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Benutzername: 
Julia
Wohnort: 
Kassel

Bewertungen

Insgesamt 65 Bewertungen
Bewertung vom 11.10.2022
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Pulley, Natasha

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit


ausgezeichnet

Großartige Idee - Umsetzung mit Mängeln

LEUCHTTURM! ...habe ich gedacht. Und so ein schönes Cover, ich war Feuer und Flamme.
Dass die Geschichte gar nicht so viel mit dem Leuchtturm zu tun hat, fand ich nicht schlimm.
Ich kam schnell in die Handlung hinein. In einem London einer Parallelwelt sind entscheidende Schlachten der Napoleonischen Kriege anders als in unserer Realität ausgegangen, Frankreich siegte über England. Im Londres Anfang des 20. Jahrhunderts also steigt Joe aus einem Zug und hat in diesem Moment seine komplette Vergangenheit vergessen. Epilepsie lautet die Diagnose und kommt häufig vor. Als ihn eine 90 Jahre alte Karte erreicht, begibt er sich auf die Suche nach seiner Erinnerung.
Das erste Drittel fand ich richtig gut, spannend und schlüssig aufgebaut. Dann ließ die Euphorie allerdings stark nach, denn zum einen kam für meinen Geschmack zu viel grausames Schlachtgetümmel vor, welches wenig zur Handlung beitrug, zum anderen wurden mir mit der Zeit zu viele Unklarheiten aufgebaut, ein Spannungsaufbau auf Teufel-komm-raus und Effekthascherei hat bei mir meistens die gegenteilige Wirkung.
Als wäre die Zeitreisegeschichte nicht schon komplex genug, gab es innerhalb der Zeitebenen auch noch Rückblenden, so dass mich das Buch kurz nach der Hälfte verloren hat. Da ich aber auf das Ende gespannt war, bin ich dran geblieben und es wird eigentlich alles gut aufgelöst und zu Ende gebracht, schlüssiger kann man das nicht erklären, Zeitreisen sind unlogisch. Ein Epilog wäre trotzdem irgendwie nett gewesen.

Abschließend betrachtet beginnt und endet das Buch thematisch richtig gut, allerdings konnte mich die Autorin nicht von ihrem Können überzeugen. Zunehmend verfällt das Buch in triefenden Kitsch, statt bedeutenden Schlüsselszenen mehr Raum zu geben. Außerdem ist es entweder künstlich geziert oder es war mir zu grob formuliert und schlicht unpassend für die Zeit. "Scheißegal", "geschniegelte Fresse", "gründlich im Arsch"... Nee. Es mag auch unglücklich übersetzt sein ("Wo KRIEGEN wir Schwefelsäure her" - hieß im Original hoffentlich "wo BEKOMMEN wir welche her"?!?), aber schriftstellerisch war das wohl einfach auch kein großer Wurf.

Bewertung vom 06.10.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


ausgezeichnet

Auf gute Nachbarschaft

Wann ist es noch Nachbarschafts-Sorge und wo fängt Neugier an?
Wann sollte man sich einmischen und was geht einen nichts an?

Eine Nachbarschaft ist das kleinste gesellschaftliche Gefüge, das es gibt. Eine vom Zufall entschiedene Zweckgemeinschaft. Die Realität zeigt, das passt nicht immer und mancher Streit wird im wahrsten Sinne "vom Zaun gebrochen" aber in vielen Fällen entstehen auch Freundschaften fürs Leben.
Ab der ersten Seite spitzen sich in "Nebenan" die Ereignisse derart zu, wie ich es in manchen Thrillern schlechter gesehen habe. Atemlos verfolgt man Julia und Astrid, deren Kapitel sich ablösen. Die beiden kennen sich nicht, sind aber über Astrids Tante verbunden - die 80-jährige Nachbarin von Julia. Als eine Familie aus der Straße Hals-über-Kopf ihr Zuhause verlassen zu haben scheint, werden Zusammenhänge zwischen den Geschichten der Anwohner nach und nach deutlich.
Es kommt ganz viel vor in diesem Buch, viele Themen, von denen ich mich teils zwar nicht persönlich betroffen gefühlt habe, insgesamt ist aber alles einfach großartig aufgeschlüsselt. Anderes wiederum hat mich schon ganz schön angefasst und nachdenklich gemacht. Die Stärke des Buches ist wohl der Aufbau der sich abwechselnden Erzählstränge. Durch die auktoriale Erzählperspektive bekommt man einen derart intensiven Einblick, vor allem in die beiden Hauptfiguren, dass man regelrecht mitfiebert und mitleidet. Die eine zerbricht fast an ihrem Kinderwunsch, die andere hat mit der Gleichgültigkeit der Welt zu kämpfen. Alltägliches wird von Kirsten Bilkenau wunderbar geschildert. Ich habe das Buch in einer Nacht durchgelesen, es ist spannend und tiefgründig.

Nun kann man letztendlich beklagen, dass Vieles offen bleibt. Diese Geschichte ist nah an der Realität, bedrückend nah und ich persönlich hätte natürlich gerne noch mehr erfahren, hätte noch gut 150 Seiten vertragen können, aber ein "Nebenan" hat nunmal kein Ende und Dinge klären sich oft nicht auf. Erst durch Kontakt zueinander, durch offene Kommunikation, durch um-Hilfe-bitten wird ein Blick über den Gartenzaun uns mehr verraten, als zu sehen ist.
In meinen Augen ist das Buch zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Ich muss deutlich ansprechen, dass das Buch für Menschen mit unerfülltem Kinderwunsch, nach Fehlgeburt und künstliche Befruchtung schwere Kost ist. Da war ich schon ziemlich mitgenommen und ich bin nie in dieser Situation gewesen, also passt gut auf euch auf, was das angeht.

Bewertung vom 07.09.2022
Die Zentrale der Zuständigkeiten
Reinhard, Rebekka

Die Zentrale der Zuständigkeiten


sehr gut

"Längst hat das Heimchen am Herd ein Upgrade erfahren. Man kriegt es nun überall in der beliebten Version SUPER WOMAN." (S. 21)

Die Anforderungen an uns Frauen steigen mit jeder Generation. Oft sind sie geprägt durch Anforderungen, die sich aus wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen ergeben. Wir reagieren, statt zu agieren. Wir sind zuständig, egal worum es geht, ob es die Schulbrote sind, die Einkommensteuererklärung oder der systemrelevante Job.
Mit bissigem Humor blickt Rebekka Reinhard in unsere Leben, in unseren Alltag und unsere Seelen. Sie legt den Finger in die Wunden unserer Überforderung. Mithilfe von 20 Strategien soll es gelingen, dem drohenden Wahnsinn ein Schnippchen zu schlagen.
Es ist ein unterhaltsames und ehrliches Buch. Aber ich muss zugeben, ich bin hin und her gerissen. Einerseits kann es nicht genug feministische Bücher geben, andererseits mochte ich den Grundton a la "ich bin keine Männerhasserin, aber.." nicht, der weniger philosophisch war als ein Pamphlet. Die Angriffslust ist verständlich, die Missstände sind da und noch immer müssen Frauen in aller Welt aufmerksam gemacht werden, dass die herrschende Ungerechtigkeit nicht still hinzunehmen ist. Ob da die Überlebensstrategien Rebekka Reinhards weiterhelfen, kann ich nicht sagen. Allgemeingültigkeit stelle ich infrage. Auch finde ich die Betrachtungsweise an einigen Stellen zu einseitig, zu wenig differenziert, an anderen Stellen trifft die beschriebene Situation auf mich schlicht nicht zu, so dass die Strategie nicht zur Anwendung kommen kann.
Ein Bewusstsein für dieses Dilemma des Für-alles-zuständig-seins muss in meinen Augen vor allem bei der männlichen Bevölkerung geschaffen werden. Dieses Buch ist aber - wie fast alle anderen - für Frauen geschrieben. Was die Welt aber braucht, sind männliche Feministen.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.07.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


gut

Irreführender Titel

Dies ist die Geschichte der nigerianischen Frauen Zainab, Funmi und Enitan, die sich während des Studiums anfreunden und nach vielen Jahren auf der Hochzeit von Destiny, Funmis Tochter, wiedersehen.

Es ist ein leichtes Buch, gut geschrieben, keine Seite war langweilig. Besonders hat mir gefallen, dass viele Begriffe und Redewendungen nicht übersetzt wurden, das machte das Buch sprachlich authentisch.

Die Geschichte hätte viel Potenzial gehabt, doch Titel und Klappentext haben bei mir Erwartungen geweckt, die der Inhalt leider nicht erfüllt hat.
Unter "Freundin bleibst du immer" habe ich mir vorgestellt, dass es hauptsächlich um die Protagonistinnen geht. Die Situation des Wiedersehens verliert sich jedoch in Geschichten über die Vergangenheit. Mich interessiert hier aber die Kindheit der Ehemänner nicht, wenn ein Buch über eine Frauenfreundschaft angekündigt wurde. Wo sind die Mütter und Töchter, ihre Ziele und Träume, ihre Sorgen? Warum wird ihre Lebensgeschichte und ihr Glück so abhängig gemacht von dem der Männer? Wo ist ihre Emanzipation, ihr Kampf um Glück und Selbstverwirklichung?
Freundinnen? Ich weiß es nicht. Sie brachte der Zufall zueinander. Doch was hält sie zusammen? Was schätzen sie aneinander? Sie bestärken sich in Krisen nicht grade, teils ist eher Missbilligung spürbar. Ein wirkliches Dreiergespann waren sie in meinen Augen nicht, denn dass alle zusammenstehen passiert erst auf den letzten Seiten. Dann aber bleibt noch so viel Ungesagtes, Ungeklärtes..
Möglicherweise erschwert durch die Erzählperspektive aus übergeordneter Sicht ist es Tomi Obaro nicht gelungen, mir die Stärken der Frauen darzulegen, die Hauptfiguren machen in Jahrzehnten keinerlei Entwicklung durch. Keine hitzigen Diskussionen oder Wortgefechte, zu wenig Interaktion. Und auch die Verbindung zu ihren Töchtern ist geprägt von konfliktscheu und mangelnder Diskussionsbereitschaft.

Die 3 Teile des Buches lassen keine wirkliche Handlung erkennen, es blieben für mich Episoden und unsortierte Rückblenden. Gerne hätte ich Auseinandersetzungen dieser so verschiedenen Frauen gelesen, Bereinigung dessen, was sich zwischen ihnen angestaut hat. Doch das war nicht auszumachen zwischen all den kulturellen, geschichtlichen und politischen Themen.

Nun gut, dachte ich, wie heißt das Buch denn im Original. "Dele weds Destiny". Darum geht es ja nun wirklich auch nicht in dem Buch, das ist bloß der Grund, warum sich die Freundinnen nach zig Jahren alle wieder sehen.
Der Klappentext und der Titel egal in welcher Sprache haben wenig mit dem Inhalt zu tun.
In diesem Buch geht es eigentlich um das Leben als Frau in Nigeria, um die Wurzeln, aber es ist kein ermutigendes, feministisches Buch, das den Zusammenhalt von Frauen hervorhebt, vielmehr geht um schwierige Beziehungen zu Partner und Familie und das hätte sich in Titel und Beschreibung widerspiegeln müssen.

Bewertung vom 19.07.2022
Barracoon
Hurston, Zora Neale

Barracoon


sehr gut

Ein dunkles Kapitel amerikanischer Geschichte

Die Lebensgeschichte von Kossola, der in Amerika in Cudjo Lewis umbenannt wurde, ist der Zeitzeugenbericht des damals letzten noch lebenden ehemaligen Sklaven. 1841 geboren wurde er 1859 vom letzten amerikanischen Sklavenschiff an Bord genommen, die Sklaverei war zu diesem Zeitpunkt längst verboten.

1927 nahm Nora Zeale Hurston im Auftrag des "Journal of Negro History"zum ersten Mal Kontakt zu Kossola auf um seine afrikanische Geschichte zu erfahren, wie er erst Sklave und schließlich ein freier Mann wurde und was ihm seither in Amerika widerfahren ist. Die Geschichte ist eine Art Interview in Etappen, angereichert mit Beobachtungen der Autorin und den Umständen der Treffen.

Es tut einem das Herz weh, wenn man so eine Geschichte nicht als Bericht sondern in eines Menschen eigenen Worten liest. Die Übersetzung von Hans-Ullrich Möhring bleibt dem treu, was zuvor Hurston schon so originalgetreu wie möglich überliefert hat, denn Kossola hatte eine ganz eigene Art zu sprechen und zu erzählen, ich habe einen unglaublich detaillierten Eindruck seiner Stimmung, Mimik und Sprachmelodie gewonnen. Es ist ein einzigartiges Dokument über ein Schicksal, das so viele zuvor schon geteilt haben.

Ich habe eine womöglich schwer nachzuvollziehende Kritik. Das Buch verfügt über umfangreiches Zusatzmaterial, darunter ein Vorwort von Alice Walker sowie eine Einleitung der Herausgeberin Deborah G. Plant, ebenso beides auch von Zora Neale Hurston. Im Anhang sind Erläuterungen zu den Erzählungen Kossolas, Anmerkungen, Quellen...
Das Buch umfasst 216 Seiten - ca 80 davon nehmen die Begegnungen an sich ein. Vieles wird leider in den einleitenden Kapiteln vorweg genommen, was ich etwas unglücklich finde. Vielleicht muss man es gelesen haben, um meine Kritik nachvollziehen zu können aber ich hätte die meisten Ergänzungen lieber am Ende gelesen, grundsätzlich liebe ich sowas sehr und da waren fundierte Informationen dabei.

Zora Neale Hurston war eine afro-amerikanische Schriftstellerin. In den 1920er Jahren war sie Teil der "Harlem Renaissance", schrieb zunächst Essays, Kurzgeschichten und Zeitungsartikel, dann konzentrierte sie sich auf die Sammlung von Gedichten, Gebeten, Liedern und Geschichten der schwarzen Bevölkerung. Ihre Forschungen wurden finanziell unterstützt, so auch die Arbeit an "Barracoon", welche 1931 abgeschlossen wurde. Der Schriftstellerin Alice Walker ist es zu verdanken, dass Hurstons Werke wiederentdeckt und neuentdeckt wurde, einige Theaterstücke der Autorin wurden uraufgeführt und so wurde auch "The story of the last black Cargo" 2018 erstmals veröffentlicht und 2021 ins Deutsche übersetzt.

Ich bin ein bisschen verblüfft, dass "Barracoon" zuvor nie veröffentlicht wurde, aber mit diesem Teil der amerikanischen Geschichte möchte man sich dort auch heute noch nicht auseinander setzen. Man muss leider auch darüber als Teil der afrikanischen Geschichte sprechen. Denn Kossola wurde von Amerikanern gekauft - verkauft wurde er von Afrikanern. Der Häuptling eines anderen Stammes ließ sein ganzes Dorf auslöschen, bis auf die, die als Sklaven brauchbar waren und gegen Waffen oder Handelsgüter eingetauscht werden konnten. Über diesen Verrat und diese Trauer ist Kossola nie hinweg gekommen. Dass dort niemand mehr seinen Namen kennt, niemand ihn vermisst, niemand übrig ist. Dass sie alle nicht zurück konnten. Sie mögen frei gewesen sein, aber ohne Wurzeln.
Und so ist dies keine Schreckensgeschichte von Folter und Misshandlung eines Leibeigenen, sondern von Heimweh, Ausgrenzung und Identitätsverlust, von Hoffnung und Liebe und unendlicher Trauer.

Bewertung vom 12.07.2022
Walden
Thoreau, Henry D.

Walden


gut

Anlässlich Henry David Thoreaus 205. Geburtstages habe ich mir ein Stück Weltliteratur aus seiner Feder vorgenommen - Walden.
Wie hättet ihr es ausgesprochen? Ganz ehrlich, ich dachte "Walden" sei ein deutsches Verb. Im Wald leben = Walden. Eine geniale Wortschöpfung! Es ist aber ein Ort an einem See und wird englisch ausgesprochen. Schade.
Es ist wohl eins der einflussreichsten Werke der amerikanischen Literatur, auf das noch heute SchriftstellerInnen Bezug nehmen, daraus in ihren Texten zitieren oder deren Erzählungen davon beeinflusst werden.
Die Geschichte ist autobiographisch und beschreibt 2 Jahre und 2 Monate (von 1945 - 1947), in denen Thoreau im Wald lebte, er war zu dieser Zeit 38 Jahre alt. Es sollte sein Versuch sein, einen alternativen Lebensstil zu erproben, bei dem er sich auf das Notwendige besinnt. Dieses Leben führte er keineswegs als Einsiedler, eher an der Grenze der Zivilisation.
Es ist kein so richtig strukturierter Bericht, es ist teils Monolog, Gedanken schweifen lassen und philosophieren, entstanden aus den Tagebüchern des Autors. Er war ein Fortschrittskritiker, verteufelte moderne Architektur als unnötig prunkvoll, ebenso das Postwesen, er habe nie einen wichtigen Brief bekommen, moderne Fortbewegungsmittel? Unnötig.
Er schließt nicht selten bei Kritik von sich auf andere. Dann wiederum spricht er von der Gattung Mensch, als würde er nicht dazu gehören, was einen arroganten und mitleidigen Ton an sich hat.
Er sagt, er schreibe dieses Buch nicht aus Egozentrismus über sich, sondern weil so viele Fragen an ihn über seine Zeit im Wald gerichtet wurden. In meinen Augen beantwortet er keine einzige klar und deutlich, er spricht in Gleichnissen und Beispielen und kommt nicht recht auf den Punkt.

In meinen Augen war der Autor nicht geringfügig soziopathisch veranlagt und das hat die Lektüre teils schwierig gestaltet, ich stimme ihm - mal abgesehen davon, dass er sich gerne auch mal selbst widerspricht - in Vielem nicht zu.
"Etwas anderes als Nahrung und Obdach braucht kein Tier." (S. 21)
Doch, auch die Tiere, die er beobachtet, leben organisiert in Gruppen oder Paaren und auch er hat gelegentlich Besuch.
Ich muss auch sagen, dass ich die Naturbeschreibungen sehr anstrengend fand, er dokumentiert nicht, er interpretiert in jedwedes Verhalten oder Geschehen etwas hinein, was ich absolut überzogen und teils übergriffig fand. ".. als würde.." - ".. wie wenn.." - ".. als wollte er.." - echt in jedem zweiten Satz, er dichtet Tieren, Pflanzen, sogar dem Wetter irgendwelche Absichten an.

Diese Ausgabe nun wird am Ende durch ein tolles Nachwort von Susanne Ostwald (nichts darüber gefunden, wer das ist) ergänzt, das meine Kritikpunkte ebenfalls aufnimmt. Es gesteht mir zu, dass ich Teile des Buches schwierig fand und ist kein Loblied auf Walden, sondern eine reflektierte Auseinandersetzung. Das hat mir sehr gefallen, denn trotz dass ich froh bin, es nun für mich einordnen zu können, begeistern konnte mich Walden nicht, da mir der Schriftsteller und seine Sicht der Welt größtenteils fremd blieb.

Bewertung vom 06.07.2022
RCE
Berg, Sibylle

RCE


ausgezeichnet

Grandios!

Nach der gescheiterten Weltrettung (ein Kollektiv aus Hackern wollte der Weltbevölkerung aufzeigen, wie sie überwacht, ausgenutzt und manipuliert werden, der erwartete Aufschrei blieb jedoch aus, die Menschheit war okay damit) sitzen die 5 jungen Menschen nun in der Schweiz in einem Container, wo sie Mithilfe eines totalen Systemcrashs der Banken eine europaweite Revolution in Gang setzen wollen.

Ich komme ich nicht umhin, die beiden ersten Teile der geplanten Trilogie zu vergleichen. Aus meiner Sicht ist es nicht zwingend nötig, GRM vorher zu lesen, man sollte sich allerdings über dessen Inhalt informieren um die Vorgeschichte zu kennen. GRM ist zudem wirklich heftig in seinen Inhalten, es geht übermäßig viel um sexuelle Gewalt und generell Triggerthemen. Trotzdem war es ein ziemlich gutes Buch, weil leider wahr. Es war halt einfach furchtbar, diese verlassenen, verlorenen jungen Menschen kennen zu lernen, die man nach und nach ins Herz schließt.
RCE ist nicht mehr ganz so brutal, es ist informierender, technischer. Sibylle Berg beschreibt eine Welt, die nicht so dystopisch ist, wie man es gerne hätte. Das Frauenwahlrecht wurde abgeschafft, wertvoll ist nur, wer dem System nützt. Alte und Kranke werden außerhalb der großen Städte untergebracht, wo sie nicht im Weg sind. Weniges kam mir aus der Luft gegriffen vor, es wird anschaulich rekonstruiert wie diese "fundamental verschissene" Lage entstehen konnte. Insgesamt haut einem Frau Berg jede Menge Fakten und bekannte Namen um die Ohren, das Buch ist großartig recherchiert und manchmal mehr Dokumentation als Fiktion.
Für mich als Leserin ist die große Stärke des komplett durchgegenderten Romans, neben der Recherche und der Klarheit der Aussagen, die Sprache. Sie trifft genau meinen Nerv und hat mich absolut begeistert. Ich kann egal welche der 700 Seiten aufschlagen und finde einen überbilderten Satz oder eine pointierte Beschreibung, die ich unbedingt in meinen Sprachschatz aufnehmen möchte. Das macht das Buch trotz seines Umfangs so kurzweilig. Ich bin kein Freund expliziter Gewaltdarstellungen, ich mag behagliche Themen. Aber Donnerlittchen kann diese Autorin schreiben!
Zum anderen ist es der szenenhafte Aufbau ähnlich einem Film, der zwar chronologisch geordnet ist, aber von Person zu Person springt und so ein Netz aus Verbindungen offenbart, der mir persönlich sehr gefallen hat. Diesen Personenwechseln stehen kurze Steckbriefe voran, die Informationen aus der staatlichen Totalüberwachung enthalten. Gesundheitszustand, sexuelle Orientierung, Hobbys, Fähigkeiten, Familienzusammenhang usw. Großartig. Wenige Worte, mal boshaft, mal rührend, immer auf den Punkt.
Manche KritikerInnen schätzen das Buch als "zu künstlich" ein, "zu gewollt". Meiner Meinung nach ist es nicht nur gewollt sondern sogar gekonnt.
Wer RCE gelesen hat, kann nicht mehr zurück, kann die Wahrheit nicht mehr NICHT sehen, wir leben längst in einer Dystopie. Aber es gibt Hoffnung..
Es ist - ich bin selbst überrascht - eins meiner bisherigen Jahreshighlights.

Ich habe auf 2 längeren Autofahrten Teile des Romans gehört und möchte hier das von Lisa Hrdina und Torben Kessler phänomenal vorgetragene Hörspiel anpreisen, wenn jemanden der Umfang abschreckt ist das eine tolle Alternative.

Bewertung vom 17.06.2022
Lamento
Nielsen, Madame

Lamento


ausgezeichnet

Lamento heißt "tut mir leid"

"Wir liebten uns, ohne es können zu müssen, und wir waren nicht gut darin, und das war das Beste von allem. Wir hielten eine billige Kamera hoch und richteten sie auf das Einzige, was wir wissen mussten: Wer sind wir?, und nahmen einen Augenblick aus der Zeit, und ich hab ihn noch, und das ist alles, was übrig ist. Und du." (S. 42)

Der neue Roman von Madame Nielsen ist die Geschichte einer Frau und eines Mannes - sie ist Schriftstellerin, er Regisseur am Theater - und ihrer sich selbst verzehrende Liebe, einer brennende Liebe, die Zerstörung zurück lässt. Er erzählt vom Entlieben, vom Umschlagen der Gefühle füreinander in ein Gegeneinander.
Nicht alles wird auserzählt, die Geschichte springt hin und her, manches wiederholt sich, anderes bleibt angedeutet. Die langen, verschachtelten Sätze scheinen hervorzusprudeln, die Erzählerin legt eine Art Geständnis ab, wendet sich darin an ihre, mittlerweile erwachsene, Tochter, möchte ihr erzählen, was es mit der Liebe der Eltern auf sich hatte, die eine Vergangenheit vor ihrem Kennenlernen hatten und auch eine Zukunft ohne einander.
Es wirkt manchmal unzusammenhängend, aber seitdem sind 20 Jahre vergangen und Erinnerungen zeichnen eben ein solches Bild, es erscheint glaubhaft.

Es wird einem das Herz schwer, die Enttäuschung der Erzählerin ist spürbar. Doch sie gibt dem Verflossenen nicht die Schuld, es klingt mehr nach Traurigkeit, Verzweiflung, zum Teil auch nach einem Geständnis.

Es ist kein Roman zum schmökern, es ist Literatur als Kunstform, so wie Madame Nielsen Kunst ist, eine Performance und nichts ist unbedacht. Sie ist eine beeindruckende Persönlichkeit. Das Buch hat mich sehr angesprochen, auch ich habe schon erlebt, dass Liebe nicht immer knallpink ist. Die Autorin hat in ihrer prägnanten Sprache Worte für das Sich-Entlieben gefunden, wie es wenige vermögen.

Bewertung vom 13.06.2022
Der schwarze Storch
Molzahn, Ilse

Der schwarze Storch


ausgezeichnet

Authentischer Kindheitsroman

Schauplatz ist ein Gutshof in Ostpreußen um 1900. Katharina, die Tochter des Gutshofbesitzers - sie wird etwa 6 Jahre alt sein, denn steht kurz vor der Einschulung - ist die Erzählerin.

Ein Buch aus Sicht eines Kindes zu schreiben ist eine heikle Sache. Wenn es sich an Kinder richtet, darf es ruhig kitschig und romantisierend sein, bei Belletristik für Erwachsene wirkt diese Perspektive meiner Erfahrung nach schnell aufgesetzt, die Wortwahl übertrieben. Es ist ein großes Glück, dass Ilse Molzahn als Erwachsene die Gefühle und Unklarheiten ihrer Kindheit so gut erinnert hat und nachempfinden konnte, ihr biografisch geprägter Roman ist von der ersten bis zur letzten Seite authentisch.
Ich habe mich direkt in das schöne Cover verliebt und mich im Vorfeld nicht eingehender mit dem Titel auseinandergesetzt. Mir war daher nicht bewusst, dass es sich hierbei um eine Neuauflage handelt. Doch gleich zu Beginn der Lektüre fiel mir auf, dass ich wohl ein altes Buch in der Hand halte, denn die Sprache ist, da der Roman auf Deutsch veröffentlicht wurde und nicht neu übersetzt werden musste, "naturbelassen". Der Klang ist altmodisch, so wie die Geschichte eine aus vergangener Zeit ist, beides ist durchaus als Kompliment gemeint, denn es ist in sich stimmig. Tatsächlich wurde das Werk - nach einigen Jahren Schreibarbeit mit Pausen und anderen Veröffentlichungen dazwischen - 1936 gedruckt, die Autorin war zu diesem Zeitpunkt 41 Jahre alt und hat ein interessantes Zeitzeugnis der vorigen Jahrhundertwende erschaffen. Was ich hier positiv hervorheben möchte ist, dass es eben kein Epos, keine Familiengeschichte ist, wie man es sonst über die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg kennt, nein, wir bleiben ganz bei dem kleinen Mädchen und ihren Erlebnissen innerhalb eines überschaubaren Zeitfensters und einer überschaubaren Anzahl an Figuren.

Auch wenn die Geschichte über 80 Jahre alt ist und die Handlung sich in einer ländlichen Umgebung auf einem Gutshof abspielt, wo die scharfe Trennung von Herrschaft und Gesinde eines der Kernthemen ausmacht, empfand ich "Der schwarze Storch" als zeitlos. Damals wie heute unterscheidet sich die Welt eines Kindes von der Erwachsenenwelt. Seine Wahrnehmung, welche Worte es überhaupt für Dinge finden kann, mit denen es konfrontiert wird, ist unserer aufgeklärten Art zu denken fern. Dieser Kindheitsroman erweitert die Sicht um die Eindrücke eines Kindes, das sich Vieles noch nicht erklären kann und die Lücken teils durch magisches Denken, teils Träumereien auffüllt. Sinnbild hierfür ist der schwarze Storch, Aberglaube spielte zu dieser Zeit generell noch eine viel größere Rolle, zudem gab es, nicht nur gegenüber Kindern, reichlich Tabu-Themen, über die nicht gesprochen wurde. Ilse Molzahn ist es beeindruckend gelungen, ihre Ängste, Sorgen und Gefühle aus der Kindheit zu rekonstruieren und auf für mich bislang einzigartige Weise in einen vielseitigen Roman zu verpacken.
Zwischen Kater und Ilse bestehen zu großen Teilen biografische Übereinstimmungen. Dem Roman hängt ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Thomas Ehrsam an, anhand dessen aufgeklärt wird, was in "Der schwarze Storch" wahren Begebenheiten entsprungen ist und was hinzugedichtet wurde. Es enthält eine fundierte Biografie Ilse Molzahns, ergänzt durch Zitate oder ganze Abschnitte aus ihrem Schriftverkehr und liest sich ebenso spannend, wie die Geschichte.

Ein großes Glück, dass dieses außergewöhnliche Stück Literatur in dieser tollen Aufbereitung wieder Leserinnen und Lesern zur Verfügung steht!

Bewertung vom 28.05.2022
Republik der Taubheit
Kaminsky, Ilya

Republik der Taubheit


ausgezeichnet

Niemand kann euch hören!

"Republik der Taubheit" handelt von Vasenka, einem nicht näher verorteten Dorf unter feindlicher Besatzung. Und doch geht es den Menschen gut, sie waren doch glücklich, trotz Krieg. Da wird auf offener Straße ein gehörloser Junge erschossen. Die Bewohner leisten Widerstand, indem sie den Soldaten nicht mehr zuhören. Es kommt zu Verhaftungen und Misshandlungen, weitere Menschen sterben, aber sie stellen sich gemeinsam taub.

Wenn es auch nicht vom Krieg in der Ukraine erzählt, die Tatsache, dass Ilya Kaminsky aus Odessa stammt, was damals zur Sowjetunion gehörte, lässt das 2019 in den USA veröffentlichte Buch fast prophetisch erscheinen und macht es so aktuell wie zeitlos.

Die Veröffentlichung des nur 100 Seiten schmalen Buches wurde aufgrund des Weltgeschehens vorverlegt. So wurde ich in einer Mail an unsere Buchhandlung überhaupt erst darauf aufmerksam und hatte so ein besonderes Gefühl. Ich habe mich nicht geirrt und bin tief beeindruckt.
Das Buch ist erschütternd, durch den Inhalt, ja, aber vielmehr durch die Sprache. Geschrieben als eine Art Theaterstück ist es die ganz besondere Ausdrucksweise Ilya Kaminskys, dessen Gehör großen Schaden nahm, als er mit 4 Jahren an Mumps erkrankte und dies zu spät vom Kinderarzt erkannt wurde. Sie ist so einzigartig melodisch, der Begriff LYRIK beschreibt die schlichte Bildhaftigkeit einfach nicht ausreichend. Die Übersetzung von Anja Kampmann ist hervorragend gelungen.
Den Kapiteln angehängt sind Abbildungen verschiedener Gebärden, die eine Einheit mit der Handlung bilden.
In dieser poetischen Parabel geht es um Wut, Hass und Liebe. Ich lese diese Art Bücher nicht gerne und bin wirklich sehr froh, dass ich es aus einer Intuition heraus doch getan habe. Es ist großartig, ich lege ich euch sehr ans Herz.