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amara5

Bewertungen

Insgesamt 124 Bewertungen
Bewertung vom 08.12.2024
Unversehrt. Frauen und Schmerz
Biringer, Eva

Unversehrt. Frauen und Schmerz


sehr gut

Die verletzte Frau
Die Journalistin Eva Biringer gibt in ihrem essayistischen Sachbuch „Unversehrt“ den Schmerz ihrer Großmutter, ihrem eigenen, aber vor allem den Frauen an sich eine profund recherchierte und bewegende Stimme zum Thema Schmerz – dabei wird beim eindringlichen Lesen klar, dass die Geschichte des weiblichen Schmerzes bis heute von vielen Verletzungen und patriarchalischem Übergehen geprägt ist. Unversehrt und ernst genommen bleiben die wenigsten Frauen – eher werden sie in die psychosomatische (früher gar hysterische) Schublade gesteckt, bevor eventuell nach vielen Jahren eine weiterführende, ärztliche Diagnostik erfolgt.

Mit der persönlichen Geschichte der schmerzgeplagten und mit Benzodiazepinen ruhig gestellten Großmutter beginnt das packende Buch und sie dient auch als roter Faden – daneben spannt Eva Biringer einen weiten, lehrreichen Bogen um die Betrachtung des Phänomens Schmerz aus gesellschaftlicher, kultureller, wissenschaftlicher Sicht und sogar im kunsthistorischen Kontext: Von der leidenden Maria Mutter Gottes bis hin zur Performancekünstlerin Marina Abramović.

Strukturiert und klar im sprachlichen Ausdruck arbeitet die Autorin mit vielen Quellen, Studien und Verweisen auf andere Autor*innen, welche am Ende im umfangreichen Anhang aufgelistet werden. So dienen beispielsweise die essayistischen Schriftstellerinnen Elinor Cleghorn und Leslie Jamison als Vorbilder und Verfasser wichtiger Werke in diesen Themengebieten.

Die Vielzahl an Betrachtungsweisen, Themen und Reflexionen packt Biringer in eine flüssig-unterhaltsame Sprache – stellenweise ist diese wütend, humorvoll oder einfach analystisch, aber immer intensiv, feministisch und scharfsinnig.

„Unversehrt“ ist eine kluge, gesellschaftskritische Analyse und macht am Ende nachdenklich bis wütend. Überfällig und sehr lesenswert!

Bewertung vom 13.10.2024
Antichristie
Sanyal, Mithu

Antichristie


sehr gut

Komplexe Zeitreise
In Mithu Sanyals neuem vielschichtigen und Buchpreis nominierten Roman „Antichristie“ wird mit zahlreichen Dialogen und Diskursen die Kolonialisierung Indiens durch die Engländer sowie die Auswirkungen in der Gegenwart auf allen Seiten beleuchtet – dabei geht es humorvoll, diskussionsfreudig sowie zeitübergreifend zu.

Die 50jährige, deutsch-indische Drehbuchautorin Durga will im Jahr 2022 die Asche ihrer Mutter Lila, die zeitlebens ihr Leben dem indischen Befreiungskampf verschrieben hat, verstreuen, als der Wind sie wieder zurückweht und knirschend zwischen ihren Zähnen landet. Noch in diesem Augenblick spricht sie sich mit dem Drehbuchkollektiv in London ab – ein Agatha-Christie-Film soll politisch korrekt umgeschrieben werden. Durga reist nach London und erlebt den Tod der Queen Elizabeth, während die Crew eine geeignete PoC-Person des Detektivs Poirot sucht und heiß über das postkoloniale Drehbuchschreiben diskutiert.

Auf einer zweiten Zeitebene wird Durga magisch als junger Mann in das Jahr 1906 katapultiert und erlebt im India House hautnah den gewaltvollen indischen Widerstands gegen die britische Kolonialmacht: Zwischen den Revolutionären Mahatma Gandhi sowie seinen weniger bekannten Kontrahenten tobt ein bitterer Kampf, der am Ende einen Toten fordert und Sherlock-Holmes-mäßig aufgeklärt werden muss.

Mithu Sanyal packt eine lehrreich-unterhaltsame Mixtur an Diskursen und Spielorten in ihren 500-Seiten starken Roman – ein ausführliches Personenregister schafft den nötigen Überblick und das Nachwort zeugt von einer immensen Recherchearbeit der realhistorischen Personen. Und doch wirkt der Plot mit seinen facettenreichen Erzählsträngen voller Bezüge und Verweisen stellenweise überfrachtet und der Erzählstil leicht belehrend-didaktisch. Sanyals Stärke liegt darin, immer wieder schwarzen Humor und erhellenden Witz aufblitzen zu lassen, damit die unterhaltsam-sprudelnde Lehrstunde über Kolonialismus, Erinnerung und Geschichtsschreibung trotzdem lesenswert bleibt und der zeitgenössische Roman in seiner Gänze sehr außergewöhnlich und einfallsreich geworden ist.

Bewertung vom 01.10.2024
Die vorletzte Frau
Oskamp, Katja

Die vorletzte Frau


sehr gut

Ein ungleiches Paar
Die Autorin Katja Oskamp schöpft in ihrem neuen lesenswerten Roman „Die vorletzte Frau“ autobiografisch geprägt aus ihrem eigenen Leben – ehrlich, schonungslos und intensiv beschreibt sie in fünf pointierten Kapiteln ihre 19 Jahre währende Liebe zu ihrem Lebensmenschen Tosch, dem berühmten, vielfach ausgezeichneten Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann.

Die Ich-Erzählerin und junge Mutter von Tochter Paula steckt in einer kaputten Ehe mit einem selbstverliebten Generalmusikdirektor, putzt sich zwanghaft die Zerrissenheit vom Leib und besucht wöchentlich eine Psychoanalytikerin, als sie im Literaturinstitut auf ihren 19 Jahre älteren Dozenten Tosch und ihre große Liebe trifft – auch er steckt in einer unglücklichen Beziehung und beide erleben ein sexuelles Erwachen, das Oskamp eindringlich schildert. Auch intellektuell inspirieren sich die beiden, tauschen sich tiefgehend über Literatur und das Schreiben aus, beschließen einen Zumutungspakt und verbringen von nun an ihr Leben mit „Sex und Text“ am Wochenende zusammen. Doch Tosch ist nicht nur wichtiger Mentor und Lektor, er ist auch freiheitsliebend, hat dominante Seiten und erkrankt später schwer an Prostatakrebs – ein noch stärkeres Ungleichgewicht entsteht, als Oskamp mehr und mehr zur Pflegerin ihres Mannes wird und sich selbst verliert.

Die Krankheit und ihre Auswirkungen auf den Alltag seziert Oskamp unbeschönigt sowie en détail und mutet ihren Leser*innen dabei viel zu – auf der anderen Seite versteht sie es auch, Humor sowie Lebensweisheit miteinzubinden und den Text flüssig-unterhaltsam zu halten. Bewegend erzählt sie von ihrem persönlichen Wendepunkt, als das pendelnde Dreieck Mutterschaft, Schreiben und Liebe langsam in sich zusammenbricht: Paula geht selbstständig ihren Weg und eine tiefe Schreibblockade taucht auf. Oskamp wird Fußpflegerin in Berlin, schreibt bittersüße Kolumnen über ihre Kundschaft und legt den Startschuss für ihren späteren erfolgreichen Roman „Marzahn, mon amour“.

Das Aufflammen und Abbrennen einer großen Liebe, eine lebensbedrohliche Krankheit mit ihren Zumutungen, der Weg einer unterwürfigen Frau zur selbstbewussten Schriftstellerin – ergreifend, selbstironisch und mit viel mutig-explizitem Klartext, der unter die Haut geht, stülpt Katja Oskamp offenherzig ihr Innerstes nach Außen und erzeugt viele intensive, lebensnahe Momente, die länger in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 29.08.2024
Glück
Thomae, Jackie

Glück


sehr gut

Formen der Zufriedenheit
Die Bestseller-Autorin Jackie Thomae erkundet mit ihrem neuen gelungenen Roman „Glück“ auf vielschichtige Weise die Frage, ob eine Frau auch ohne Kind ein zufriedenes, glückliches Leben führen kann. Dabei taucht sie tief in die Gedanken- und Gefühlswelten ihrer zwei weiblichen Protagonistinnen aus Berlin, die beide selbstbewusst im Leben stehen und dennoch mit dem tiefgreifenden Zweifel hadern, ob sie noch Kinder möchten. Kommt dieser Druck von Außen oder der inneren Stimme und was bedeutet für den Einzelnen Glück?

Marie-Claire (MC) Sturm ist Radiomoderatorin und Podcasterin, Ende Dreißig, Single und eigentlich zufrieden mit ihrem Leben – trotzdem schleicht sich immer wieder ein Schmerz in ihr Leben, der sie in kritisierenden Gedankenspiralen drängt: Möchte ich ein Kind? Anhand ihres Alltags, ihren Reflexionen und Charakteren aus ihrem Bekanntenkreis sowie ihrer Frauenärztin, die eine Pille zur längeren Fruchtbarkeit verspricht, gelingt Jackie Thomae ein eindringliches Porträt einer modernen Frau und ihrer Kinderfrage. Dabei verwebt sie noch die Biografie von Anahita Martini, einer erfolgreichen Politikerin und Familiensenatorin, die an der selben existenziellen Wegegabelung in der Mitte des Lebens steht und auf Marie-Claire trifft. Auch in ihr Leben und ihren Wünschen gibt die Autorin einen feinfühligen Einblick und spickt die beiden Lebensläufe noch mit anderen weiblichen Perspektiven aus dem näheren Umfeld.

Erfrischend, authentisch und humorvoll-scharfsinnig stellt die Autorin Frauen vor, die der biologischen tickenden Uhr gegenüberstehen und eröffnet gleichzeitig klug ein Panorama an Facetten, warum Frauen keine Kinder bekommen möchten oder eben doch – während Männern eine erheblich längere Spanne zur Reproduktionsfähigkeit zusteht. Unterhaltsam, tiefgründig und pointiert erörtert sie anhand ihrer weiblichen Figuren gesellschaftliche Normen, innere Glaubenssätze und vielschichtige Emotionen rund um die Kinderfrage. Ein lesenswerter Roman mit viel zeitgenössischen Themen, die Thomae lässig, präzise und erzählfreudig verbindet.

Bewertung vom 08.08.2024
Reise nach Laredo
Geiger, Arno

Reise nach Laredo


gut

Neue Wege
In seinem neuen Roman „Reise nach Laredo“ schildert Bestseller-Autor Arno Geiger eine unterhaltsame Abenteuerreise im Jahre 1558 – ein kranker, abgedankter König von Spanien und Kaiser des Heiligen Römischen Reiches begibt sich mit seinem unehelichen Sohn auf seine letzte Reise voller Einsichten, Reflexionen und Turbulenzen.

Karl V. war einst mächtiger König, doch nun liegt er schwerkrank in dem Kloster Yuste und wird von einem Heer an Bediensteten gepflegt. Sein inneres Hadern sowie sein äußerer Verfall arbeitet Arno Geiger sehr plastisch und eindrücklich auf – zweifelnde Gedanken treffen auf einen schmerzenden, alten Körper. Als der elfjährige Geronimo ihn überredet, nach Laredo loszureiten, begegnen sie à la Don Quijote und Paulo Coelho vielen Weggefährten mit unterschiedlichen Ansichten und Problemen.

Die Geschichte mit vielen, kleinen Untergedanken und schönen Metaphern ist sehr poetisch, plastisch und unterhaltsam geschrieben – ernste Aspekte zu dieser Zeit vermischen sich mit Humor und Situationskomik. Bis die kleine Gruppe in Laredo eintrifft, gibt es einige Zwischenfälle zu meistern und Karl beginnt anders auf sein bisheriges Leben zu blicken. Hierbei sticht Geigers Beobachtungsgabe zu Tage – messerscharf und detailliert fängt er die Atmosphäre und Örtlichkeiten zu der damaligen Zeit ein und vermischt sie mit philosophisch angehauchten Betrachtungen.

An sich eine flüssig geschriebene, lesenswerte Geschichte mit überraschendem Ende und schönen Gedanken zu den existenziellen Lebensfragen, die jedoch kleinere Längen aufweist und vom Tiefgang nicht ganz so überzeugen konnte wie Arno Geigers fabelhafte Vorgänger.

Bewertung vom 23.07.2024
Das Pfauengemälde
Bidian, Maria

Das Pfauengemälde


sehr gut

Filter der Erinnerung
Die junge Autorin Maria Bidian schickt in ihrem lesenswerten Debüt „Das Pfauengemälde“ ihre Protagonistin Ana nach Rumänien, in die Heimat ihres Vaters, um ein ehemals enteignetes Haus wieder in Familienbesitz zu nehmen und vor allem, um bewegend ihre eigene Identität und Erinnerungen neu zusammenzusetzen.

Ana hat den plötzlichen Tod ihres Vaters Nicu vor zwei Jahren noch nicht richtig verkraftet und hat mit inneren Unruhezuständen zu kämpfen – als letztes hat er ein sagenumwobenes Pfauengemälde aus dem Familienbesitz gesucht, aber nicht gefunden. Damals hatte Ana kein Interesse ihm zu helfen, heute reist sie nach Rumänien zu ihren vielen Verwandten und sieht das Land nun mit anderen Augen durch den Filter ihrer Erinnerungen und Geschichten. Gemeinsam erledigen sie turbulente Behördengänge, durchforsten das wiedererhaltene Haus und gehen auf eine krimihafte Suche nach dem mysteriösen Gemälde. Wie das Land ist Ana hin- und hergerissen zwischen Vergangenheit und Zukunft, alten und neuen Geschichten an den Orten ihrer Kindheit und sucht noch nach ihrer Verwurzelung im Leben und nach den vielen Gesichtern ihres verstorbenen Vaters.

Humorvoll und doch mit Tiefgang und Liebe zu Details, Geschichten und Menschen ist Maria Bidian ein emotionales, unterhaltsames und flüssig geschriebenes Debüt gelungen, das splitterhaft und feinfühlig die vielen Facetten der rumänischen Geschichte zwischen der Ceauşescu-Diktatur bis zur Moderne auffängt. Dabei kreiert Bidian wundervoll-poetische Sprachbilder, die das seelische Befinden der Protagonistin sowie Land und Leute präzise einfangen und webt rumänische Dichtungen sowie Sprache in die Erzählung mit vielen liebevollen Charakteren mitein. Feinfühlig schildert Bidian die innere und äußere Reise von Ana, die packend und traurig-schön ihre eigene Geschichte und die vielen Geschichten ihrer Familie in einem gespaltenen Land neu zusammenfügt und sich ihrer Trauer stellt. Ein tolles Debüt.

Bewertung vom 04.07.2024
Mitte des Lebens
Bleisch, Barbara

Mitte des Lebens


sehr gut

Landkarte des Lebens
Die Schweizer Autorin und Philosophin Barbara Bleisch ergründet in ihrem klugen Sachbuch „Mitte des Lebens“ die verschiedenen Facetten und Richtungen in der Lebensmitte eines Menschen. Dabei ist kein Ratgeberbuch entstanden, sondern eine pointierte philosophische Betrachtung, welche Wegegabelungen, Krisen und Chancen auftreten können.

Dabei betrachtet Bleisch das Leben als eine Art Topografie, eine Landschaftskarte mit Hochplateaus oder Tälern, abgeschnittenen Wegen und Pfade, die noch eingeschlagen werden können. Unterteilt in sieben Kapiteln nähert sich die Autorin tiefgründig und essayistisch verschiedenen Turbulenzen, existenziellen Fragen und Neuausrichtungen in der Lebensmitte: Die Einsicht, dass die Hälfte des Lebens vorbei ist und die eigene Sterblichkeit bewusster werden kann, die Rückschau, die manchmal in Reue und Bedauern, aber auch Dankbarkeit ausfallen kann und dass alles von einer Ambivalenz umwoben ist und die Frage, ob der eingeschlagene Weg passt oder eine andere Ausrichtung besser zur Biografie und neuer Lebensfülle passt.

Pointiert und garniert mit vielen (im langen Anhang erläuterten) Zitaten sowie Schicksalen bekannter Dichter, Denker und Autoren gelingt es Bleisch, dass ihr packendes Buch über die mittlere Lebensphase nie langweilig wird, sondern immer weitere erhellend-spannende Reflexionen spannt, die zum Nachdenken animieren. Ein empfehlenswertes Buch, das immer wieder aufgeschlagen werden kann, um in Bleischs faszinierender Kartografie der mittleren Jahre abzutauchen und für sich selbst den aktuellen Standort in der Landkarte des Lebens zu ergründen.

Bewertung vom 04.06.2024
Vor einem großen Walde
Vardiashvili, Leo

Vor einem großen Walde


gut

Spur der Brotkrumen

Der britische Autor Leo Vardiashvili hat mit „Vor einem großen Walde“ eine abenteuerliche Familiengeschichte in Georgien mit vielen märchenhaften Elementen verwoben – wie die Brotkrumen bei Hänsel und Gretel verfolgt ein Sohn auf seiner turbulenten Suche nach Vater und Bruder mysteriösen Spuren und erlebt skurrile sowie bewegende Situationen in einem gespaltenen Land.

Hauptakteur und Ich-Erzähler Saba ist 1992 mit seinem Vater Irakli und Bruder Sandro aus Georgien vor dem Bürgerkrieg nach England geflohen – Mutter Eka musste zurückbleiben. Sie kommen einigermaßen zurecht, als auf einmal der Vater fast 20 Jahre später zurück in das Heimatland geht und nur die Warnung hinterlässt, dass ihm niemand folgen soll. Doch Bruder Sandro tut genau dies und von beiden verliert sich mysteriös jede Spur – Saba steht vor einem Rätsel und beschließt, es zu lösen. In Tbilissi erhält er Unterstützung von dem unerschütterlichen und gastfreundlichen Taxifahrer Nodar, der ihn kreuz und quer durchs Land und in die dunklen Ecken Tbilissis auf der atemlosen Schnitzeljagd begleitet – den Weg leiten verschlüsselte Graffiti-Hinweise des von der Polizei verfolgten Bruders und Stimmen aus dem Jenseits von Sabas verstorbenen Verwandten.

Als sie an dem großen Wald ankommen, der die Grenze zum von Russland besetzten Südossetien aufzeigt, entwirft Leo Vardiashvili einen rasanten Spannungsbogen, der Fantasie und Wirklichkeit packend verschmelzen lässt sowie traumatische Kriegsereignisse zu Tage bringt. Die Abenteuergeschichte ist sehr flüssig-unterhaltsam sowie humorvoll geschrieben, bleibt aber bei politisch prekären Konflikten in Georgien an der Oberfläche – Vardiashvilis Fokus in seinem lesenswerten Debüt liegt auf den Menschen sowie deren Geschichten, Charakteren und Zusammenhalt, wenn Vieles auseinanderbricht. Und dabei verknüpft er gekonnt Märchen mit den gewaltvollen Auswirkungen von Flucht und Krieg.

Bewertung vom 26.04.2024
Mit den Jahren
Steenfatt, Janna

Mit den Jahren


sehr gut

Episoden eines Lebens
Janna Steenfatt beschreibt in ihrem zweiten Roman „Mit den Jahren” auf feinfühlig-kluge Weise die verschiedenen Lebensentwürfe und intimen Augenblicke dreier Menschen in ihren 40er-Jahren in Leipzig. Dabei verweben sich ihre Wege und es bildet sich eine spannende Dreier-Konstellation, bei der unterschiedlichste Ängste, Wünsche und Vorprägungen intensiv aufeinanderprallen.

Der Künstler Lukuas und die Lehrerin Eva sind seit knapp 20 Jahren ein Paar, verheiratet, haben zwei Kinder und haben sich in ihrem Leben soweit eingerichtet – trotzdem ist ihr Zusammensein von stiller Einsamkeit, unerfüllten Sehnsüchten und Unausgesprochenem belastet. Lukas verbringt neben seiner Arbeit im Atelier zu Evas Missgunst viel Zeit in seiner Lieblingskneipe und trifft dort auf die unabhängige Jette – sie ist Single, hat prekäre Arbeitsverhältnisse, möchte ein Buch schreiben und steht eigentlich auf Frauen. Es entwickelt sich eine zaghafte Affäre mit Auf und Abs, aus der jeder verändert hervorgeht und die viele reflektierende Gedankengänge in jedem der drei Protagonisten lostritt – und auch Eva wird Jette kennenlernen.

Janna Steenfatt gelingt es auf eindringliche Art, in jede ihrer drei Figuren tief einzutauchen und die facettenreiche Seelenwelt aus der jeweiligen Perspektive aufzublättern – kleine, feine, aneinandergereihte Augenblicke untermalen die Zweifel und vielschichtigen Reflexionen von Lukas, Eva und Jette, während alle mit ihrem bisherigen Leben zweifeln und sich fragen, ob ein anderes nicht besser wäre. Ausbrechen oder Bleiben? Gedanken, die bestimmt viele in ihren 40er-Jahren kennen und sich wiedererkennen werden. Dabei bleibt Steenfatt stets subtil humorvoll und keineswegs larmoyant, wenn sie die Irrungen und Wirrungen ihrer dicht ausgearbeiteten Protagonisten nachzeichnet.

Ein realitätsnaher, authentischer und lesenswerter Roman mit vielen schlauen Gedanken und eindringlichen Szenen aus dem (Beziehungs-) und (Arbeits-)Leben, das gekonnt und faszinierend mit den individuellen Lebenskonzepten jongliert.

Bewertung vom 03.04.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

Echo der Vorfahren
Mirrianne Mahns eindringlicher Debütroman „Issa“ spannt einen weiten, generationsübergreifenden Bogen um starke Frauen aus Kamerun und einer jungen Protagonistin aus Deutschland, die zwischen den Kulturen hin und hergerissen ist und trotzdem sehr feinfühlig den Ruf ihrer Ahninnen hört und folgt. Dabei taucht sie szenisch dicht nicht nur in Kameruns Geschichte und Kultur, sondern auch in familiäre Traumata, aber auch in eine kraftvolle Resilienz, die ihre Wurzeln im weiblichen Zusammenhalt hat.

Die schwangere Issa hat ein kompliziertes Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrem Freund – sehr angespannt sitzt sie zu Beginn des Romans im Flugzeug nach Kamerun, um ihrer Mutter den Wunsch zu erfüllen, das ungeborene Kind durch ein Ritual zu schützen. Zwar hat sie die ersten Jahre ihres Lebens dort verbracht, spricht aber die Sprache nicht vollständig und ist erstmal überwältigt von der Anzahl ihrer Verwandten und deren kulturellen Glaubenssätzen. Es stehen noch einige Hürden bis zum Vollzug des Rituals an und Issa taucht tief in die Welt ihrer mutigen Ahninnen ein. Dabei verwebt Mirrianne Mahn eine kluge, bewegende zweite Erzählebene, in der sie atmosphärisch in die gewaltvolle Kolonialzeit eintaucht, um das packende Schicksal ihrer Urgroßmutter und deren Mutter zu erzählen. Fließend und über eine Zeitspanne von fast 100 Jahren folgen die weiteren turbulenten Lebenslinien ihrer Großmutter und Mutter, die Issa auch in sich erkennt.

So wechseln die lebhaften, teils humorvollen Szenen aus Issas Reise nach Kamerun mit ergreifenden Szenen aus der Vergangenheit, in der die Frauen um ihre Selbstbestimmtheit mehr als kämpfen und viel Leid ertragen mussten. Präzise ist dabei auch der Übergang gelungen, wie die Rituale und Spiritualität weitergegeben wurden bis in die Gegenwart und wie die Vorfahren das Heute weiter beeinflussen. Und Issa beginnt sich auf ihrer Reise zu verändern, blickt tief in ihre zerrissene Seele und in die ihrer weiblichen Vorgängerinnen, die trotz schmerzvoller Erlebnisse nie ihren Lebensmut und Willensstärke verloren haben.

Ein außergewöhnlicher, kraftvoller und tiefgründiger Familienroman, der soghaft in Issas bewegende Selbsterkundung und gleichzeitig in andere kulturelle und historische Kontexte entführt, ohne wichtige Themen der Gegenwart zu verlieren.