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die_wortbewunderin
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Nürnberg

Bewertungen

Insgesamt 9 Bewertungen
Bewertung vom 17.06.2024
In den Farben des Dunkels
Whitaker, Chris

In den Farben des Dunkels


ausgezeichnet

Dieser Roman hallt noch lange nach. Ein klassischer Krimi ist es nicht, auch wenn ein Serienmörder der Auslöser für die Story ist. Vielmehr handelt es sich hier um eine dramatische Geschichte über eine ungewöhnliche Freundschaft und eine Gesellschaftsstudie über das Amerika der letzten 50 Jahre.

Die Figuren sind, wie immer bei Chris Whitaker, mit Ecken und Kanten und trotzdem sehr liebevoll gezeichnet, allen voran die beiden Protagonisten Patch und Saint, aus deren Perspektive ein Großteil des Romans erzählt wird. Man muss sie einfach ins Herz schließen, den einäugigen „Piraten“ aus prekären Verhältnissen und die Bienenzüchterin mit der Latzhose und der dicken Brille. Die beiden Außenseiter verbindet die lebenslange Sehnsucht nach einer unerreichbaren Liebe und die unerbittliche Suche nach einem Mädchen-Mörder, der Patch fast ein Jahr lang in einem dunklen Raum gefangen hielt.

Im Laufe der Erzählung, die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckt, passieren schreckliche Dinge, die einem nahezu das Herz zerreißen. Whitaker schafft eine spannende und beklemmende Atmosphäre, die doch immer wieder von Lichtblicken und schönen Momenten aufgehellt wird. Im Zentrum des Geschehens steht die fiktive amerikanische Kleinstadt Monta Clare (Missouri) und ihre Bewohner. Die Suche nach dem Mörder und andere Gründe führen die beiden Hauptfiguren jedoch durch ganz Amerika.

Whitaker greift in seinem epischen Gesellschaftsroman viele unbequeme Themen auf, wie Gewalt in der Ehe, Alkoholismus, Abtreibung oder die Todesstrafe, und stellt dabei die Frage, ob man die Menschen in gut und böse einteilen kann oder ob nicht die Grenzen sehr oft fließend sind.

„Sammy wusste, dass Richtig und Falsch subjektive Begriffe waren. Er wusste auch, dass manche Menschen den Preis der Wiedergutmachung höher ansetzten.“

Die Malerei spielt eine große Rolle, genauso wie die Magie der eigenen Vorstellungskraft. Licht und Schatten, Sehen und Spüren sind häufig wiederkehrende Motive. Das zentrale Thema ist für mich aber die Beziehung zwischen den Menschen, wie sie einander durch harte Zeiten tragen, wie sie einander unterstützen, aber auch, wie viel Leid sie einander antun können.

„Lieben und geliebt zu werden war mehr, als man je erwarten durfte, mehr als genug für tausend gewöhnliche Leben. Das verstand sie jetzt.“

Ein wunderbarer, herzergreifender, manchmal sogar märchenhaft-poetischer Roman, der durch die vielen Wendungen und ungelösten Fragen bis zum Schluss hin sehr spannend bleibt.

Bewertung vom 03.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


ausgezeichnet

Dieses Buch ist wirklich eine Sensation. Es ist schwierig, darüber zu sprechen ohne zu spoilern, denn der ganze Reiz liegt darin, dass man zu Beginn absolut nicht weiß, was einen erwartet. Von Anfang an baut sich eine diffuse geheimnisvolle und irgendwie bedrohliche Stimmung auf, ohne genau zu definieren, in welche Richtung es gehen wird. Handelt es sich hier um einen Thriller, einen historischen Krimi oder doch um einen Fantasy-Roman?

Nach und nach werden die einzelen Hauptfiguren eingeführt, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts auf einer Zugreise von Peking nach Moskau befinden. Die Erzählperspektive wechselt jeweils. So erfährt man viele intime Details über die Innensicht der Personen, um sie dann wieder von außen zu betrachten, wenn die Perspektive zu einer anderen Figur wechselt. Nach und nach setzen sich die Puzzlesteine zusammen und nach und nach klären sich die vielen Geheimnisse und offenen Fragen, die anfangs aufgeworfen werden. Warum reist die junge Frau Maria unter falschem Namen und was möcht sie auf der Reise herausfinden? Welcher Skandal hat dem Naturforscher Henry Grey seinen Ruhm gekostet? Was verbrigt der Kartograph Suzuki unter seinen Hemdsärmeln? Welche Gefahren birgt das Ödland wirklich?

Die Spannung wird bis zuletzt aufrecht gehalten, denn auf der Reise passieren immer bedrohlichere und verrücktere Dinge, bis sich die Ereignisse gegen Ende des Buches regelrecht überschlagen.

Meine Lieblingsfigur war definitiv Weiwei, das mutige Zugmädchen mit dem großen Herz. Sie wurde während einer Zugfahrt geboren und wuchs, nachdem ihre Mutter bei der Geburt verstorben war, als Waisenkind im Zug auf. Sie kennt ihn wie kein anderer und fungiert wie ein Bindeglied zwischen den einzelnen Personen.

Seltsam fand ich, dass mit "der Captain" eine Frau gemeint war. Ist die Übersetzung hier etwas unglücklich gewählt oder ist das im Original auch so verwirrend? Hätte man sie "die Kapitänin" genannt, gäbe es nicht so komische Satzkonstruktionen, die männliche und weibliche Pronomen vermischen. Ebenso finde ich die Bezeichnung "das Beinahe-Mädchen" sperrig, da hätte mich auch interessiert, wie das im englischen Original genannt wird.

Man könnte sicher viel interpretieren und philosophieren, welche Moral hinter dieser Geschichte steckt und für was die einzelnen Motive und Figuren stehen. Ich nehme davon Abstand und freue mich einfach über eine höchst spannende, geheimnisvolle und fantastische Geschichte, die beim Lesen diese süchtig-machenden Harry-Potter-Vibes entstehen lässt.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.04.2024
Das Fenster zur Welt
Winman, Sarah

Das Fenster zur Welt


gut

Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe von englischen Auswandererinnen und Auswandern fängt nach dem 2. Weltkrieg in Italien ein neues Leben an.

Der Anfang war sehr vielversprechend: Die wunderbare Landschaft, der Genuss und die ergreifende Schönheit von Kunst stehen im Vordergrund, die latente Bedrohung durch das Kriegsgeschehen im Hintergrund, dazu die Schlagfertigkeit und der feine Humor von Evelyn - großartig!

Doch die Komplexität geht im Laufe des Romans verloren, die Erzählung wird immer eindimensionaler und es wirkt alles immer mehr wie eine Filmkulisse, angefangen vom englischen Pub bis zur italienischen Idylle.

Evelyn blieb bis zum Schluss mein Lieblingscharakter, kommt aber im Großteil des Romans nicht vor. Alle anderen Figuren sind sehr reißbrettartig gestaltet, es fehlen die Widersprüche, die Ecken und Kanten. Besonders Ulysses: Er wird nie sauer auf Peg (obwohl er allen Grund dazu hätte), er fühlt sich nie verloren oder fremd in seiner neuen Heimat. Er liebt seine Stieftochter uneingeschränkt und es gibt nie ernsthafte Schwierigkeiten zwischen den beiden. Auch als seine ganze Arbeitsgrundlage bei einem Hochwasser zerstört wird, bleibt er seltsam gelassen. Die Figur war für mich bis zum Ende nicht greifbar, irgendwie unecht.

Alle Einwanderer werden in Italien mit offenen Armen aufgenommen und von allen gemocht, kulturelle Missverständnisse kommen nicht vor. Florenz wird aus einem sehr touristischen Blickwinkel gezeichnet, eine oberflächliche Fassade, über das "echte" Italien erfahren wir wenig. Alles gelingt, alle haben sich lieb und sogar der Tod wird poetisch in Szene gesetzt. Ein sprechender Baum und ein allwissender Papagei setzen dem Ganzen die Krone auf. Das war mir alles einfach viel zu kitschig.

Sprachlich kann das Original sicher punkten und es war bestimmt kein einfacher Job, den 500-Seiten-Roman ins Deutsche zu übertragen. Leider ist die Übersetzung aber an vielen Stellen so schlecht, dass man nur den Kopf schütteln kann ("eingedoste Sardinen", "ein ganzes Meer an Freundschaften" etc.).

Ich habe mich zwischendurch beim Lesen sehr gelangweilt und viele Seiten, auf denen es nur um kunsthistorische Unterhaltungen ging, überflogen.

Fazit: Ein poetisches "Wohlfühlbuch", mit weltgeschichtlichen und kunsthistorischen Bezügen, das in einer italienischen (und kurzzeitig auch einer englischen) Filmkulisse spielt. War leider nichts für mich.

Bewertung vom 02.04.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


sehr gut

Der Titel „Trabant“ hat mich zunächst ein wenig in die Irre geführt, denn ich dachte im ersten Moment an das in der DDR gebaute Automodell. Hätte auch gepasst zu einer Geschichte, die sich als Roadtrip ankündigt. Das Auto der Wahl bei der Fahrt durch halb Europa ist dann aber ein alter Opel Corsa.

Die eigentliche Bedeutung des Titels klärt sich erst, wenn man tiefer in den Roman eintaucht: In der Astronomie ist ein Trabant ein „kompaktes, natürlich entstandenes astronomisches Objekt, das sich in einer Umlaufbahn um ein anderes, deutlich massereicheres Objekt befindet“, also ein Mond oder ein Satellit. Und der Protagonist, dessen Name passenderweise auch noch Georg HIMMEL lautet und der alles liebt, was mit Raumfahrt und Astronomie zu tun hat, ist genau das: Ein Einzelkind, ängstlich, aber auch eigensinnig und verschroben, dem die Nähe zu seinen Eltern Sicherheit gibt, der seine Eltern umkreist, mal näher, mal ferner, aber dennoch immer in Referenz zu ihnen.

Aufgrund einer fehlgeleiteten SMS macht er sich auf den Weg von der anstehenden Hochzeit seines besten Freundes in Istrien bis nach München zu seinen Eltern. Auf der Fahrt lässt er verschiedene Kindheitserinnerungen Revue passieren. Wirklich rührend sind dabei die Passagen, die von verbindenden Momenten zwischen Vater und Sohn erzählen. Da bekommt der Titel noch eine andere Bedeutung, nämlich die des „Leibwächters“, des „Begleiters“ oder „Weggefährten“.

Sehr plastisch und erzählerisch geschickt ausgestaltet sind die sich in den Erinnerungen immer wieder einschleichenden Misstöne in der Beziehung der Eltern.

Der Spannungsbogen wird bis zuletzt aufrechterhalten (An wen sollte die SMS des Vaters eigentlich gehen und was steckt dahinter?) und am Ende kommt es zu einer verblüffenden, unerwarteten Auflösung.

Mein Fazit: Ein schön erzählter, ungewöhnlicher Blick auf Familie und die besondere Beziehung zu den eigenen Eltern. Manchmal vielleicht ein bisschen zu konstruiert (man merkt, dass der Autor erst am Anfang seiner schriftstellerischen Karriere steht), aber dennoch sehr lesenswert: fast cineastisch erzählte Szenen und lustige, außergewöhnliche Einfälle.

Das Cover entspricht der Seelenlage des jungen Mannes, um den es geht: ein „Himmelsgucker“.

Bewertung vom 02.04.2024
Die Frauen der Familie Carbonaro / Die Carbonaro-Saga Bd.2
Giordano, Mario

Die Frauen der Familie Carbonaro / Die Carbonaro-Saga Bd.2


sehr gut

Ich habe den Roman gelesen, ohne den Vorgänger (Terra di Sicilia) zu kennen, was kein Problem war. Die Familiensaga umspannt mehrere Generationen und beschreibt das Leben aus der Sicht von italienischen Frauen auf Sizilien und später auch in München. Die Zeitspanne zieht sich vom späten 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Dabei changiert der Roman zwischen historisch realen Ereignissen und magischen bzw. übersinnlichen Begebenheiten. Die harte Lebensrealität der Arbeiter auf den Zitronenplantagen wird z.B. genauso lebendig dargestellt, wie die Anwesenheit von Hausgeistern oder ein surrealer, magischer Schneefall an einem heißen Sommertag.

Die Hintergründe sind wirklich gut recherchiert, man taucht ein in eine andere Welt, in der andere Gesetze gelten und eine andere Auffassung von Wirklichkeit vorherrscht. Es ist interessant zu erfahren, wie die italienische Gesellschaft damals tickte, welche unausgesprochenen Regeln und verzwickte Abhängigkeiten es gab. Und natürlich leidet man und fiebert man mit den Protagonistinnen mit, die alle ihr Päckchen zu tragen haben.

Manchmal tat ich mich schwer, die vielen Namen und Orte auseinander zu halten, denn die Kapitel sind jeweils aus einer anderen (weiblichen) Perspektive geschrieben und springen in der Zeit hin und her. Zu besseren Orientierung gibt es aber einen Stammbaum und für die, die kein Italienisch verstehen, auch ein Glossar.

Mein Fazit: Eine magisch-realistische Reise in eine andere Zeit und eine andere Kultur, die für uns Deutsche immer ein emotionaler Sehnsuchtsort sein wird.

Bewertung vom 09.02.2024
Leuchtfeuer
Shapiro, Dani

Leuchtfeuer


sehr gut

In einer beschaulichen amerikanischen Kleinstadt leben zwei Familien Tür an Tür. Sie haben all die Jahre wenig Berührungspunkte, bis auf zwei einschneidende Ereignisse, bei denen jeweils ein Mitglied der anderen Familie eine bedeutende Rolle spielt. Daraufhin entspannt sich eine tiefe unerklärliche Verbundenheit, ein zartes Band der Freundschaft.

In kurzen Kapiteln wird das Innenleben aller Familienmitglieder nach und nach und an verschiedenen Punkten in ihrem Leben beleuchtet. Dabei zeigt sich, wie sehr Gefühle wie Schuld und Trauer, aber auch Liebe, Nähe und Verbundenheit Einfluss auf unser Leben nehmen. Die Figuren treffen falsche Entscheidungen, flüchten sich in Alkohol oder kapseln sich ab und sind doch mit so viel Mitgefühl und Nächstenliebe gezeichnet, dass man sie alle am liebsten ganz fest in die Arme schließen möchte. Es berührt einen zutiefst, wie sie mit ihrem Los zu kämpfen haben. Der Roman spendet Trost und Hoffnung für alle, die schwere Zeiten durchstehen müssen.

Bewertung vom 09.02.2024
Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen
Henry, Emily

Book Lovers - Die Liebe steckt zwischen den Zeilen


sehr gut

Sucht ihr eine witzige und unterhaltsame romantische Komödie, dann seid ihr hier bestens bedient! Emily Henry hat es einfach drauf, die Dialoge sind schlagfertig, die Handlung nicht zu vorhersehbar. Wer die Autorin kennt und ihren Stil mag, wird auch diese Geschichte lieben! Das typische Kleinstadtleben, das Jeder-kennt-jeden ist sehr gut eingefangen. Die Hauptfigur entspricht nicht dem Klischee niedliches hilfsbedürftiges Mäuschen, sondern ist eine starke Frau, die weiß, was sie will. Wer selbst eine Schwester hat, wird bei vielen Szenen schmunzeln müssen.
Die Cover-Gestaltung ist mit den knalligen Farben und den comicartigen Figuren an die Vorgänger-Werke angelehnt, so kann man sich quasi eine Reihe ins Bücherregal stellen, auch wenn die Bücher inhaltlich nicht zusammenhängend sind. Der Wiedererkennungswert im Buchladen ist dadurch natürlich auch gegeben. Ich find's gut!

Bewertung vom 09.02.2024
Ein falsches Wort
Hjorth, Vigdis

Ein falsches Wort


sehr gut

Die Ich-Erzählerin Bergljot (geschiedene Akademikerin um die 50, drei erwachsene Kinder) hat seit über 20 Jahren keinen wirklichen Kontakt mehr zu ihren Eltern und ihren Geschwistern. Auch ihr älterer Bruder Bård hat sich von der Familie abgewandt. Als dieser erfährt, dass den jüngeren Schwestern Åsa und Astrid die beiden elterlichen Ferienhütten zu einem viel zu niedrigen Schätzwert überschrieben wurden, geht er auf die Barrikaden. Alte Wunden sowohl bei den Eltern, als auch bei den Kindern werden aufgerissen, nach und nach erfahren wir, warum die beiden älteren Geschwister mit ihrer Herkunftsfamilie gebrochen haben. Ein schockierender Vorwurf steht im Raum, dessen Wahrheitsgehalt nicht abschließend geklärt werden kann. Am Ende steht die Frage, ob nach so tiefen Verletzungen eine Versöhnung überhaupt möglich ist.

Wer nach einem handlungsreichen Roman sucht, ist hier eher schlecht bedient: Der Plot beschränkt sich im Wesentlichen darauf, wer mit wem telefoniert, einen Brief schreibt oder sich im Café trifft.
Die unglaubliche Sogwirkung dieser 400 Seiten starken Abhandlung liegt vielmehr in der sprachlichen Kraft der Autorin. Mit gekonnten, sich endlos wiederholenden Gedankenschleifen zieht sie die Leserschaft mit hinein in den Strudel dieses komplexen familiären Beziehungsdramas.

In Norwegen löste der 2016 erschienene autofiktionale Roman einen Skandal aus, da die darin formulierten Vorwürfe als real angesehen wurden. Die Schwester der Autorin antwortete sogar mit einem Gegenroman. Die hohen Verkaufszahlen und vielen Auszeichnungen (auch im englischsprachigen Raum, wie die Nominierung für den International Booker Prize 2023) haben den S. Fischer-Verlag wohl dazu bewogen, nun eine zweite deutsche Fassung auf den Markt zu bringen.