, aber die beste Lösung für beide Frauen, denn sie haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.
Ein wenig hat mich hier und da gestört, dass Dinge etwas zu "zufällig" passieren. Dass sich das Unterhaltungs-Genre doch sehr behauptet und die E-Literatur-Anteile übertönt. Doch da diese sehr wichtig und wertvoll sind, behaupten sie sich trotzdem. Jedenfalls bei mir, die ich eher E-Literatur-Leserin bin und gewohnt, zwischen den Zeilen viel Informationen zu finden, die gar nicht erst ausgesprochen werden müssen. Auch die Sprache trägt dazu bei. Die Personen sprechen Umgangssprache, was toll und lebendig ist, die Beschreibungen sind wiederum mitunter sehr gekonnt und ein Genuss.
Das Cover passt hervorragend!
Ohne auch nur einmal zu überlegen, habe ich 5 Sterne gegeben und hier noch mal meine absolute Leseempfehlung!