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bedard

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Insgesamt 54 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


gut

Die hohen Erwartungen wurden leider nicht ganz erfüllt

Der Klappentext und die ersten Seiten dieses autofiktionalen Romans haben eine humorvolle Auseinandersetzung mit familiären Beziehungen versprochen. Tatsächlich gibt es diese Momente auch immer wieder, aber über weite Strecken begegnet man einer dreiköpfigen Familie, in der die stets schwarzsehende, missmutige Mutter die dominierende Rolle spielt. Und natürlich das HAUS, im Text immer großgeschrieben, das vermeintlich die Ursache des andauernden Familienunglücks ist.

Nach einer glücklichen Phase an der Bergstraße zieht die Familie wegen einer Beförderung des Vaters zurück nach Kassel. Doch der Karrieresprung des Vaters und der Bau des immerhin 300 qm großen Hauses wird von der Mutter als größtes Unglück abgetan. Kassel ist in jeder Hinsicht furchtbar, das HAUS ebenfalls. Die Familie schottet sich ab, soziale Kontakte, insbesondere zur eigenen Verwandtschaft, werden vermieden. Trotzdem zieht es später die erwachsene Tochter ungewöhnlich häufig für Besuche dorthin zurück. Die Versuche, das HAUS zu verkaufen, bleiben jahrelang erfolglos. Als es wider Erwarten doch klappt mit einem zudem äußerst zufriedenstellenden Verkaufspreis, tun sich die Eltern der Ich-Erzählerin extrem schwer loszulassen. Die telefonischen Lageberichte, die die Tochter vom Vater einholt, lassen nichts Gutes erwarten. Und nach dem Umzug wird das HAUS und die Vergangenheit im Rückblick glorifiziert. Dafür ist die neue Wohnung jetzt eine Zumutung.

Obwohl der Schreibstil und auch einzelne feine Charakterzeichnungen durchaus überzeugen, auf Dauer fehlt den wiederkehrenden Beschreibungen des Unglücks die Perspektive. Da helfen auch die gelungenen skurrilen Szenen und die nachdenklich stimmenden Beschreibungen von missglückten Versöhnungsversuchen nicht, die vermutlich die meisten Lesenden so oder so ähnlich selbst erlebt haben.

Bewertung vom 15.09.2024
Juli, August, September
Grjasnowa, Olga

Juli, August, September


sehr gut

Sinnsuche
Lou lebt mit ihrem zweiten Ehemann Sergej, einem Pianisten und genau wie sie jüdischen Glaubens, und der fünfjährigen Tochter Rosa in Berlin. Als Rosa bei einer Freundin die Geschichte von Anne Frank vorgelesen bekommt, reagiert sie zutiefst verstört. Lou stellt sich und ihrem Mann daraufhin die Frage, wieso Religion in der Erziehung der Tochter bisher keine wirkliche Rolle gespielt hat. Doch Sergej lässt sich nicht auf das Thema ein und Lou insistiert nicht.
Als ihre Mutter sie auffordert, gemeinsam zum 90. Geburtstag der Großtante nach Gran Canaria zu reisen, lehnt Lou zunächst ab. Nach wiederholter Aufforderung lässt sie sich aber schließlich widerwillig zu dem großen Familientreffen überreden. Gemeinsam mit Mutter und Tochter, aber ohne Ehemann, nimmt sie an dem lebhaften, konfliktbeladenen Ereignis teil. Doch die erhofften Antworten auf ihre offenen Fragen erhält sie nicht. Deshalb reist sie alleine nach Israel, in der Hoffnung, dort Klarheit über sich und ihr Leben zu gewinnen.

Der Roman ist leicht lesbar und flüssig geschrieben, trotzdem konnte mich das Buch nicht völlig überzeugen. Die Charaktere sind fast schon ein bisschen zu plakativ gezeichnet, dadurch aber gut vorstellbar. Die Hauptprotagonistin steckt nach einem schweren Schicksalsschlag in einer Sinnkrise, die Beziehung zu ihrem Ehemann stagniert, das Verhältnis innerhalb des Großfamiliengeflechts ist auch schwierig. Für 200 Seiten sind das vielleicht einfach zu viele Themen, um sie ausreichend zu vertiefen. Ich bin zwar nicht enttäuscht, aber auch nicht begeistert. Deshalb gibt es von mir nur eine eingeschränkte Leseempfehlung.

Bewertung vom 09.09.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


gut

Karriere, Kind oder Beides
Im Mittelpunkt des neuen Romans von Jackie Thomae stehen zwei Frauen, die auf den ersten Blick sehr unterschiedlich sind. Marie-Claire, genannt MC, ist eine bekannte Radiomoderatorin, groß, auffallend und lebenslustig. Anahita ist Politikerin, seit kurzem Senatorin, zart und dezent, stets darauf achtend, keine Angriffspunkte zu bieten. Anders als MC kann sie sich ihrer großen Familie nur schwer entziehen.
Was beide Frauen eint: sie haben weder eigene Kinder noch einen Partner und sie sind 39 Jahre alt.
Und damit drängt sich nicht nur für sie, sondern auch für ihre Umgebung, die Frage nach einem eigenen Kind auf.

Die unterschiedlichen Charaktere der beiden Hauptpersonen werden auch sprachlich sehr gut herausgearbeitet. Obwohl beide gedanklich um das Thema Kind kreisen, wirkt MC oberflächlicher, Anahita viel verletzlicher und nachdenklicher. Gemeinsam ist ihnen aber der Druck, der ihnen auch von außen gemacht wird. So bekommt MC wenig subtil von ihrer Mutter ohne Kommentar ein Paket mit Fruchtbarkeitsartikeln zugeschickt und Anahita von ihrem Bruder bzw. ihrer Schwägerin ein teures Seminar zum Thema Kinderwunsch zum Geburtstag.

Die beiden Hauptprotagonistinnen stehen exemplarisch für alle Frauen, die sich aufgrund ihres Alters mit ihrem Kinderwunsch auseinandersetzen müssen. Gerade beruflich erfolgreiche Frauen haben viel zu verlieren, wenn das Umfeld das nicht auffängt. Das hier auch angesprochene „social freezing“ wurde deshalb bereits 2014 von zwei Konzernen in den USA Mitarbeiterinnen angeboten, damit diese ungestört ihre Karriere weiterverfolgen können. Insofern ist auch der dritte Abschnitt gar nicht so unrealistisch.

Nach leichten Startschwierigkeiten bin ich relativ gut in den Roman hineingekommen, allerdings haben mich einzelne Passagen dann wieder nicht mehr so angesprochen. Im Nachhinein finde ich sie auch für den Handlungsverlauf nicht unbedingt notwendig. Dafür hätte ich mir an anderen Stellen tatsächlich eine Vertiefung gewünscht, wo wichtige Ereignisse im Leben der Frauen nur gestreift wurden.
Titel und Cover hätten mich ohne Kenntnis des Inhalts nicht angesprochen, da ich ein historisches Buch erwartet hätte. Allerdings passt es zu den mir bekannten Covern des Verlages.

Mit einer Leseempfehlung tue ich mich schwer: Jüngere interessiert das Thema möglicherweise noch nicht, Ältere nicht mehr und die Altersgruppe um die vierzig ist entweder selbst betroffen und will deshalb nicht auch noch einen Roman zum Thema lesen oder hat das Thema abgehakt. Wer aber einen unterhaltsam geschriebenen Roman zu dieser Thematik lesen mag, für den könnte das Buch passen.

Bewertung vom 14.08.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

Schwer erträgliches Lesehighlight

Als Jella und Yannick sich kennenlernen ist Jella überglücklich, die ganz große Liebe gefunden zu haben. Ihr Leben scheint perfekt und so willigt sie mit nur ganz leichten Zweifeln ein, gemeinsam in eine Wohnung zu ziehen, die für sie als Studentin viel zu teuer ist. Und dann fängt die Hochglanzfassade an zu bröckeln. Auf heftigste Auseinandersetzungen folgen ebenso heftige Versöhnungen, bis Jella schließlich auf einer Polizeiwache Anzeige wegen häuslicher Gewalt erstattet und zurück zu ihrem Vater in ihr altes Kinderzimmer flüchtet.

In den folgenden elf Tagen versinkt Jella in ihrem Schmerz, versucht das Geschehene zu verstehen, blickt auf die Vergangenheit zurück. Und die hat es in sich. Eine Kindheit in der Lausitz, die Trennung der Eltern ohne dramatische Zerwürfnisse, die Entscheidung beim bedürftigeren Vater zu bleiben, Freundschaften, erste negative Erfahrungen mit Männern. Und dann Abitur, Studium und schließlich Yannick, den sie so gerne auch jetzt noch lieben würde.

Für mich gehört dieser Roman zu meinen absoluten Lesehighlights des Jahres! Sprachlich überzeugend, wenn auch teilweise sehr drastisch formuliert. Wichtiger finde ich aber die Innenansichten und den Blick auf die weibliche Sozialisation, die am Beispiel von Jella alltägliche Gewalt in heterosexuellen Beziehungen aufzeigt, die mit Yannick nur ihren Höhepunkt erreicht hat. Das fatale Bemühen von Mädchen und Frauen zu gefallen und dabei die eigenen Bedürfnisse hintenanzustellen oder gar nicht erst zu entdecken, wird in diesem Roman sehr eindrucksvoll hinterfragt.

Eigentlich würde ich dieses Buch am liebsten jedem Menschen empfehlen, aber es benötigt definitiv eine Triggerwarnung.

Bewertung vom 09.07.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


ausgezeichnet

Beeindruckender Roman über eine auseinanderdriftende Schwesternbeziehung
Sam und Elena sind Schwestern, Ende 20, und leben mit ihrer todkranken, pflegebedürftigen Mutter auf den San Juan Islands im Nordwesten der USA. Als Teenager haben sie gemeinsam davon geträumt, die Insel zu verlassen und irgendwo zusammen ein besseres Leben zu führen. An diesem Traum hält Sam sich fest, wenn sie in anstrengenden Schichten im Bistro auf der Fähre arrogante Touristen bedient. Elena arbeitet wie sie in der Gastronomie und kümmert sich hauptsächlich um die Pflege der Mutter und um die Verwaltung der immer stärker wachsenden Schuldenberge.

Eines Tages sichtet Sam während ihrer Schicht einen schwimmenden Bären und berichtet Zuhause von der kleinen Sensation, die etwas Abwechslung in den tristen Alltag bringt. Doch dabei bleibt es nicht. Kurz darauf sichten sie das eindrucksvolle Tier direkt vor ihrer Haustür. Während Sam sich durch den Bären bedroht fühlt, sucht Elena die Nähe des Tieres. Erstmals in der Beziehung der Schwestern beginnt Sam, Elenas Handeln in Frage zu stellen und unabhängige Entscheidungen zu treffen.

In leisen, ruhigen Tönen wird die Geschichte einer nur aus Frauen bestehenden kleinen Familie erzählt, die trotz harter Arbeit nie genug Geld verdienen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Während der Corona Pandemie sind die Jobs in der Tourismusbranche weggefallen, Lohnersatzleistungen gab es in den USA ebenso wenig wie eine ausreichende Krankenversicherung. Während Elena angesichts der horrenden Hypotheken- und Arztrechnungen resigniert hat, hat Sam naiv an den Träumen ihrer Jugend festgehalten.

Mich hat dieser Roman nachhaltig beeindruckt, obwohl ich mit der märchenhaften Beziehung zwischen Elena und dem Bären meine Schwierigkeiten habe. Trotzdem haben mich der Schreibstil, die sehr gelungenen Charakterisierungen und vor allem die Beschreibung der Lebensbedingungen überzeugt. Ich kann mir gut vorstellen, dieses Buch irgendwann noch einmal zu lesen.

Bewertung vom 20.06.2024
Das Baumhaus
Buck, Vera

Das Baumhaus


gut

Potential nicht ganz ausgeschöpft

Nora und Henrik reisen mit ihrem fünfjährigen Sohn Fynn nach Schweden, in ein lange leerstehendes Ferienhaus, das Henriks Großvater gehörte. Bereits bei der Ankunft kommen Nora erste Zweifel, ob die Idee wirklich gut war und die angespannte Beziehung verbessern wird. Zu groß ist der Unterschied zwischen dem phantasievollen, aber in praktischen Dingen wenig begabten Schriftsteller Henrik und ihr, der erfolgreichen und pragmatischen Karrierefrau, die sich in einer Männerdomäne behauptet. Als Fynn nach einem Versteckspiel mit seinem Vater nicht wieder auftaucht, wird der Traumurlaub zum Horrortrip.

Der Roman wird aus der Perspektive von vier Personen erzählt, dazu gehören Henrik und Nora. Die Perspektivwechsel geschehen relativ schnell, und nicht immer ist sofort deutlich, wann die jeweilige Szene spielt. Das erhöht langfristig die Spannung, verlangsamt aber gerade zu Beginn auch das Tempo. Die Hauptcharaktere sind aufgrund des Erzählstils am Ende sehr genau herausgearbeitet, bieten sich aber eher nicht als Identifikationsfiguren an. Dazu sind sie zu sperrig oder einfach nicht sympathisch genug.

Gegen Ende zieht das Tempo deutlich an. Sicher geglaubte Einschätzungen stellen sich als falsch heraus, nicht alles wird logisch aufgelöst.

Der dritte Roman von Vera Buck konnte mich leider nicht ganz überzeugen. Die Grundidee und auch die Charaktere haben wirklich Potential. Aber zu Anfang fehlte mir das Tempo, gegen Ende wirkte es dagegen fast schon gehetzt. Einige Szenen fand ich unnötig brutal, dafür hätte ich mir mehr Szenen gewünscht, in denen die Autorin gekonnt psychologische Erkenntnisse einsetzt. Die Dynamik gerade in der Beziehung zwischen Henrik und Nora ist allerdings gut getroffen.

Bewertung vom 04.06.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Was wäre, wenn man die Vergangenheit ändern könnte
Die 16jährige Schülerin Odile lebt in einem Tal, das im Osten und Westen von völlig identischen Tälern begrenzt wird. Einziger Unterschied ist die Zeit, denn in dem einen Tal leben die Menschen zwanzig Jahre zuvor, in dem anderen zwanzig Jahre in der Zukunft. Die Grenzen werden bewacht, ein Überschreiten ist streng verboten und nur auf Antrag und in Begleitung möglich. Entschieden wird darüber von den Mitgliedern des Conseils, deren Autorität nicht in Frage gestellt wird. Die genauen Kriterien, warum Besuche gestattet oder abgelehnt werden, sind nicht transparent.

In der Schule herrscht ein autoritärer Unterrichtsstil, zu dem auch ganz selbstverständlich körperliche Züchtigungen gehören. Obwohl Odile augenscheinlichlich gemobbt wird, schreitet der Klassenlehrer nicht ein, lediglich Alan und Edme, zwei Mitschüler, stellen sich auf ihre Seite.
Am Ende des Schuljahres steht der Übergang in die Ausbildung bevor, am begehrtesten ist natürlich die Aufnahme in die Ausbildung am Conseil. Zunächst bewirbt Odile sich nur, weil es ihrer Mutter so wichtig ist. Doch ein Erlebnis hat Odile zutiefst irritiert, ohne dass sie darüber sprechen konnte. Sie hat Edmes Eltern als Besucher aus der Zukunft gesehen, sie weiß also, dass Edme sterben wird, ohne den genauen Zeitpunkt oder die Ursache zu kennen. Durch einen Zufall erfährt ihr Lehrer davon und empfiehlt sie deshalb für die Ausbildung. Für sie selbst überraschend, beginnen die herausfordernden Aufgaben sie zunehmend zu faszinieren und ihren Ehrgeiz zu wecken. Gleichzeitig ändert sich ihr Status bei ihren Klassenkamerad:innen und sie wird Teil einer Clique. Insbesondere zu Edme fühlt sie sich hingezogen, ohne ihm von ihrem Wissen über seinen bevorstehen Tod zu berichten.

Während dieses ersten Teils liest sich der Roman wie ein Jugendbuch, in dem es im Rahmen einer Dystopie um die ganz typischen Themen wie Außenseitertum, Mobbing, erste Liebe und langsames Erwachsenwerden geht. Gerade Odile wirkt in einigen Szenen viel jünger als 16 Jahre, um dann aber insbesondere im Zusammenleben mit ihrer Mutter viel zu erwachsen für das Alter zu handeln und zu denken. Insgesamt wirkt Odile sehr beherrscht und zeigt viel weniger Emotionen, als zu erwarten wären.

Der zweite Teil spielt 20 Jahre später. Sprachlich unterscheidet er sich gravierend von Teil I. Auch die Stimmung ist viel düsterer, von Aufbruchstimmung keine Spur. Odiles Dasein lässt sich nur als trist und monoton beschreiben, ihre Wünsche sind bescheiden. Doch dann geschehen einige Dinge, die sie aus ihrer Erstarrung aufwecken und Gedanken in Gang setzen, die sie bisher nicht zugelassen hat.

Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard erinnert mit seinem ersten Roman an berühmte Vorbilder, in denen es um autoritäre Systeme oder um klassische Zeitreisen geht. Diese beiden Themen verknüpft er geschickt und unterhaltsam, fordert seinen Leser:innen aber auch einiges an Konzentration ab. Unweigerlich stellt man sich die Frage, wie man selbst handeln würde. Was würde geschehen, wenn man die Vergangenheit ändern könnte? Welche Auswirkungen hätte das, nicht nur für die eigene Person, sondern für ganze Systeme?

Das andere Tal ist kein Wohlfühlbuch, dafür ist die Atmosphäre über weite Strecken zu düster. Der erste Eindruck, es könnte ein Jugendbuch sein, ist spätestens zu Beginn des zweiten Teils verflogen.
Auch Odile, die die tragende Figur des Romans ist, eignet sich nicht als Identifikationsfigur, obwohl sie letztlich eine Sympathieträgerin ist. Ebenso wie sie sind die anderen Hauptcharaktere überzeugend herausgearbeitet.

Klare Leseempfehlung für Leser:innen, die sich auf das Thema einlassen mögen und sich von düsteren Szenarien nicht abschrecken lassen.

Bewertung vom 26.05.2024
Wo die Asche blüht
Que Mai, Nguyen, Phan

Wo die Asche blüht


ausgezeichnet

Berührender Roman zu einem viel zu wenig bekannten Thema

Nach dem berührenden und sprachlich überzeugenden Roman "Der Gesang der Berge" widmet sich die Autorin in ihrem neuen Roman dem bisher wenig beachteten Schicksal der Amerasier.
So werden die Kinder genannt, die während des Vietnamkrieges gezeugt wurden und deren Väter in Vietnam stationierte GIs waren. Meist handelte es sich bei den jungen Müttern um arme Vietnamesinnen, die aus materieller Not zur Prostitution gezwungen waren, gelegentlich entstammten die Kinder aber auch Liebesbeziehungen.
Viele dieser Kinder wuchsen in Waisenhäusern auf und wurden wegen ihrer Herkunft geächtet, insbesondere wenn die Hautfarbe sie als Kinder schwarzer GIs auswies. Aus diesem Grund versuchten viele, Vietnam zu verlassen und in den USA ein vermeintlich besseres Leben zu führen. Allerdings mussten sie dazu einen Abstammungsnachweis erbringen, was ihnen kaum möglich war.

Vor diesem realen Hintergrund erzählt der vorliegende Roman auf zwei Zeitebenen die fiktive Geschichte von mehreren Personen, deren Leben auf tragische Weise durch den Vietnamkrieg geprägt wurden.
Da sind die Schwestern Trang und Quynh, die noch Teenager sind, als der Krieg und die Armut sie zwingen, in Saigon als Barmädchen zu arbeiten und sie erkennen müssen, was das tatsächlich heißt.
Da ist der unter PTBS leidende ehemalige Hubschrauberpilot Dan, der im Jahr 2016 mit seiner amerikanischen Ehefrau nach Vietnam zurückkehrt, allerdings ohne ihr von seiner damaligen Geliebten erzählt zu haben.
Und da ist Phong, der als Amerasier in einem Waisenhaus aufwuchs und es als Kind eines schwarzen GIs noch schwerer hat. Inzwischen selbst Vater, versucht er für sich und seine Famile ein Visum für die USA zu bekommen und scheitert an den Vorgaben.
Die Geschichte dieser so unterschiedlichen Menschen, deren Wege sich im Laufe des Romans kreuzen, weist auf die tragischen Folgen eines Krieges hin, über die viel zu wenig berichtet wird. Letzten Endes sind immer Kinder die Leidtragenden, die im Laufe eines Krieges vom sogenannten Feind gezeugt wurden. Aber eben auch die Zivilbevölkerung und die meist jungen Soldat:innen, die für den Rest ihres Lebens mit den schrecklichen Erlebnissen klarkommen müssen.

Ein absolut lesenswerter Roman und empfehlenswerter Einstieg in das Thema.

Bewertung vom 17.04.2024
Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1
Nore, Aslak

Meeresfriedhof / Die Falck Saga Bd.1


ausgezeichnet

Überzeugende Verknüpfung von realen Geschehnissen und Fiktion
Die Erfolgsgeschichte der einflussreichen norwegischen Reederfamilie Falck reicht weit in die Vergangenheit zurück und hätte mit dem Tod des Reeders Thor Store Falck 1940 enden können. Damals sank das Hurtigrutenschiff nach einer Explosion, auf dem der Reeder mit seiner zweiten Frau Vera Lind und dem kürzlich geborenen Sohn Olav reiste. Viele Passagiere, darunter etliche deutsche Soldaten, überlebten das Unglück ebenso wie der Reeder nicht.
75 Jahre später ist Olav Falck immer noch aktiv im Vorstand von SAGA, einer humanitären Stiftung, in der auch eines seiner drei Kinder, Alexandra, eine Führungsposition einnimmt. Sie hat die engste Beziehung zu der hochbetagten Großmutter. Aber da gibt es auch noch Hans, den Enkel von Thor Store Falck aus seiner ersten Ehe. Er hat einen ganz anderen Karriereweg eingeschlagen und arbeitet als Arzt überwiegend in Krisengebieten. In dieser Funktion hat er es zwar zu Ruhm gebracht, der Reichtum der Falckdynastie ist ihm und seinen Kindern aber verwehrt geblieben.
Als die Schriftstellerin Vera Lind stirbt, ist ihr Testament nicht auffindbar. Die gegensätzlichen Interessen der beiden Familienzweige prallen aufeinander, aber auch innerhalb Olavs Familie tun sich Gräben auf.

Aslak Nore hat im ersten Band der Trilogie viele verschiedene Themenbereiche miteinander verflochten. Es geht nicht nur um Intrigen, Machtstreben und Missgunst innerhalb einer Familie. Einflussnahme in internationalen Krisenherden, glaubwürdig beschriebene militärische Einsätze und Manipulationen sind ebenso Thema wie die psychischen Beschädigungen, die diese Erfahrungen bei den Menschen anrichten. Die historischen und aktuellen politischen Hintergründe, die dem Roman zugrundeliegen, sind beeindruckend beschrieben.

Zu Anfang sind die Charaktere etwas schwer einzuordnen, da ist der vorangestellte Stammbaum der Falck-Familie eine sinnvolle Hilfe, die sich aber schnell erübrigt. Es gibt keine eindeutigen Sympathieträger, die über die gesamte Länge des Romans die Rolle einnehmen könnten. Dafür sind die Hauptprotagonisten viel zu facettenreich gezeichnet. Ebenso überzeugend sind die diversen Beschreibungen der Handlungsorte.

Trotz der Komplexität und der stellenweise recht schwer zu ertragenden Beschreibungen lässt sich der Roman aufgrund des flüssigen und dem jeweiligen Inhalt gut angepassten Schreibstils gut lesen. Die häufigen Perspektiv- und Ortswechsel erfordern ein bisschen Konzentration, erhöhen aber auch die Spannung. Gleichzeitig lockern sie bedrückende Szenen auch wieder auf.

Auch wenn man noch lange auf die Fortsetzung warten muss, Meeresfriedhof verdient eine klare Leseempfehlung für Leser:innen, die sich auf diese Art von Romanen einlassen wollen.

Bewertung vom 11.04.2024
Lichtjahre im Dunkel
Ani, Friedrich

Lichtjahre im Dunkel


ausgezeichnet

Ein gelungener Roman für Fans von Friedrich Ani
Das Schreibwarengeschäft von Viola Ahorn und ihrem Ehemann Leo hat schon bessere Zeiten gesehen. Das gilt auch für deren Ehe. Als Leo nach einem Besuch seiner Stammkneipe nicht nach Hause kommt, beauftragt seine Ehefrau erst nach fünf Tagen eine Detektei mit Nachforschungen, verzichtet aber auf eine Vermisstenanzeige bei der Polizei. Der ehemalige Polizist Tabor Süden beginnt auf seine ganz eigene, gewöhnungsbedürftige Art mit der Spurensuche. Als Leos Leiche gefunden wird, kreuzen sich die Wege von Tabor Süden und seiner ehemaligen Kollegin Fariza Nazri erneut, die jetzt für die Ermittlungen zuständig ist.

Friedrich Ani bleibt auch in dem neuesten Fall für Tabor Süden seinem gewohnten Schreibstil mit seinen ganz speziellen Wortschöpfungen treu: etwas sperrig und das Erzähltempo ist ausgesprochen entschleunigt. Die meisten Charaktere sind in irgendeiner Weise beschädigt und nicht sonderlich sympathisch. Hinter der Fassade verbergen sich Untiefen. Trotzdem entwickelt man ein gewisses Mitgefühl mit ihnen. Melancholie ist der treffendste Begriff für die über allem liegende Stimmung.

Auch dieser Roman um Tabor Süden wird polarisieren. Es handelt sich um keinen klassischen, auf Spannung, rasantes Tempo und fulminantem Finale angelegten Kriminalroman. Stattdessen bekommen Leser:innen einen anspruchsvollen literarischen Roman, in dem es auch um eine Ermittlung geht, die Aufklärung aber letzten Endes gar nicht so bedeutsam ist.
Wer sich darauf einlassen mag, für den ist Lichtjahre im Dunkel absolut empfehlenswert. Alle anderen werden vermutlich enttäuscht sein.