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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 38 Bewertungen
Bewertung vom 29.06.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


sehr gut

Eine nicht ganz typische Dreiecksgeschichte: zwischen zwei Schwestern und einem Bären.

Was macht es mit zwei jungen Frauen, an ein Leben in der Einsamkeit einer Inselgruppe im Nordwesten der USA gebunden zu sein? Die 28-jährige Sam wohnt dort mit ihrer Schwester Elena und ihrer pflegebedürftigen Mutter. Mit Jobs im Golfclub und auf der Touristen-Fähre versuchen sie sich über Wasser zu halten, seit Jahren schlagen sich die beiden so durch den Alltag. Was Sam dabei Kraft gibt ist der Traum, das alles hinter sich zu lassen und gemeinsam mit ihrer Schwester woanders neu anfangen zu können. Doch dann reißt die beiden etwas aus ihrer Routinen: ein Bär taucht auf und plötzlich wird alles in Frage gestellt.

Der zweite Roman von Julia Phillips, im Original "Bear", nimmt die Abhängigkeit und Verantwortung in der Beziehung zwischen zwei Schwestern in den Blick. In einem Lebensumfeld, das vor allem von Entbehrung, Bedrohung und Isolation gekennzeichnet ist, haben beide früh gelernt ihr Verhalten aufeinander einzustellen. Doch dann taucht der Bär auf und je mehr Elena sich von ihrer Faszination für den Bären einnehmen lässt (diese Obsession hat sich mir nicht erschlossen), desto mehr ergreift Sam die Angst. Konflikte tauchen auf, die bislang im Verborgenen lagen. Der Bär hat dabei eine stark symbolische Rolle und bringt einige märchenhaft anmutende Szenen mit sich. Kein Zufall, dass die Autorin dem Buch ein Zitat aus dem Grimmschen "Schneeweißchen und Rosenrot" vorangestellt hat. Es dauert ein wenig, bis man beginnt, die Dynamik zwischen den beiden Schwestern zu verstehen und Elena bleibt für mich aufgrund der Erzählweise nicht ganz greifbar, aber die aufgeworfenen Fragen sind spannende. Die Stimmung ist geheimnisvoll-melancholisch und zwischenzeitlich scheint sich alles an der Zelebrierung von Ausweglosigkeit aufzuhängen. Die Handlung stagniert genauso wie der Lebensentwurf von Sam bis es am Ende Schlag auf Schlag geht. Ich lege keinen Wert auf ein möglichst dramatisches Finale, manches hätte es für mich nicht gebraucht, aber ohne zu viel zu verraten: man wird überrascht und das fand ich gut.

Bewertung vom 21.04.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


ausgezeichnet

Die flämische Bestsellerautorin Lize Spit ist bekannt für ihre nervenaufreibenden Romane über psychische Ausnahmesituationen. Auch mit "Der ehrliche Finder" nimmt sie sich kein leichtes Thema vor, jedoch ist die Stimmung hier gelöster, teilweise heiter und würde inhaltlich auch Kindern gerecht werden.

Zwei Jungen, die einander brauchen. Der 12-jährige Jimmy ist in der Schule ein Außenseiter, klug, viel alleine, vor allem seit sein Vater die Familie verlassen hat. Er fokussiert sich ganz auf seine Sammelleidenschaft bis Tristan in seine Klasse kommt. Tristan, der mit seinen Eltern und seinen sieben Geschwistern aus dem Kosovo nach Belgien geflohen ist. Jimmy bringt Tristan die belgische Sprache bei, Tristan lässt Jimmy Teil seiner großen Familie sein. Bis eine schlechte Nachricht ihre Freundschaft auf die Probe stellt und beide in Gefahr bringt.

Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Jimmy geschrieben. Eine Kinderperspektive, die gerade aufgrund des eigenwilligen Erzählers unvermuteten Zauber im Alltäglichen entdeckt, sich überraschen lässt, Bestandteile der Realität spielerisch zu einer ganz eigenen Logik zusammenfügt. So entwickelt Lize Spit einen besonderen Tonfall, der die Themen Flucht, Krieg, Asylsuche, Integration unmittelbar erzählt, ohne Einbettung in gesellschaftliche Diskurse, stattdessen mit Fokus auf den sinnlichen Wahrnehmungen. Es ist gerade der harte Kontrast zwischen der kindlichen Naivität und der gnadenlosen Realität, der eine neue Perspektive möglich macht. Inspiriert ist der Roman von der wahren Geschichte einer zehnköpfigen Familie in Lize Spits Heimatdorf, die in den 90er-Jahren abgeschoben werden sollte und nach massiven Protesten doch bleiben durfte. Für mich ein sehr lesenswerter Roman mit starker Erzählstimme und einzigartiger Perspektive!

Bewertung vom 21.04.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


ausgezeichnet

Chapeu, dieser Roman hat die Buchbranche durchgespielt!

"Ihr Buch ist ein Bestseller. Das Problem ist nur - sie hat es nicht geschrieben."
Juniper Hayward, eine erfolglose Debütautorin, lernt an der Uni Athena Liu kennen: Bestsellerautorin und Everybody's Darling. Sie verbringen einen gemeinsamen Abend, der damit endet, dass Athena an einem Pancake erstickt und Juniper ihr gerade fertiggestelltes Manuskript einsteckt. Sie veröffentlicht es unter ihrem eigenen Namen und erreicht so endlich den langersehnten Erfolg.

Natürlich kommt es am Ende wie es kommen muss, aber der Weg dorthin ist auch ein wilder Ritt hinter die Kulissen der Buchbranche, ein grandioses Spektakel zwischen Metaebenen. Es geht um das Buchmarketing, um die Kommerzialisierung von Literatur, um kulturelle Aneignung und sensitivity reading, um soziale Medien, Trends, Zielgruppen, Identität und Gesellschaftskritik. Die Dynamiken, die es braucht, um im krassen Wettbewerb der Buchbranche erfolgreich zu sein, nutzt auch "Yellowface" aus, der Roman spielt das Spiel, das es kritisiert, selbstironisch mit und wird so selbst zum Hype. Die Story ist fesselnd, hat einen unglaublichen Lesesog und wird umso interessanter, wenn man kurz innehält und das Buch und seine Autorin selbst eingebunden sieht in das System, dessen Absurditäten und Widersprüche es so gekonnt entlarvt. Ein "zeitgeisty thriller", sagt der Guardian. Am Ende ein bisschen viel Drama, aber was macht das schon, wenn ein Buch so großartig und klug zu unterhalten weiß.

Bewertung vom 28.10.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


sehr gut

Nachdem Lauren Groff mich mit Matrix wirklich begeistert hat, war ich unheimlich gespannt auf ihren neuen Roman. Die weite Wildnis - ebenfalls ein historisches Setting, eine starke Protagonistin, eine kühne Story und doch ein gänzlich anderes Buch!

Ein Mädchen allein in der Wildnis. Hungrig und frierend kämpft sie sich allein durch den Wald und doch hat sie diesen Weg selbst gewählt, um der Brutalität und Aussichtslosigkeit ihrer Herkunft zu entkommen. Sie gehörte als Dienstmädchen zu den englischen Siedlern, die sich im frühen 17. Jahrhundert auf den Weg nach Nordamerika machten, um in der neuen Welt ihr Glück zu finden. Eine neue Welt entdeckt sie nun tatsächlich, außerhalb der Siedlung, fern der Zivilisation, auf sich gestellt im tiefsten Wald.

Szenen gestalten, das kann Lauren Groff. Das feuchte Moos, der gefrorene Fisch, der Schlafplatz am Lagerfeuer, der ausgehöhlte Baum, der reißende Fluss. Eine Überlebensgeschichte, die auch sanfte Gedanken gegenüber den Tieren und der Natur erlaubt. Das Erleben der Wildnis ist Erhabenheit und Kraft, aber auch ein immer stärker werdendes Sehnen nach anderen Menschen. Erst mit der Zeit wird kar, was das Mädchen zur Flucht zwang. Während sie ihre Körper und Geist durch den Wald jagt, lässt sie die letzten Ideale der Siedlerbewegung und ihrer Religion hinter sich. Auch wenn die anfängliche Spannung für mich nicht über den gesamten Roman erhalten blieb, ist es wunderbar, zu lesen, wie Lauren Groff hier den alt eingefahrenen Erzähltraditionen wieder einmal ein Schnippchen schlägt!

Bewertung vom 30.07.2023
Die Einladung
Cline, Emma

Die Einladung


sehr gut

Ein Leben ohne Kontinuität, auf die Spitze getrieben, ohne Kontext, ohne Einbindung. Der Blick nach vorn: noch 5 Tage bis zur alles entscheidenden Party. Der Blick zurück: nicht hinnehmbar.

Alex ist 22, eine junge Frau, die als Call-Girl ein unstetes Leben führt. Zuletzt hatte sie sich von Simon aufgabeln lassen und den Sommer in seiner Luxus-Villa am Strand (mutmaßlich in den Hamptons) verbracht, bis er sie nach einer Party-Eskalation zurück in "die Stadt" (mutmaßlich NY) geschickt hat. Aus der Traum von Luxus und Stabilität. Doch Alex kann nicht zurück, will dieses Ende nicht akzeptieren und ist überzeugt: wenn sie es schafft, die nächsten 5 Tage an den Stränden zu verbringen, wird die Labour-Day-Party die beiden wieder vereinen. Was folgt ist ein absoluter Exzess, wo Alex war, bleibt Zerstörung zurück.

Das Buch lässt sich mit soziologischem Blick lesen als Kommentar zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Exklusion, eine Desillusion par excellence. Für mich dabei herausragend: die Nähe zu dieser faszinierenden Protagonistin, Alex. Mit einem starken Gespür für die Bedürfnisse anderer kann sie Menschen schnell um den Finger wickeln, emotional manipulieren. Sie nimmt sich, worauf sie Lust hat - diese unglücklichen Menschen, die annehmen, für ihr Glück Regeln befolgen zu müssen. Es ist alles ein Spiel, sie dreht sich die Welt zurecht. Und ist gleichzeitig getrieben von ihrer Paranoia, jede neue Eskalation eigentlich nur eine Ablenkung von ihren eigenen Gedanken, eigentlich nur ein bisschen Logistik des Überlebens. Sie schaut den Gefühlen hinterher, wie sie kommen und vergehen, von allzu viel Involviertheit hat sie sich abgekapselt, eine möglicherweise nachvollziehbare Reaktion auf ihre Lebensumstände - und hier schließt sich dann auch der Kreis der soziologischen Einbettung dieses authentisch-ambivalenten Psychogramms. Toller Summerread und große Leistung von Emma Cline, uns diesen ehrlichen Blick hinter die geklaute Sonnenbrille zu ermöglichen!

Bewertung vom 01.04.2023
In blaukalter Tiefe
Hauff, Kristina

In blaukalter Tiefe


sehr gut

Innerhalb von 24 Stunden bin ich durch dieses Buch geflogen, denn dass dieser traumhafte Segeltörn in die schwedischen Schären in einer Eskalation enden muss, liegt von Anfang an in der Luft.

Dabei geht es den zwei Paaren, die es für eine mehrtägige Tour auf eine elegante Segelyacht verschlägt, eigentlich um Spaß, Entspannung und ein wenig Beziehungskitt. Der Staranwalt Andreas sponsert die Reise und will seine Frau Caroline wieder für sich gewinnen, er lädt seinen Mitarbeiter und zukünftigen Partner Daniel ein, der notgedrungen von seiner Frau Tanja begleitet wird. Dazu noch der geheimnisvoll verschlossene Skipper Eric und fertig ist das Kammerspiel.

Die ohnehin schon angeknacksten Beziehungsdynamiken bekommen an Bord eine besondere Brisanz, geraten unter Druck, der enge Raum verstärkt die Reibung. Die Spannungen zwischen den Personen verdichten sich zu Machtspielen, Fassaden bröckeln, Hemmschwellen und Vernunft werden mehr und mehr über Bord geworfen. Die Charaktere sind dabei an üblichen Schablonen orientiert, sollen einen Typ von Persönlichkeit vertreten und ihre zugeteilte Rolle im Drama übernehmen. Das atmosphärische Setting, die Dialoge im Crescendo und die kontinuierliche Frage "Wie wird das enden?" halten die Spannung hoch, das Finale selbst kann dann den geweckten Erwartungen dann zwar nicht richtig entsprechen - trotzdem ein willkommener Ausflug in blaukalte Tiefen mit sehr gelungenem Spannungsaufbau!

Bewertung vom 18.03.2023
Männer sterben bei uns nicht
Reich, Annika

Männer sterben bei uns nicht


sehr gut

Allen, die zögern, dieses Buch allein wegen seines absolut traumhaften Covers zu kaufen, kann ich Entwarnung geben: tut es mit ruhigem Gewissen, der Inhalt ist es ebenso wert. Das gilt jedenfalls für all jene, die keine dramaturgischen Höhepunkte voraussetzen, sondern sich ganz darauf einlassen mögen, eine junge Frau am persönlichen Kipppunkt ihrer Biografie kennenzulernen.

Die Sätze ranken sich in diesem Roman gewissermaßen um ein prachtvolles Anwesen am See, den Sitz einer Familie, welche von der Großmutter beherrscht und kontrolliert wird. Männer gibt es hier nicht, sie sind im besten Fall abwesend und durch Reichtum repräsentiert. Stattdessen sind es drei Generationen von Frauen, die hier die Familiengeschichte prägen und von ihr geprägt werden, die in das patriarchale Machtsystem, das durch die Großmutter bewahrt und gestützt wird, eingebettet und aufeinander bezogen sind. Am Grab der Großmutter trifft Luise die anderen Frauen der Familie wieder und beginnt langsam zu verstehen: die Familiengeheimnisse, das Misstrauen untereinander, das Schweigen, das gegenseitige Verurteilen sind Teil des Systems. Lässt sich daraus ausbrechen?

Annika Reich schreibt stimmungsvoll, das prächtige, erhabene und doch düstere Anwesen hat seine ganz eigenen Anziehungskräfte und bildet einen atmosphärischen Hintergrund für die Beziehungsdynamiken. Es geht weniger um eine Erklärung dieser Zusammenhänge, vieles bleibt implizit und angedeutet, bewegt sich als Schatten unter der Oberfläche, an manche der Figuren hätte ich gerne näher ran gewollt und das Ende war mir ein wenig zu unkonkret. Und doch hat gerade diese undurchsichtige Stimmung das Thema das Buches getragen und bekräftigt, in mir eine intuitive Resonanz ausgelöst und viel bewegt.

Bewertung vom 05.02.2023
Macht
Furre, Heidi

Macht


sehr gut

Eine von zehn. So beschreibt sich die Erzählerin in Heidi Furres neuem Roman "Macht". Als eine von zehn Frauen, die im Laufe ihres Lebens eine Vergewaltigung erfahren. Doch der Roman stellt nicht die Tat an sich ins Zentrum, vielmehr geht es darum, was diese mit der jungen Frau macht.

Die Erzählerin ist eine junge Frau, das traumatische Erlebnis liegt schon einige Jahre zurück, mittlerweile ist sie verheiratet, Mutter von zwei Kindern, arbeitet als Pflegerin, ist glücklich. Doch der Alltag reißt sie immer wieder rein in Erinnerungen, die ihr Körper abgespeichert hat, sie lassen sich nicht regulieren, nicht abstellen, sie sind ein Teil von ihr. Die erfahrene Vergewaltigung steht hier unter der Überschrift des Romans: Macht. Welche Macht hat der "Vorfall" (so sagt sie), noch heute über sie? Wenn sie nachts nach Hause geht, wenn sie zum Zahnarzt muss, wenn sie unangenehme Kleidung trägt, wenn sie bestimmte Geräusche hört, Gerüche wahrnimmt? In ihrer Partnerschaft und Kindererziehung? Wie kann sie Kontrolle bewahren, was bewahrt sie vor der Ohnmacht, wo hat sie Macht über den Täter?

Heidi Furre schreibt sprachlich clean und wirkungsmächtig. Sie zeigt eindrücklich die Rollen, in die man von anderen gedrängt wird und diejenigen, in die man sich manchmal gern zurückzieht. Sie zeigt (mehr als dass sie analysiert), Strategien um Sicherheit, Selbstwert und Stabilität zu erhalten. Konsum, Kosmetik, die Tabletten in Griffnähe - das alles kann mehr bedeuten als nur den schönen Schein. Und doch ist es am Ende die Kunst, der die Schlüsselrolle zukommt. Ein Ende, das mir persönlich zu plötzlich und zu konstruiert war, zu sehr an "Eat, pray, love" erinnert und dennoch spannende Fragen aufwirft, nach dem Reden über die Tat, dem Anklagen, dem Sich-Ermächtigen und Raum einnehmen, auch durch die Kunst.

Bewertung vom 12.11.2022
Das Leuchten der Rentiere
Laestadius, Ann-Helén

Das Leuchten der Rentiere


sehr gut

Dieses Buch zeigt für mich wieder einmal ganz deutlich, wie wunderbar Literatur dazu beitragen kann, andere Kulturen kennenzulernen und Empathie für andere Lebensweisen zu entwickeln. Ann-Helén Laestadius ist eine schwedische Journalistin und gebürtige Sámi. Als Angehörige des einzigen indigenen Volkes Europas, dem Volk der Samen aus dem hohen Norden Skandinaviens, erzählt sie die Geschichte einer jungen Sámi, Elsa, und erzählt gleichzeitig eine noch viel größere Geschichte.

Elsa ist neun Jahre alt als sie dem Mörder ihres Rentiers noch am Tatort begegnet. Er droht ihr, sie schweigt aus Angst und die Morde an Rentieren gehen weiter. Sie muss beobachten wie ihre Familie und ihre Freunde, die sich wie viele Samen mit Haut und Haaren der Rentierhaltung verschrieben haben, immer mehr unter der Bedrohung der Rentierherden leiden. Nach schwedischem Recht gelten diese Tierquälereien aufgrund des Privatbesitzes der Tiere lediglich als "Diebstahl" ("stöld" lautet der Originaltitel), die örtliche Polizei bagatellisiert die Vorfälle und verfolgt die Täter nicht weiter, auch aus der nicht-samischen Bevölkerung schlägt ihnen Unverständnis und sogar Hass entgegen. Als die Situation sich dramatisch zuspitzt, muss Elsa all ihre Kraft aufwenden, um sich der Situation endlich stellen zu können.

Auf knapp 450 Seiten macht Ann-Helén Laestadius die Lebenswelt der Samen erfahrbar. Für mich war es weniger die vordergründige Handlung, die den Wert dieses Buches ausmacht, auch wenn diese größtenteils durchaus ansprechend erzählt war. Es hätten allerdings gerne 150 Seiten weniger sein dürfen, um im Mittelteil einige Längen zu vermeiden, und die Perspektivwechsel zwischendrin waren für mich nicht stringent und haben mich jedes Mal ein wenig aus dem Konzept gebracht. Der letzte Teil hätte auch gerne ohne magischen Realismus auskommen dürfen - hier hatte ich den Eindruck, dass er weniger die Geschichte stützt sondern eher die Autorin bei der Konstruktion des Endes. Die kulturellen Hintergründe allerdings sind dermaßen spannend, dass ich begleitend zum Buch mehrere filmische Dokumentationen zur Rentierhaltung der Samen gesehen habe. Die Ignoranz der Behörden, die Vorurteile in der Bevölkerung, die zusätzlichen Schwierigkeiten durch den Klimawandel, die belastenden Identitätskonflikte junger Menschen, die zu Suiziden führen können, haben genauso ihren Platz im Buch wie die Traditionen und Werte der indigenen Bevölkerung. Die vielfältigen Themen treten souverän auf und verbinden sich harmonisch miteinander. Insgesamt eine Empfehlung für alle, die sich vom Leben im hohen Norden angezogen fühlen!

Bewertung vom 12.11.2022
Alle_Zeit
Bücker, Teresa

Alle_Zeit


ausgezeichnet

Zeit. Wir alle haben 24 Stunden davon, jeden Tag. Wir verbringen Zeit und haben mal mehr und mal weniger Einfluss darauf, auf welche Weise wir das tun - eine Erfahrung, die uns alle verbindet. Als zentrale Ressource unserer Gesellschaft ist die Zeit eng mit Gerechtigkeitsfragen verbunden. Und doch, so Teresa Bücker, ist der diskursive Austausch dazu unterentwickelt, fehlen uns die Begrifflichkeiten, um unsere Zeitgestaltung präzise benennen zu können, denken wir über die Zeit hinweg. Mit "Alle_Zeit" ist nun ein Sachbuch erschienen, welches sich in diese Lücke hineinschreibt, indem es verschieden Arten von (Lebens-)zeit differenziert und die Frage danach stellt, wie eine neue, gerechtere Zeitkultur aussehen könnte.

Dieses Buch wirbt für die Wahrnehmung der eigenen Zeitvielfalt. Die Kapitel thematisieren unter anderem Arbeits_Zeit, Zeit für Care, Freie Zeit und Zeit für Politik. Es war wunderbar bereichernd, während des Lesens so tief in die Reflexion der eigenen Zeiten einzusteigen, darüber nachzudenken, wie viele Tätigkeiten einen (subjektiven) Muss-Charakter haben und welche Zeiten tatsächlich vollständig der sozialen Bewertung entzogen sind. Doch Teresa Bückers Blick geht weit darüber hinaus und betrachtet uns als Gesellschaft. Den starken Fokus auf die Arbeits_Zeit, um die sich alles andere drumherum zu sortieren hat. Die ungerechte Verteilung von Zeit für Care, die von einer Arbeitswelt verdrängt wird, die nicht darauf ausgerichtet ist, dass ihre Mitglieder Verantwortung in der Care-Arbeit übernehmen. Die Zeitarmut, die sich auch auf die politische Teilhabe und Wehrhaftigkeit einer Demokratie auswirkt. Die Schwerpunktsetzung empfand ich allerdings ganz klar bei dem Konflikt zwischen Care- und Erwerbsarbeit insbesondere in der Situation von Müttern, welcher in den verschiedenen Kapiteln wieder aufgegriffen wird.

Insgesamt ein sehr umfangreich mit Quellen belegtes Sachbuch, das inspiriert und mit konkreten Vorschlägen zur gerechteren Zeitkultur vor allem eins zeigt: dass die Art und Weise, wie wir leben, nicht alternativlos ist.