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lesewuermchen
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Neuss

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Insgesamt 13 Bewertungen
12
Bewertung vom 26.10.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13


weniger gut

Stereotyp und undiffernziert!

Der neue Band des Allgäuer Autorenduos ist weder besonders komisch noch besonders spannend. Ein Stück weit ist ein Buch immer ein Zeugnis seiner jeweiligen Zeit. Allerdings wird mir, was die politische Einordnung gewisser Meinungen anbelangt, zu wenig differenziert, was wiederum zeigt, dass selbst bei den Autoren offenbar das um sich gegriffen hat, was ich "antidemokratische Ignoranz" nennen möchte. Selbst die Eßkultur wird von der Zuordnung der jeweiligen politischen Strömung nicht ausgenommen. Stereotypischer geht es fast schon gar nicht mehr. Oder soll das vielleicht ein Versuch sein, sich über unsere höchst bedenkliche
gesellschaftliche Spaltung lustig zu machen? Was rechte Gesinnung mit einer impfkritischen Haltung und extrem schlechten Eßgewohnheiten zu tun hat, ist für mich nicht ersichtlich. Selbst in seiner Abschiedsrede muss Kluftinger nochmal betonen, mit welchem Engagement Herr Dr. Langhammer für seine Patienten einsteht und wie er sie umsichtig mit der vor der Infektion schützenden Impfung versorgt hat. Wie schön, dass Kobr und Klüpfel niemanden im Freundes- und Familienkreis haben, der an der Corona-Impfung verstorben ist bzw. unter den Langzeitfolgen der Impfung leidet.

Es handelt sich auch nicht um einen wirklichen Krimi. In meinen Augen ist es lediglich eine Abrechnung der "rechten Impfgegner" mit dem herrschenden System. Dass Journalismus nicht mehr unabhängig ist, habe ich seit der Corona-Pandemie verstanden, aber von einem Lehrer wie Kobr, dem man doch die Fähigkeit zum kritischen Denken unterstellen könnte, hätte ich mehr erwartet.

3 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 10.08.2024
James
Everett, Percival

James


ausgezeichnet

Aktueller denn je!

Jim, mit eigentlichem Namen James, ist der Hauptprotagonist einer an Tom Sawyer und Huckleberry Finn angelehnten Erzählung von Mark Twain. Der Autor, Percival Everett, lässt die Ereignisse der sehr abenteuerlichen Geschichte aus der Perspektive von Jim, dem Sklaven, erzählen, der klug und belesen ist. Um den Weißen Unterlegenheit zu demonstrieren, sie nicht zu verunsichern und damit zu verärgern, bedient sich James einer für Sklaven typischen Sprache, die die Vorurteile stützen und erfüllen sollen, die die Sklavenhalter ihnen gegenüber haben. Huck und James sind auf der Flucht und vielen Gefahren ausgesetzt. Zu Beginn muss man sich ein wenig an die in Everetts eigenem Stil nachempfundene Sprache der Sklaven gewöhnen, was aber recht schnell gelingt und zudem ein wichtiges Merkmal innerhalb der Geschichte darstellt, denn über Sprache drückt sich Zugehörigkeit und Identität aus. Je mutiger James wird, desto häufiger wechselt er in die eigentliche Sprache und lässt erkennen, dass er die ihm zugedachte Position ganz berechtigt in Frage stellt.

Der Leser nimmt Anteil an den wichtigen Fragen wie Identität, Gleichheit, Freiheit, Würde und welchen Wert ein menschliches Leben hat. Auch das Wesen des Menschen mit seinen Abgründen des Bösen zeigt sich, und ich konnte mich selbst dabei beobachten, dass ich fast erleichtert war, dass James einen der Peiniger seiner scheinbar gerechten Strafe zuführte, S. 308 „War es böse, Böses zu töten? „Doch was ist Gerechtigkeit? Wie lange muss man Menschen quälen, bis sie sich ihrer Haut wehren?

Amerika hat die Geschichte der Sklaverei und Rassentrennung bis heute nicht angemessen bewältigt. Ron de Santis, der Gouverneur von Florida, hat das Curriculum an Schulen für den Geschichtsunterricht dahingehend geändert, dass Schülern ab der 5. Klasse angebliche Vorteile der Sklaverei unterbreitet werden sollen. Wie und wo kann man in einem solchen menschenverachtenden System von Ausbeutung und Gewalt Vorteile finden? Offenbar ist jedes Mittel recht, wenn man an höhere politische Ämter gelangen möchte. Dieses Buch ist ein weiterer gelungener Wurf des US-amerikanischen Autors und Professors für englische Literatur und eine angemessene Antwort auf die nationalistische „America First Politik“ und daher gebe ich meine klare Leseempfehlung.

Bewertung vom 15.01.2023
Katharina von Siena
Dehnerdt, Eleonore

Katharina von Siena


ausgezeichnet

Die vorgelegte Romanbiografie über die Heilige Katharina von Siena, die 1347 als zweitjüngste von 25 Kindern einer Wollfärberfamilie geboren wurde, ist historisch gut eingebettet in die damaligen politischen Verhältnisse, die eine Trennung von Kirche und Staat noch nicht vorsah. Schon als Kind vernahm sie in einer Vision den Ruf Gottes und folgte diesem auch gegen den anfänglichen Widerstand ihrer Mutter Lappa unbeirrt nach und wurde Mantellatin. Sie engagierte sich sozial und in ihrem späteren Leben auch politisch. So kümmerte sie sich um an Lepra erkrankte Menschen, gab einem obdachlosen, frierenden Mann ihren Mantel und entgegnete den Zuschauenden sie wolle sich lieber ohne Mantel statt ohne Liebe finden lassen. Ihre Beharrlichkeit im Gebet und ihre unnachgiebigen Liebe zu Jesus Christus sind für uns heute oft lauen Christen ein großes Vorbild. Nach einer Vision aß Katharina nur noch sehr wenig und körperliche Bußübungen waren Teil ihrer Persönlichkeit bis sie eine erneute Vision von Christus ihrem Bräutigam hatte und ab da in der Öffentlichkeit stand, um in vielerlei Hinsicht zu vermitteln. Stets war sie von ihrer famiglia umgeben, zu der auch ihr Beichtvater, der Dominikaner, Raimund von Capua gehörte.

In ihrer Radikalität war sie eine Verfechterin der Kreuzzüge, was für uns heute nicht zu verstehen ist und einer entschiedenen Bezeugung der Nächsten und Feindesliebe laut Evangelium nach unserm Verständnis entgegensteht. 1375 soll sie die nur für sie sichtbare Stigmatisation erhalten haben.

Sie starb 1380 und wurde zuerst in Rom in der Dominikanerkirche „S.Maria sopra Minerva“ beigesetzt. 5 Jahre später wurde ihr Kopf durch Raimund abgetrennt und als Reliquie in die Basilika San Domenico in Siena gebracht, ganz in der Nähe ihres Geburtshauses.
Katharina wird heute als Schutzheilige Italiens, Europas und der Stadt Rom verehrt.

Die Autorin hat eine fesselnde Geschichte geschrieben, die mich auch über das Lesen hinaus sehr beschäftigt hat. Die beschriebenen Charaktere wirken authentisch, so, dass ich nach kurzer Zeit Teil des Geschehens war und in Gedanken mit Katharina und der famiglia, ihrem vertrauten Kreis, unterwegs war.
Wer sich bisher noch nicht mit dem Leben von Heiligen beschäftigt hat, sich aber dafür interessiert, erhält über dieses Buch einen guten ersten Zugang.

Bewertung vom 14.10.2022
Das Haus der Frauen
Colombani, Laëtitia

Das Haus der Frauen


ausgezeichnet

Spüre deinen Schmerz und Du wirst andere trösten

Sie, Solène, die junge Anwältin sieht sich gescheitert, hat das Gefühl nicht genug getan zu haben, als sich ihr Mandant nach einer für ihn dramatischen Urteilsverkündung aus dem sechsten Stock des Gerichtsgebäudes stürzt. Wie bisher muss sie erkennen, kann es für sie nicht mehr weitergehen. Therapeutisch wird ihr nach der Klinikentlassung geraten sich ehrenamtlich zu engagieren. So wird sie auf den "Palast" aufmerksam, in dem sie als Schreiberin für in Not geratene Frauen fungieren soll. Anfänglich tut sich Solène schwer einen Zugang zu den Frauen zu finden. Erst als an ihrem eigenen Schmerz gerührt wird und sie diesen mit den Frauen dort teilt, bricht sich der Bann und sie wird Teil einer Gemeinschaft, des Kollegiums, in der sie nicht wie gewohnt von außen betrachtet, sondern die Einzelschicksale spüren kann. Eines Tages geschieht etwas, das ihr erneut das Gefühl gibt versagt zu haben und sie sich daraufhin unfähig sieht dort weiterhin tätig zu sein. Doch oft bekommt man auch eine weitere Chance und diese findet unsere Hauptfigur in einer obdachlosen, jungen Frau.

Der Roman wechselt zwischen der Gegenwart in Paris und den 1920er Jahren, in denen die junge Offizierin der Heilsarmee, Blanche Peyron, für die Ärmsten der Armen unermüdlich im Einsatz war. Sie spürt bereits in jungen Jahren ihre Berufung ihr Leben ganz in den Dienst der Notleidenden zu stellen, etwas was Solène erst nach und nach lernt. Dieses sich vom Leid berühren zu lassen, nicht stets in geschützter Distanz zu verharren und trotzdem genug Kraft aufzubringen das Gute für den Nächsten voranzubringen. Mitgefühl dem Taten folgen. Eine der großen Taten Peyrons war gemeinsam mit ihrem Mann Spendengelder für den "Palast der Frauen" aufzutreiben, von denen man anfänglich glaubte, dass es ein Ding der Unmöglichkeit darstellte bei den immens hohen Kosten, die dieses Vorhaben einforderte.

Laetitia Colombani beschreibt die Ereignisse und Schicksale mit einer solchen Ergriffenheit, dass ich eine tiefe Traurigkeit in meinem Inneren spürte. Die Tonart Moll zieht sich wie ein roter Faden durch die Grundstimmung im Angesicht von so viel Leid, an dem wir Menschen oft genug achtlos vorüber gehen, fragen nicht danach, warum sich jemand nicht angepasst verhält und sind oft genug mit Vorurteilen und schnell mit einem Urteil zur Hand, dass dem Demjenigen meistens nicht annähernd gerecht wird, mehr einer Verurteilung gleich kommt. Blanche und auch Solène tun genau das Gegenteil davon und rufen uns dazu auf, es ihnen gleich zu tun.

"Das Haus der Frauen" hat mich tief bewegt und ich würde es nicht nur Frauen, sondern allen mutigen Menschen empfehlen zu lesen oder zu hören, die nicht am Leid "ihrer Schwester", "ihres Bruders" vorbeigehen und die somit diese Welt ein kleines Stückchen besser machen können.

Bewertung vom 21.09.2022
Ein Kind namens Hoffnung
Sand, Marie

Ein Kind namens Hoffnung


ausgezeichnet

Eine Frau mit Rückgrat

Elly, sie ist eine von den vielen unbekannten, mutigen und altruistischen Frauen, die es wagten für das Richtige einzustehen und sich selbst treu blieben, auch wenn es so manches Opfer forderte. Unsere Hauptprotagonistin ist vor Kriegsbeginn Köchin in einem jüdischen Haushalt und rettet den kleinen Sohn Leon vor den Nazis als seine Eltern festgenommen werden. Für Elly und den Kleinen beginnt nun eine herausfordernde Zeit und wir dürfen mitfiebern, ob es ein Wiedersehen der Familie nach dem Krieg geben wird.

Dieser Debütroman von Marie Sand besticht durch seine einfühlsamen und ehrlichen Schilderungen- ein wirklich gelungener Erzählstil, der dazu führt, das Buch hat man erstmal begonnen zu lesen, nicht mehr aus der Hand zu legen. Anfänglich hatte ich mir die Köchin allerdings älter vorgestellt und war erstaunt, als ich plötzlich las, sie sei Mitte Dreißig. Warum eine Pfarrerstochter, die evangelisch sein musste, sich an Maria wandte, wunderte mich ein wenig, auch das Beten des Rosenkranzes ist nicht protestantisch, auch nicht das Lesen einer Messe für Verstorbene. Hier muss sich weder die Autorin noch die Lektorin wirklich auskennen, was ich etwas peinlich finde, weil es zur Allgemeinbildung gehört. Auch ist mir ein Widerspruch aufgefallen. Als der amerikanische Besatzersoldat sich verabschiedete, hieß es Elly könne Loslassen, hinterherwinken ohne Wehmut, S.227 und als Leon sein Abschiedsessen erhielt, hieß es auf S. 244: "Abschiede lagen Elly nicht, denn sie hafteten sich klebrig auf die Gedanken und zwangen einen, auf eine Zeit zurückzublicken, die nicht mehr zu ändern war." Was mich noch nachdenken ließ war die Verbindung, die Elly zu ihrer leiblichen Tochter Mathilda hatte. Es ist eher unrealistisch, dass eine Mutter ein Kind anderer Eltern mehr liebt als ihr eigenes.
Dennoch ist die Geschichte in sich stimmig aufgebaut und konzentriert sich dabai auf das Wesentliche. Die Charaktere sind authentisch beschrieben. Allerdings hatte ich Zweifel an der Person des Stephan Bauer. Diese Mischung aus Depression, Überforderung, Besonnenheit und plötzlich unbeherrschtes Einschlagen auf Kinder oder das Weggeben des jüngsten Sohnes aus erster Ehe.

Da ich mich aber insgesamt sehr gut unterhalten gefühlt habe, die Behandlung des beschriebenen Themas als erzählerisch gut umgesetzt sehe und mit Elly mitfühlte und litt, erhält dieser erste Roman der Autorin 5 Sterne mit klarer Leseempfehlung.

Bewertung vom 13.08.2022
Fräulein Mozart und der Klang der Liebe / Ikonen ihrer Zeit Bd.4
Maly, Beate

Fräulein Mozart und der Klang der Liebe / Ikonen ihrer Zeit Bd.4


ausgezeichnet

Nannerl Mozarz- zwischen Talent und weiblicher Rollenerwartung im 18. Jahrhundert

Der hier von der Wienerin Autorin, Beate Maly, vorgelegte biographische Roman über das Leben der Maria Anna Walburga Ignatia Mozart setzt sich kritisch mit den kulturhistorischen Erwartungen der damaligen Zeit auseinander und zeigt zu welchen Opfern Frauen damals bereit waren, um sich und die Herkunfsfamilie zu schützen. Sie ist das erste überlebende Kind des Ehepaars Mozarts und es ist davon auszugehen, dass sie deshalb eine besondere Fürsorge der Eltern genoss. Schnell stellte sich ihr musikalisches Talent heraus, welches aber in den Schatten des begabten Bruders Wolfgang Amadeus zurücktreten musste. Die Geschichte nimmt die Lesenden mit durch die Ereignisse ihrer Kindheit und Jugend, lässt ihre Begeisterung für die Musik spürbar werden. Sie gilt als eine der begabtesten Pianistinnen ihrer Zeit, was ihr Bruder sehr zu schätzen wusste, legte er doch große Stücke auf die Expertise seiner Schwester. Als unsere Hauptprotagonistin ihrer großen Liebe, Franz Armand d`Ippold, begegnet, erleben wir welche gesellschaftliche und ökonomische Einflüsse damalige Verbindungen bedroht haben und Frauen stets darauf bedacht sein mussten ihren guten Ruf nicht zu verlieren.

Die äußerst empathische Erzählweise fesselt von Anfang bis Ende. Anschließend musste ich unbedingt noch mehr von Nannerl in Erfahrung bringen, wollte wissen, wie ihr Leben weiter verlaufen ist. Wenn es gelingt ein solch großes Interesse zu wecken, dann hat eine fantastisch erzählte Geschichte, wie diese, volle fünf Sterne verdient.

Bewertung vom 19.07.2022
Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1
Martin, Stefanie H.

Virginia und die neue Zeit / Die Liebenden von Bloomsbury Bd.1


sehr gut

Virginia Woolf und ihre Zeit

Den Auftakt der dreiteiligen Saga über das Leben einzelner bedeutender Mitglieder der Bloomsbury Group bildet der erste Roman "Die Liebenden von Bloomsbury", der vom Leben der Schriftstellerin Virgina Woolf und ihrer Schwester Vanessa Bell, einer Malerin, und ihrem sich regelmäßig treffenden Zirkel von Cambridge Absolventen, handelt. Obwohl der Untertitel des Buches darauf verweist man dürfe erwarten der Fokus liege hier hauptsächlich auf den biografischen Ereignissen der Virginia Woolf, so sind es doch die Schwestern und ihr enges Beziehungsgefüge, die den Kern der Geschichte bilden. Da es sich um eine fiktive Nachzeichnung möglicher biografischer Ereignisse anhand von fundierter Recherche seitens der Autorin handelt, haben wir es hier nicht mit einem Roman zu tun, der spannungsgeladenen Ereignissen entgegen sehnt, sondern mit dem gelungenen Versuch das damalige Leben am Ende des viktorianischen Zeitalters nachzuzeichnen. Die Sehnsucht der jungen Frauen nach Selbstbestimmung und Berufung tritt deutlich zutage.

Virginias Rolle ist die einer zerbrechlichen Frau, die psychisch instabil auf sich achten muss, ansonsten vor Empfindsamkeit nur so strotzt, eloquent und eitel auftritt, süchtig danach ist geliebt zu werden-besonders von ihrer Schwester Vanessa. Diese Liebe ist so inniglich inszeniert, dass ich mich gefragt habe, wie weit sie ging. Als ihr Schwager seine Liebe zu ihr entdeckt, ist sie unter ihren Gefühlswirren bereit ihr eigenes künstlerisches Schaffen von ihm infrage stellen zu lassen, was zeigt wie sehr sie um Anerkennung bemüht war und wie groß die Selbstzweifel an ihren Fähigkeiten waren, siehe dazu S.427 und 428.

Die Lebendigkeit dieser Geschichte zeichnet sich durch eine sehr hohe Dialogdichte aus, einer äußerst bildreichen Sprache, die sogleich einen inneren Film vor dem geistigen Auge ablaufen lässt, was mich mehr als gut unterhalten hat. Die Charaktere wirken authentisch. Sehr wichtig ist die Rolle des Clives, der zu Studienzeiten in Paris war und uns erst als weltoffener, gebildeter junger Mann begegnet, der die schöne Vanessa heiratet und später auch Gefallen an der geistreichen Virginia findet. Sein Hobby, die Jagd, pflegt er auch in Bezug auf Frauen. Er braucht ungeteilte Aufmerksamkeit, davon hängt seine Zuneigung maßgeblich ab. Plötzlich fühlt er sich von der Intelligenz Virginias angezogen, denn sie schreibt ihm regelmäßig Briefe, zu einer Zeit, in der seine Frau sich ausschließlich um den Nachwuchs und später um ihre Malerei kümmert. Doch genau was er anscheinend anziehend findet, macht ihm insgeheim auch Angst, genau wie die Suffragetten, die vehement das Frauenwahlrecht fordern und die Virginia bitte nicht in ihrem Roman "Melymbrosia" erwähnen soll. Die geistig unabhängigen Schwestern bräuchten ihn eigentlich beide nicht.

Im Nachwort schreibt die Autorin selbst, dass es inhaltlich bei den Treffen der Bloomsburies um Philosophie, Literatur und Kunst gegangen sei. Das wiederum musste im Roman dem ständigem Gerede von Sex und gleichgeschlechtlicher Liebe weichen, wohl als Merkmal sich gerade in dieser Hinsicht befreien zu wollen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, nur weil man endlich vulgär über Tabuthemen reden konnte, würde es in die Freiheit geführt haben.

Ich hätte mir noch ein wenig mehr Informationen über die schriftstellerischen Ereignisse Virginias gewünscht und tiefgreifendere Dialoge bei den Treffen im Gordon Square 46. Auch bleibt offen, wie sie zu der Ehefrau von Leonard Woolf wurde. Auch das Ausmaß ihrer bipolaren Störung fließt nur unzureichend in die Geschichte ein.

Dennoch freue ich mich auf den 2. Teil der Saga und kann dieses Buch Interessierten dieser Zeit empfehlen.

Bewertung vom 17.07.2022
Findelmädchen
Bernstein, Lilly

Findelmädchen


ausgezeichnet

Rassismus und Frauenfeindlichkeit in der Nachkriegszeit

Erneut hat Lilly Bernstein einen Roman geschrieben, den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte, hatte ich erst begonnen zu lesen. Das Vorgänger Buch "Trümmermädchen " wartete mit der gleichen Intensität auf. Haben wir in diesem vorangegangenen Werk Anna und ihre Bande von der Ehrenstraße in Köln zur Zeit des 2. Weltkrieges kennengelernt, so erleben wir jetzt die Herausforderungen der Nachkriegszeit in Köln und erleben was aus den Geschwistern Helga und Jürgen geworden ist. Die Geschichte beginnt in Frankreich, wo die beiden von Tante Claire und Onkel Albert fürsorglich umsorgt worden sind, bis plötzlich bekannt wird, dass der Vater der Kinder noch lebt und sie 1955 zurück in ihre alte Heimat am Rhein reisen. Doch die Lebenssituation gestaltet sich besonders für Helga nicht einfach, vermisst sie ihre Mutter doch sehr, von der niemand weiß, was mit ihr geschehen ist und zudem wird sie sich als heranwachsende, junge Frau einem Rollenbild bewusst, das sie immer mehr als ungerecht und abwertend erlebt und dem sie selbst zum Opfer fällt. Das anfängliche Glücksgefühl über den heimgekehrten Vater, der ihr liebvoll begegnet, wird bald durch seine eigene Vergangenheit getrübt, die es ihm nicht erlaubt, Helga mit ihren Fähigkeiten so anzunehmen wie sie ist. So muss sie statt ihres Wunsches ein Gymnasium zu besuchen, eine Haushaltungsschule ertragen, die nach einem theoretischen Teil ein Praktikum vorsieht. Ausgerechnet Helga mit ihrem Leben als Trümmmerkind soll dieses in einem Waisenhaus absolvieren, wodurch sie mit ihrer eigenen Vergangenheit schmerzlich konfrontiert wird. Dort lernt sie die kleine Bärbel kennen, die als Kind mit dunkler Hautfarbe täglichen brutalen Mißhandlungen ausgesetzt ist. Wie kann Helga ihr nur helfen?

Doch in dem Haus am Eigelstein leben noch andere Personen, wie sich des Nachts plötzlich herausstellt. Da gibt es nicht nur die lebenslustige Fanny und die unausstehliche Tante Meta, sondern auch noch Auguste und Konradin, die aus Ostpreußen geflüchtet sind und auf dem Dachboden wohnen.

Die Charaktere erwachen sofort zum Leben, so dass ich sofort Teil der Handlung zu sein schien. Jede Szene sah ich während des Lesens deutlich vor mir. Die Autorin schreibt so detailreich und emotional packend, wie ich es kaum von anderen Schriftstellern kenne. Die Verzweiflung und die Wut Helgas habe ich mehrfach deutlich gespürt. Zum Ende hin konnte ich das heimelige Weihnachtsfest so richtig genießen, nach all den dramatischen Ereignissen zuvor. Die Handlung ist in sich schlüssig und spannend aufgebaut, aber nicht vorhersehbar. Während der einzelnen Kapitel kommen Tagebucheintragungen der Mutter zur Sprache, die sukzessive erahnen lassen, was sich damals tatsächlich zu Ende des Krieges ereignet hat.

Die Rolle der Frau in der Nachkriegszeit hat mich sehr betroffen gemacht und ich musste unweigerlich an die Geschichte meiner eigenen Mutter denken.

Diese Buch ist absolut lesens- und empfehlenswert- thematisch und atmosphärisch wirklich gelungen- für alle, insbesondere Frauen, die gut geschriebene Geschichten lieben.

Bewertung vom 20.06.2022
Morgen kann kommen
Kürthy, Ildikó von

Morgen kann kommen


gut

Zwischen Verrat, Lügen, Mut und Aufbruch

Die eigentliche Thematik- das Führen eines selbstbestimmtem Lebens ohne Gefallsucht- wurde anhand der Geschichte zwei ungleicher Schwestern für meinen Geschmack inhaltlich umgesetzt, war mir aber insgesamt zu langatmig, so, dass ich Mühe hatte dabei zu bleiben. Durch ein dramatisches Ereignis am Hochzeitstag von Ruth entsteht eine lange Kontaktpause zwischen den Schwestern, die erst durch weitere plötzlich zu Tage tretende Umstände zum Aufbruch von Ruth führt, die sich nun auf den Weg in die alte Villa der Großeltern flüchtet, wo sie ihre Schwester Gloria antrifft. Gloria, einst Maria genannt, hat sich dort mit ihren Freunden ein ganz eigenes Leben eingerichtet. Rudi, Erdal, Fatma- alles wunderbar von der Autorin geschaffene Charaktere, die Ildiko von Kürthy, die Geschehnisse aus ihrer Perspektive erzählen lassen. Der Erzählstil ist humorvoll und strotzt teilweise ein wenig über, wenn es um die Vergleiche geht. Auch wenn es im Rahmen solcher Beziehungsgeflechte, wie Ehe, Frau-Mann-Verhältnis, Rolle der Frau, Geschwisterkonflikte, Freundschaften oft um prozesshaftes persönliche Weiterentwicklung der Hauptfigur geht, fehlt mir trotzdem die Spannung innerhalb der Ereignisse.

Das Cover sagt irgendwie alles und nichts aus, wirkt nebulös, lässt ein wenig davon erahnen, wie es ist, wenn man tief in seinen Innern genau weiß, irgendetwas stimmt nicht, wie es Ruth bestimmt in all den Jahren ergangen sein muss, bevor sich die Umstände nicht mehr verdrängen ließen und ans Licht kamen. So deute ich es. Die kleinen Aquarelle innerhalb des Buches schmücken das Erzählte und werten das Buch für mein Empfinden aus künstlerischer Sicht auf.

Dieses Buch würde ich nur bestimmten Menschen empfehlen, bevorzugt Frauen, die für diese Thematik offen sind.

Bewertung vom 26.05.2022
Eine Frage der Chemie
Garmus, Bonnie

Eine Frage der Chemie


ausgezeichnet

Mit Halbsieben zum "Essen um sechs" von ElkeV

"Eine Frage der Chemie" oder im Originaltitel noch treffender "Lessons in chemistry" bringt die geniale Chemikerin Elisabeth Zott hervor, die für ihre Zeit unerschrocken und entschieden in den 50er und 60er Jahren in Amerika gegen die Benachteiligung von Frauen kämpft. Wer nun vermutet, es handele sich um eine von vielen Storys, die nur eingefleischte Emanzen und die noch wenig überlebenden Suffragetten auf den Plan ruft, der irrt. Bonnie Garmus ist hier ein wahres Meisterwerk gelungen- eine Geschichte, die nicht besser hätte erzählt werden können, und die sich in vielen aufschlussreichen Dialogen mit dem Leben selbst beschäftigt.
Als Wissenschaflerin ist Elizabeth immer wieder den Intrigen und Übergriffen ihrer männlichen, oft weniger kompetenten Kollegen ausgesetzt, bis sie eines Tages auf den bekannten Chemiker Calvin Evans trifft, der sie wie kein anderer mit ihren Fähigkeiten erkennt und liebt. Doch die Umstände ändern sich sehr bald, und die junge Frau schlägt ungeahnte Wege als Moderatorin einer Kochshow ein, die sie auf ihre Weise dazu nutzt, die Zuschauer/innen für die chemische Seite des Kochens zu begeistern und sogleich auf Missstände ihrer Zeit hindeutet und Frauen ermutigt, ihre eigenen Wege zu gehen.
Durch ungeklärte Ereignisse aus dem Leben des Calvin Evans hält die Autorin eine gewisse Spannung in der atmosphärisch ohnehin "positv" geladenen Erzählung aufrecht.

Selten habe ich eine Geschichte gelesen, in der die Personen eine solche Tiefe haben, so greifbar nah sind, als säße man mit in Elisabeths Labor zum Essen um sechs am Sonntag neben Madeline und Harriet, während Halbsieben, dieser wunderbare Hund, einer meiner Lieblingsfiguren, seinen Kopf an mein Bein drücken würde, weil er spürt wie lebendig und gegenwärtig er in der Zeit des Lesens in unserem realen Leben war und wie sehr wir ihn lieb gewonnen haben. Wir haben das Buch zu zweit gelesen- ein Mann und eine Frau- und ich darf von männlicher Seite zurückmelden, dass es großen Gefallen gefunden hat.

Die Hauptprotagonistin erforscht die Abiogenese, ist bekennende Atheistin, was einer gewissen Logik zu folgen scheint, da sie in ihrem Ergebnis den Ursprung des Lebens zu erklären versucht. Dennoch finde ich dieses Klischee etwas zu kurz durchdacht, da es doch etliche Wissenschafler aus verschiedenen Fachbereichen gibt, die den Glauben an Gott nicht ausschließen. Ich hätte es spannend gefunden, da Elisabeth in ihrer Rolle alles hinterfragt, wenn die Gottesfrage Teil der ansprechenden Dialoge mit Reverend Wakely gewesen wäre. Doch dieser erklärt als Geistlicher, durch Evans beeinflusst, er würde selbst gar nicht an Gott glauben. Ungeklärt trotz aller wissenschaftlicher Ansätze bleibt die Frage nach dem Ursprung der menschlichen und tierischen Seele. Apropos "Seele"- es gibt unzählige dramatische Geschichten, die nur einen faden Nachgeschmack hinterlassen, aber hier haben wir es mit einem Roman zu tun, der trotz der darin beschriebenen Schicksalsschläge in der Gesamtatmosphäre positiv stimmt und im Ergebnis ermutigt hinzuspüren, was man selbst möchte.

Das Buch soll als Serie verfilmt werden. Da dürfen wir gespannt sein. Vorher bitte jedoch eine klare Aufforderung, dieses fantastische Buch zu lesen.

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