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ninchenpinchen
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Potsdam

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 31.12.2024
Lass uns doch noch etwas bleiben
Shriver, Lionel

Lass uns doch noch etwas bleiben


ausgezeichnet

Moderner Horror

„Should we stay or should we go“, so lautet der etwas „richtigere“ OT des neuen Romans von Lionel Shriver. Kay und Cyril Wilkinson, das englische Ehepaar hier, sie sind die Hauptpersonen. Deren Geschichte und deren Entscheidung in diversen Varianten erzählt wird. Wie könnte ein Leben aussehen, wenn man dieses getan und jenes gelassen hätte?

Ich sah mal einen Film, der hieß: „Smoking or no smoking?“, wo die Dauer einer gerauchten Zigarette die jeweiligen Veränderungen beeinflusst hat. Paul Austers „4321“ erzählt auch ein Leben in vier Varianten.

Zuallererst wird vom 14-jährigen Verfall von Kays Vater berichtet: Demenz in den schlimmstmöglichen Vorstellungen. Ich habe mehrere demente Menschen kennengelernt und viel hängt von der körperlichen Verfassung ab. Es hört sich makaber an, aber je besser die körperliche Verfassung des Kranken ist, desto schlimmer wird die Pflege für die Angehörigen. Denn bei jemandem, der sich heftig wehrt oder dauernd weglaufen will und dies noch kann, da schafft es ein Mensch allein oft nicht, die Aufgabe zu bewältigen. Und wenn dies vierzehn Jahre lang praktiziert werden muss, da wird alles „überschrieben“, was den Kranken jemals ausgemacht hat. Und das wollen Kay und Cyril weder sich noch ihren drei Kindern zumuten.

Also beschließen sie, sich an ihrem 80sten, bzw. 81sten umzubringen. Cyril als Arzt, der er ist oder war, kann leicht tödliche Dosen für beide besorgen. Ich kenne ein betagtes Ehepaar, das auch so entsprechend vorgesorgt hat. Der Mann ist über neunzig und auch dement, aber sehr freundlich und leicht lenkbar. Und nicht hoch aggressiv wie Kays Vater. Denn ins Heim wollen sie nicht, genau so wenig wie unsere Protagonisten.

„Sie verfallen wie alle anderen und verbringen ihr jammervolles Lebensende wie alle anderen: entweder mit einer Bulgarin im Gästezimmer, die sie verabscheut und ihnen heimlich ihren Whisky klaut, oder in einer zynischen Anstalt, die Zeit und Geld spart, indem sie ihnen jeden Mittag altbackenes Brot mit Streichwurst auftischt.“ (S. 25)

Was droht im Heim? In den Kapiteln: „Spaß mit Dr. Mimi“ und „Mehr Spaß mit Dr. Mimi“ erfahren wir, was da kommt. Oder kommen könnte. Es soll möglicherweise Satire sein, aber in meiner Vorstellung könnte das bitterernst sein. Schlimmstmögliche Unterbringung und schlimmstmögliche Behandlung der „Gäste“. Je preiswerter, desto übler. Ich kenne eine Krankenschwester, die erzählte, dass es in einem Heim in Berlin durchaus üblich sei, die Bewohner nachts um Drei zu wecken und zu duschen. Der heilende Schlaf wird dann jedes Mal unterbrochen. Schon früher musste ich das Buch: „Abgezockt und totgepflegt“ abbrechen, weil ich es nicht ertragen konnte. Hier habe ich durchgehalten, weil Shrivers Humor das möglich macht.

Auch die englischen Behörden bekommen in einer der dystopischen Varianten ihr Fett weg: „Die Aufklärungsquote der britischen Polizei bei Diebstahl, Betrug und Überfällen ging gegen null, und einige Dienststellen hatten seit Monaten keinen einzigen Einbrecher gefasst. Sie schikanierten ältere Steuerzahler, weil verängstigte, fügsame, gesetzestreue Menschen leichte Beute waren.“ (S. 167)

Die drei Kinder des Paars: Simon, Hayley & Roy lernen wir kennen, teils von ihren schlimmstmöglichen Seiten. „Was auch immer Leute besonders nachdrücklich behaupten, nicht zu tun, ist ein zuverlässiger Indikator für das, was sie tun.“ (S. 188) Wie: „Wir sind alle aus Sorge hier, und wir wollen für euch nur das Beste. Es ist nicht so, dass wir hier über euch zu Gericht sitzen.“ ebd.

Auch die Migration, die in England wohl inzwischen jedes halbwegs normale Maß längst hinter sich gelassen hat, wird thematisiert: „Und was für einen Sinn hat ein Land, wenn es nicht seine Bürger beschützt? Sonst ist die Staatsbürgerschaft doch bedeutungslos. Wenn die Rechte von Einwohnern auf eine Stufe mit den Rechten von allen anderen Menschen auf der Welt gestellt werden, gibt es kein Land mehr.“ (S. 278)

Fazit: Das Buch hat mich regelrecht umgehauen. Dankbar bin ich Sven Böttcher, der es bei „B & B – wir müssen reden“ empfohlen hat. Sollte jeder lesen, denn dieses „beißend komische Gedankenexperiment“ (laut The Times) bleibt wohl für immer haften. *****

Bewertung vom 10.12.2024
Die Schlangen werden dich holen
Malfatto, Emilienne

Die Schlangen werden dich holen


ausgezeichnet

Erschütternd und sehr berührend

Da ich gestehen muss, den Verlag „orlanda“ bisher nicht gekannt zu haben, wurde es Zeit. Beim Lovelybooks-Award 2024 war dieser Roman: „Die Schlangen werden dich holen“ aufgelistet in der Sparte „Literatur“. Da ich längere Zeit in Kolumbien verbracht habe – wenn es auch schon länger her ist – war ich sehr neugierig, was es wohl mit dieser literarischen Reportage auf sich hätte. Und ja, vieles kam mir sehr bekannt vor und scheint leider immer noch aktuell zu sein.

Allem voran die Korruption (auch bei der Polizei) und die Armut. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, dass in Bogota die Geschäfte bei Ladenschluss Gitter herunterließen, dass man keinen Schmuck auf der Straße tragen sollte, dass es einen Riesengürtel an Slums um die Hauptstadt herum gab und immer noch gibt und auch Obdachlose ohne Ende. Denn die Reichen wohnten in eingezäunten Vierteln mit Personal und Security.

Die Autorin Emilienne Malfatto hat sich hereingewagt in diesen undurchdringlichen Dschungel – auch der Verlogenheit. Und der Angst. Angst vor Repressalien und natürlich vor Folter oder Mord. Verständlich, dass die Kinder der getöteten Maritza ihre Namen geändert haben und ihre Wohnorte geheim halten. Etliche Jahre zuvor wurden auch Maritzas Mann und ein Onkel ermordet und somit musste die Familie schleunigst diese Finca verlassen. Und damit auch die sichere Selbstversorgung.

Seit der Ermordung des Partners und des Vaters fast aller Kinder, ging es Maritza zunächst sehr schlecht. Sie nahm später dann an einem merkwürdigen Projekt teil mit Landzuordnung. Führte das schon zu ihrer Ermordung? Auch auf dieser Finca konnte der Rest der Familie nicht mehr bleiben und suchte zwangsweise Kontakt zur Verwandtschaft.

Die aufnehmende Verwandtschaft war allerdings wenig begeistert und die Kinder mussten teilweise weit verstreut aufgeteilt werden. Möglicherweise verständlich bei der Anzahl.

An mehreren Stellen hat die Autorin ein Riesenglück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein.

„Letztlich lässt sich die Problematik folgendermaßen zusammenfassen: Jeder, der sich den Mächtigen oder ihren wirtschaftlichen Interessen – Drogenhandel, großen Energie-, Bergbau-, Landwirtschafts- oder sonstigen Projekten – in den Weg stellt, wird beseitigt. Es geht um zu viel Geld, als dass Menschenleben dabei ins Gewicht fallen könnten. Man könnte sogar noch weiter gehen und von einem Massaker sprechen, das die Behörden beharrlich verharmlosen – oder sogar glattweg leugnen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die das Land seit Generationen, seit Jahrhunderten fest im Griff haben, haben keinerlei Interesse daran, dass sich etwas ändert. Das Chaos kommt ihnen zugute.“ (S. 18)

Aber mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, denn es lohnt sich auf jeden Fall, diesen (kurzen) Roman selbst zu lesen.

Fazit: Ich bin immer noch erschüttert, auch über die Hartherzigkeit der Menschen und ihre immerwährende Gier nach Profit um jeden Preis. Ein kleines, feines Büchlein, sehr schön gestaltet und sehr, sehr lesenswert. 5 verdiente Sterne.

Bewertung vom 23.11.2024
Intermezzo
Rooney, Sally

Intermezzo


sehr gut

Unkonventionelle Konstellationen

Man kommt schwer rein in diesen Roman „Intermezzo“ von Sally Rooney. Es ist nicht nur die Konstellation der Figuren ungewöhnlich, sondern auch der Schreibstil. Unvollständige Sätze, keine „An- und Abführung“ bei den vielen Dialogen. So könnte man fast sagen, der Schreibstil passt zum Inhalt: unkonventionell. Da ich das Original nicht kenne, hat möglicherweise die Übersetzerin Zoë Beck eine Arbeit geleistet, die hervorragend zum Inhalt passt.

Es geht also um die beiden Brüder Ivan und Peter mit einem Altersunterschied von mindestens zehn Jahren. Christine, die Mutter, hat Kinder und Mann früh verlassen, um sich einem anderen Mann und anderen Kindern zuzuwenden. Das schmerzt. Da war nicht mal Peter, der Ältere, erwachsen. Und völlig überfordert mit der Situation, hat er sich dann entsprechend früh ins Jura-Studium und in die nachfolgende Karriere geflüchtet. Zu allem Überfluss hat die Liebe seines Lebens einen schrecklichen Unfall mit ebenso schrecklichen Folgen. Da kommt eine konventionelle Ehe mit Kindern nicht mehr in Frage.

Ivan, der Jüngere, hat sehr am in der Familie verbliebenen Vater gehangen. Aber der Krebs rafft den Vater dahin, da ist er erst etwa sechzig. Ivan hängt in der Luft und sein geliebter Hund Alexei muss erstmal zu Christine, wo er mehr schlecht als recht aufgenommen wird. Denn weder Christine, noch der Mann und die Stiefkinder können mit dem Hund etwas anfangen.

Ivan ernährt sich von Schach und von gelegentlichen IT-Aufträgen als freier Mitarbeiter. Bei einem Schachevent lernt er Margaret kennen, die wunderschöne, aber vierzehn Jahre ältere Frau.

Die sehr langen Kapitel kümmern sich immer abwechselnd um das Leben und Treiben der Brüder und deren Erlebnisse und Befindlichkeiten. Wie z. B. Peter, der immer noch mit Sylvias Unfall hadert und oft Selbstmordgedanken hat. „Dankbar, dass seine Verluste nur bis hierhin und nicht weiter gegangen sind. Dass ihm Gott in seiner unergründlichen Weisheit und Gnade das andere gelassen hat. Die Kühle ihrer Hand in seinem Gesicht. Das Aufblitzen von Kaugummi, die schwarze Strumpfhose. Seine Mutter, sein Bruder, gesund und wohlauf. Kalte, nasse, windgepeitschte Straßen. Bücher, die er noch nicht gelesen hat.“ (Seite 460)

Aber auch Systemkritik ist zu vermerken. „Anna (Margarets Freundin) spricht wieder von genetisch modifizierten Moskitos, die wie sie sagt, irgendwo in den USA in die Wildnis entlassen werden, um die alten, klassischen Moskitos, Gottes Originale, zu töten – oder vielleicht auch nur unfruchtbar zu machen …“ (Seite 93)

Was ich der Autorin auch hoch anrechne, ist, dass sie sich einem systemischen Verlag verweigert hat und lieber auf eine Veröffentlichung verzichtet, als ihre Weltanschauung gemäß Meinungsdiktatur umzukrempeln.

Fazit: Nach anfänglichen (Stil-)Schwierigkeiten habe ich den Roman mit wachsender Faszination und Begeisterung gelesen und mit großer Verblüffung, dass eine so junge Autorin so tief in die Gefühlslage ihrer Protagonisten eintauchen kann und so stimmig. Respekt. 4 verdiente Sterne. ****

Bewertung vom 02.11.2024
Verkin
Wagner, David

Verkin


sehr gut

Reisen ins Märchenland …

… oder ich schaue einer schneeweißen Katze zu lange in ihr blaues und ihr braunes Auge.

David Wagner ist beneidenswert, hatte er doch eine orientalische Fremdenführerin gefunden, um die ich ihn glühend beneide. Denn meine eigene Reise in die Türkei vor nunmehr sechsunddreißig Jahren war alles andere als ein Traum, eher ein Albtraum. Aber das ist lange her und es soll sich viel, sehr viel, geändert haben.

Auf jeden Fall hat Herr Wagner gründlich recherchiert, mag er Verkin, die titelgebende Fremdenführerin, nun erfunden haben oder nicht. Für den Moment tun wir mal so, als gäbe es diese Fee aus Tausendundeiner Nacht wirklich.

Alles beginnt damit, dass Verkin auf einen Wunsch hin eine dieser schneeweißen Vankatzen vom Vansee nach Deutschland, nach Berlin, geschmuggelt hat. Auf der Katzenwillkommensparty nun lernt David die Schmugglerin kennen. Später soll er zum Katzendank ein deutsches Wurstpaket in die Türkei bringen und so bezeichnet er sich von da an – hin und wieder – als „Wurstbote“.

Als Schriftsteller möchte er ein Buch über die türkischen Malls schreiben, die wie Pilze aus dem Boden schossen. Als ich damals dort war, gab es nur eine. Und ich weiß nicht mehr genau, ob ich sie nun gesehen habe oder nicht. Inzwischen gibt es zwanzig. (Siehe Seite 144.) Von Baujahr 1987 bis 2014. „Look them up“ würde Verkin sagen.

Der Wurstbote wird von Verkin, ihrem Hund und ihrer Freundin und Assistentin Nevin überaus herzlich aufgenommen. Und ab da beginnt die Luxus-Fremdenführung der allerersten Klasse. Denn Verkin ist reich und Geld spielt keine Rolle. Verkins Vater hatte damals den größten Elektrokonzern der Türkei aufgebaut und seine geschäftstüchtige Tochter hat mit Bravour dieses und andere Geschäfte weitergeführt, bzw. neu aufgebaut.

Aber auch ein schlimmer Unfall bestimmte Verkins Leben mit unzähligen Operationen. Auch für die Schönheit lag sie diverse Male unter dem Messer.

Aber jetzt zeigt Verkin David das Land. Zu Wasser, auf der Straße oder Schiene oder auch in der Luft, alle Transportwege sind dabei. Die Begleiter der beiden wechseln und David kommt öfter zu Besuch, bringt auch noch einmal Wurst aus deutschen Landen mit.

Und natürlich werden die sagenumwobenen Vankatzen am Vansee besucht. Ob sie wirklich schwimmen können, schaue ich mal bei YT nach. (Können sie, können sie!) Verkins Geschichten möchte man tage- und nächtelang lauschen, nie, nie wird es langweilig. Ihre Ehen, teils mit Deutschen, ihre unzähligen Affären sind sehr ungewöhnlich für eine orientalische Frau. Aber Verkin ist eben besonders, ganz besonders. „Die meisten Menschen sprechen ununterbrochen von sich selbst. Fast alle wollen ihr Leben erzählen, nur leider ist es nicht immer interessant. – Oh, jetzt bekomme ich Angst! Langweile ich dich mit meinen Anekdoten? Im Gegenteil Verkin. […] Stoff für Tausendundeine Nacht.“ (S. 366)

Fazit: Erzählungen aus dem Märchenland, Reiseabenteuer, gespickt mit Anekdoten. „Es ist die Geschichte einer besonderen Freundschaft und einer außergewöhnlichen Frau.“ (Umschlag, hinten) Mir hat es ganz viel Spaß gemacht. ****

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Bewertung vom 25.10.2024
Die Rose von Nischapur
Cheheltan, Amir Hassan

Die Rose von Nischapur


weniger gut

Zerfasert **

Ob ich schon mal einen Roman las, von einem persischen Autor? Ich glaube nicht, von den Märchen aus tausendundeiner Nacht mal abgesehen. Auch in meinem Stapel ungelesener Bücher findet sich da nichts. So war ich höchst gespannt auf „Die Rose von Nischapur“, deren Originaltitel ich nicht lesen kann.

Wir haben hier drei Hauptprotagonisten: David, den jungen Engländer. Sein Traum: Iran bereisen.
Nader, der fünfzehn Jahre ältere Einheimische, ist ein Schriftsteller. Dann gibt es noch Naders Freundin Nastaran, die titelgebende Rose. Alle drei verehren den antiken Dichter Omar Khayyam. (Wer mag, kann da noch ein Zeitzeichen hören.)

Als David einen nicht näher bezeichneten Unfall erleidet, kümmern sich Nader und Nastaran aufopferungsvoll um ihn und nehmen ihn in Naders Wohnung auf, da er z. B. Hilfe bei der Körperpflege braucht. Und da von den Freunden befürchtet wurde, dass er in der Pension nicht allein zurechtkäme.

Es gibt leidenschaftliche Diskussionen über den o. g. Dichter, über Politik und Philosophie. Die politische Situation im Land scheint sehr speziell, für Aus- und Inländer nicht ungefährlich mit recht strengen Gesetzen. Es wird Gründe geben, dass der Autor in seiner Heimat nicht veröffentlichen darf. Da ich mehrere Perser kenne, die in Deutschland leben, werde ich sie fragen, ob die Regeln und Gesetze wirklich so streng sind. Auf Fotos aus den siebziger Jahren wirkte es nicht so. Es wird sich viel geändert haben. Auch bei uns weht ja jetzt ein anderer Wind.

Die Verehrung für den antiken Dichter konnte ich anhand der Beispiele nicht nachvollziehen. Überhaupt wirkt der ganze Roman sehr unstrukturiert, zerfasert, ein roter Faden fehlt gänzlich. Und alles plätschert vor sich hin, obwohl grausame Details politischer Verfolgung nicht fehlen. Das alte Spiel: Die Regierenden und ihre Befehlsgeber maßen sich an, dem Volk ihre abstrusen Regeln aufzuzwingen. Was ja leider in den letzten Jahren weltweit extremer geworden ist.

Auf den aller letzten Seiten nimmt der Roman endlich Fahrt auf und die Situation der drei Personen spitzt sich zu. Vorher, beim Geplätscher, hat man vergebens darauf gewartet. Das unstimmige Ende passt auch nicht so recht.

Fazit: War absolut nicht meins, die Lektüre halte ich von daher nicht für empfehlenswert. Zerfasert eben. Mit Mühe gerade noch so zwei Sterne. Möglicherweise hätte ich lieber „Der Zirkel der Literaturliebhaber“ lesen sollen.

Bewertung vom 10.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


gut

Makatea gibt es wirklich

Das große Spiel ist schwierig zu bewerten, denn eine durchgehende Handlung gibt es nicht. Dafür wird den vier Hauptprotagonisten viel Aufmerksamkeit geschenkt.

Evelyn, die Taucherin, schreibt am Ende ein erfolgreiches Buch und die ganzen Fische muss ich mir noch anschauen. Viele Namen habe ich noch nie gehört. Sehr zu Herzen geht die Szene, wie ein in Netzresten verstrickter Riesenmanta Evelyn um Hilfe bittet und sich später bedankt. Bei Säugetieren habe ich schon öfter davon gehört, z. B. bei Bären. Aber bei Meeresbewohnern las ich davon zum ersten Mal.

Und endlich habe ich durch Evelyn ein Gedicht wiedergefunden, dass ich schon so lange gesucht hatte, wusste leider nicht, von wo und von wem es ist, auf Seite 333 „Ariels berühmter Gesang aus dem Sturm:
Fünf Faden tief dein Vater liegt, Sein Gebein ward zu Korallen, Zu Perlen seine Augenballen, Und vom Moder unbesiegt, Wandelt durch der Nymphen Macht Sich jeder Teil von ihm und glänzt in fremder Pracht.“

Die andere weibliche Protagonistin Ina ist eine typische Insulanerin. Sie sammelt Plastikmüll und fertigt Skulpturen daraus. Sie hat mit Rafi zusammen zwei elternlose Inselkinder adoptiert. Ob sie keine eigenen bekamen oder wollten, bleibt unerwähnt.

Rafi, Inas Mann, ist ein schwieriger, komplexbeladener Zeitgenosse. Er wurde von seinem Vater extrem indoktriniert: „Schwarze auf Erfolgskurs“. So funktioniert die Studienfreundschaft mit …

Todd, dem Weißen zwar anfangs, wird aber zunehmend von Rafi boykottiert. Zu Unrecht, wie ich finde. Und Todd wird extrem erfolgreicher Multimillionär oder -milliardär.

Rafi und Todd spielen in ihrer Studentenzeit viele Spiele, erst Schach, dann Go. Zu Go: „Es ist das älteste ununterbrochen gespielte Brettspiel der Welt. Milliarden von Menschen haben es gespielt. In China gehört es zu den vier Vierteln der persönlichen Weiterentwicklung. In Japan wird es staatlich subventioniert, als Weg zur Erleuchtung.“ (S. 180)

So ersinnt Todd (mit Rafis Ideen) ein digitales Spiel, was einschlägt wie eine Bombe. Und so schnell so viele User begeistert, dass die Teams nicht mehr hinterherkommen. Was das dann am Ende mit Makatea zu tun hat? Lest selbst.

Fazit: Der Roman liest sich sehr flüssig und man bleibt begeistert dran. Das Cover mit den Mantas passt zum Inhalt. Aber zum Schluss verstehe ich so Einiges nicht. Ob das dann Fehler vom Lektorat sind oder ist das Durcheinander so gewollt? Da passt m. E. der ganze Ablauf nicht – schade! Dafür ziehe ich 1,5 Sterne ab und runde ab auf drei Sterne. ***

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.09.2024
Bis in alle Endlichkeit
Kestrel, James

Bis in alle Endlichkeit


sehr gut

Californication

Als ich überlegte, wie wohl die Überschrift meiner Rezension zum Roman von James Kestrel „Bis in alle Endlichkeit“ heißen sollte, kam mir der Titel eines Songs von den Red Hot Chili Peppers in den Sinn. Und tatsächlich passen einige Songinhalte perfekt zum Roman z. B. „Pay your surgeon very well to break the spell of aging.“ Übersetzt heißt das sinngemäß: „Bezahl deinem Chirurgen viel Geld, um den Bann des Alterns zu brechen.“ Deshalb finde ich sogar, dass der deutsche Titel des Romans etwas besser passt, als der Originaltitel: Blood Relations (Blutsverwandte).

Erstaunlich fand ich, dass dieser Thriller eigentlich der Vorläufer von „Fünf Winter“ ist, obwohl erst danach erschienen. So hat sich JK hier warm geschrieben, um dann später den absoluten Knaller zu landen. Nein, gelesen habe ich „Fünf Winter“ noch nicht, aber die Leserschaft ist ja so begeistert. Aber dem sich selbst so nennenden „Schmalspurdetektiv“ Lee Crowe begegnen wir in „Fünf Winter“ nicht. Obwohl ich durchaus nochmal gern mit ihm zu tun gehabt hätte, denn er ist unglaublich kreativ und extrem hart im Nehmen. So fährt er schwer verletzt noch stundenlang durch die Gegend, angetrieben von seinem Herzbusiness.

Unser Kriminalroman Noir spielt also in Kalifornien. In einem Bundesstaat, den wohl niemand, der seine Sinne noch beisammen hat, momentan bereisen würde. Auch wenn zahlreiche Namen mit Sehnsucht verbunden sind, wie etwa der Mulholland Drive in Los Angeles oder der Santa Monica Boulevard, die nur gute vier Meilen voneinander entfernt sind. Um zu entspannen, fliegt unser Held dann nach La Paz, in ein Hotel, in dem er schon sechs Jahre zuvor war, wo sich wenig verändert hat. Und da kommt dann … aber das wird hier nicht verraten.

Lee Crowe, unser Ich-Erzähler, wird oft von dem dubiosen Anwalt Jim Gardner engagiert, der ihn letztlich auch mit der neuen Klientin Olivia Gravesend bekannt macht. Die superreiche Olivia möchte den Mörder ihrer Tochter finden. Und ganz zu Anfang hat ja Lee Crowe die tote Claire auf dem Dach eines eingedrückten Rolls-Royce Wraith gefunden, fotografiert und die Fotos an die Presse verkauft. Ist sie von hoch oben gesprungen oder gestoßen worden?

Wenig später macht der Detektiv die Bekanntschaft von Madeleine, die Claire verblüffend ähnlich sieht und sie auch kannte. Lee Crowe ist gut vernetzt, hat die erstaunlichsten Kontakte und Geld spielt ja keine Rolle, denn Mrs Gravesend hat ja genug davon. Lee Crowe kommt viel herum und kann bald weder in seine Wohnung, noch in sein Büro. Die Wohnung wurde verwanzt, das hat er früh genug auf einer eingebauten Kamera von ferne gesehen und aus dem Büro wurde alles gestohlen, was wichtig war: Der Safe, die Waffe, Claires Briefe, seine Kreditkarten etc. Sein Auto, das „Biest“ befindet sich in einer entfernten Tiefgarage, aber auch dort wird er von der Polizei erwartet. Wir lernen auch einiges über moderne Technik, denn ich hätte nie gedacht, dass man mit einer Drohne, auf dem Dach platziert, ja auch von vorne über die Fotooptik einen Hinterausgang im Auge behalten kann. So kann der treue Elijah vom Auto aus alleine beobachten, was in einem bestimmten Haus vor sich geht. Überwachung zwei-Punkt-null.

Fazit: Ein wirklich sehr empfehlenswerter, hoch spannender Pageturner im Raymond-Chandler-Stil, so was habe ich lange vermisst. So freue ich mich schon auf „Fünf Winter“. ****

Bewertung vom 15.08.2024
Ava liebt noch
Zischke, Vera

Ava liebt noch


sehr gut

Ein Glücksgriff

Normalerweise lese ich keine Liebesromane. Aber hier interessierte mich das Thema „Altersunterschied“, zu dem ich parallel „Die einzige Geschichte“ von Julian Barnes hörte. Ungekürzte Lesung. Dort wird allerdings das Thema „Altersunterschied“ völlig anders behandelt, bzw. aufbereitet.

Und: Natürlich war ich neugierig auf den Fortgang und das Ende von „Ava liebt noch“ und habe immer so sehr gehofft, dass es keine spießige Auflösung gibt.

Ich habe den Roman in nur sechs Tagen verschlungen, denn er ist so glaubhaft, nachvollziehbar und auch spannend geschrieben, dass eine wahre Geschichte zugrunde liegen MUSS.

Zu Beginn fühlt Ava sich wie eingefroren, steckt sie doch im Perpetuum Mobile des Haushalts mit drei kleinen Kindern fest. Am Anfang ist ihr Sohn Nico fünf Jahre alt, Tochter Lana ist zehn und Mia, die Älteste, ist zwölf Jahre alt. Der Ehemann findet, dass es völlig ausreicht, wenn er nur das Geld ranschafft. Es ist genug Geld, der Rest ist ihm egal. Hauptsache, Ava funktioniert wie am Fließband ohne Aussetzer.

Als die seit mehr als zwölf Jahren „in Aspik eingelegte Hausfrau“ aber beim ungeliebten wöchentlichen Großeinkauf im Supermarkt Kieran kennenlernt, haut es sie um. Sie beginnen bald eine Affäre. Und Ralf, der Ehemann, der sonst wirklich überhaupt nichts mehr merkt, kommt erstaunlicherweise schnell dahinter. Was nun?

Das Cover ist chic, zeitgemäß und passt. Der Schreibstil knallt rein und die Seiten blättern sich wie von selbst um. Ein Glücksgriff eben.

Einen Stern werte ich ab für schlunziges Lektorat, so wird aus Lana, z. B. S. 90, plötzlich Jana auf S. 189. Zudem gibt es auch noch eine wirkliche andere Jana. So was kann ich nicht ausstehen. Auch noch eine weitere Begebenheit ödet mich an, die ich hier aber nicht verraten kann, ohne zu spoilern.

Ansonsten, Fazit: Prickelnd, tolle Akteure, super Debüt. Klasse gemacht. Flüssig, fetzig, ein echter Seitenumblätterer: LEST! ****

Bewertung vom 02.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


sehr gut

Ein Appell für den Widerstand

Ich möchte gleich mit einem Zitat von Sebastian Fasthuber aus der österreichischen „Falter“, Ausgabe 29/2024 beginnen: „Das Lied des Propheten lässt sich als Schlüsseltext über die Gefahr des allerorts erstarkenden Faschismus lesen.“

Meinen Dank an Klett-Cotta, dass Sie den Mut gefunden haben, dieses Werk auf Deutsch zu veröffentlichen.

Es fällt mir schwer, diese Rezension zu schreiben, zu stark ist noch der Eindruck, den dieser Roman bei mir hinterlassen hat.

Worum geht es? Wir befinden uns in Irland in der Jetzt-Zeit. Soeben wurde eine neue Geheimpolizei gegründet und eine Art von Notstandsgesetzen ausgerufen. Hier ist sowieso immer Vorsicht geboten, da alle – oder viele der „normalen“ Gesetze damit außer Kraft gesetzt werden. So kommen zwei Geheimpolizisten an die Tür der Protagonistin Eilish, der promovierten, tätigen Mikrobiologin, und wollen ihren Mann Larry sprechen. Er ist ein bekannter Lehrer und Gewerkschafter. Kurz danach wird Larry zum Verhör einbestellt und danach hört man nichts mehr von ihm. Niemand weiß, ob er noch lebt oder wo er sein könnte. Auch Mark, der ältere Sohn der Familie verschwindet, aber zunächst wohl aus eigenem Antrieb, er möchte sich den Rebellen anschließen. Auch bei den jungen Rebellen greift die Gier nach Macht schnell um sich. Von Mark hört man nicht mehr viel und später gar nichts mehr. Verbleiben in der Familie bei der Mutter: Molly, die Tochter, der Säugling Ben und Bailey, der Zwölfjährige. Eilishs dementer Vater lebt auch in der Nähe und wird von ihr betreut. Eilishs Schwester in Kanada möchte, dass die ganze Familie zu ihr kommt und gibt auch viel Geld und Kontakte. Wie es weitergeht, möchte ich hier nicht verraten.

Der Schreibstil ist extrem gewöhnungsbedürftig, es gibt wenig Satzzeichen, keine wörtliche Rede, die als solche erkennbar wäre, auch die Sprecher erkennt man mehr oder weniger nur aus dem Zusammenhang. Der Text ist dicht an dicht, lange Kapitel, nur ein paar Absätze.

Ein paar Zitate finde ich erwähnenswert. S. 32: „… dass alle Jungen erwachsen werden und von zu Hause weggehen, um die Welt unter dem Vorwand, sie zu richten, zugrunde zu richten, so will es die Natur.“ S. 37: „Sie sieht Polizisten mit Knüppeln, die die Demonstranten zu unterwürfigen Gestalten prügeln …“ (Kommt uns das bekannt vor?) S. 43: „Michael, sagt sie, dass du ihn nicht sehen darfst, das verstehe ich nicht, ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, also sag mir, warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?“ (Das fragt man sich in diesem Land auch oft!) S. 97: „… wenn diese Proteste nichts bringen, weiß ich schlicht nicht, was ich machen soll.“ (Geht uns das hier vielleicht genauso?) S. 103: „Früher oder später wird der Schmerz zu groß für Furcht, und wenn die Menschen die Furcht verloren haben, wird das Regime weichen müssen.“

Der erstarkende Faschismus macht sich auch bei uns breit, ein wenig anders, als im Roman geschildert. Da werden Andersdenkende diskriminiert, es werden Hausdurchsuchungen (man könnte alternativ auch sagen: Raubüberfälle) angeordnet. Viele politische Gefangene sitzen derzeit ein, völlig unberechtigt, mit z. T. an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen. Da werden Magazine verboten, Geld wird gestohlen (eingefroren hört sich doch besser an) etc. Viele Widerständler sind schon ins Ausland geflohen, Firmen mussten schließen oder alternativ auch auswandern …

Fazit: Man braucht überaus starke Nerven, um diesen Roman zu verkraften. Gerade in dieser schlimmen Zeit. Sich einzufühlen, aber sich dennoch nicht unterkriegen lassen. Respekt Mr Lynch, behalten Sie Ihren Mut und Ihre Widerstandskraft!

Bewertung vom 23.07.2024
Seinetwegen
Del Buono, Zora

Seinetwegen


sehr gut

Wie ein Recherchekrimi

Von der Autorin Zora del Buono hatte ich mir vor einiger Zeit als erstrebenswerte Lektüre ihren Roman „Big Sue“ aus dem Jahr 2010 notiert. Habe aber Big Sue noch gar nicht gelesen. Jedenfalls hatte ich den Namen dieser Autorin im Gedächtnis, so dass mir ihr neuer Roman „Seinetwegen“ ins Auge fiel. Von Anfang an war mir schon klar, dass es sich hier um diverse Skizzen, Nachforschungen, Zeitungsausschnitte und eben verschiedenes Recherchematerial handelt, weniger um einen Roman. Das macht aber nichts, denn spannend und vor allem unvorhersehbar sind diese Aufzeichnungen allemal. Man lernt auch allerhand über die Schweiz und das Leben der Einwohner.

Es geht also um einen Autounfall mit tödlichem Ausgang. Der Vater der Autorin starb vor sechzig Jahren, als sie noch ein Baby war. Bei der Mutter wurde darüber nie gesprochen. Den Onkel, der den VW-Käfer fuhr, traf keine Schuld. Ein Überholer eines Pferdefuhrwerks hat den Unfall verursacht. Und die Autorin möchte nun genau wissen, was damals passiert ist und was „der Töter“ für ein Mensch ist oder war.

Was mich besonders aufgeregt hat: Es muss uns klar sein, dass der Krake „Datenschutz“ nicht etwa dazu da ist, unsere Daten zu schützen. Nein, die werden schon von der Behörde „Einwohnermeldeamt“ verkauft. Dieser Krake ist eindeutig dazu da, uns das Leben schwer zu machen und z. B. private Nachforschungen zu behindern. Das Volk hat gewiss nichts davon. Die Autorin hatte auch nichts davon, im Gegenteil, wurde sie doch von einer Behörde an die nächste verwiesen. Das ist also in der gelobten Schweiz auch nicht anders als bei uns.

Seite 84 dazu, Zitat: „In Reichenburg wohnen zwei Traxlers (Anm. von mir, der Töter des Vaters hieß Traxler), aus Datenschutzgründen gibt das Statistische Amt weder Geschlecht noch Vornamen an. Im Telefonbuch findet sich keiner von ihnen. Reichenburg liegt sieben Kilometer vom Unfallort entfernt.“

Zum Cover: trifft sehr gut das Thema. Sechzig Jahre zuvor könnte dies der verunfallte Vater, der Fahrzeugführer oder ein Herr der Zeit sein. Die alten Fotos von meinem Vater sehen sehr ähnlich aus. Der Blick auf die Kurve hat es in sich. Oder ist er der Geist des jung Verstorbenen?

Der Text birgt viele Überraschungen und viele Wendungen, die sich u. a. notgedrungen ergeben. Interessant sind auch die Gespräche: „IM KAFFEEHAUS 1-9“ mit zunächst drei, später vier Teilnehmern, die sich nach dem Markt treffen. Darunter unsere Autorin. Solche Strukturen mit zwar festen, aber sich ergebenden Themen würde ich mir für so manche dahinlabernde Gesprächsrunde wünschen.

Fazit: Die Wege der Autorin durch dieses Recherchelabyrinth sind durchweg informativ und abwechslungsreich, gut nachzuvollziehen. Der Leser kommt gut mit und das Buch liest sich fesselnd. Vier verdiente Sterne.