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Top-Rezensenten Übersicht

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si_liest
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Lörrach

Bewertungen

Insgesamt 43 Bewertungen
Bewertung vom 31.01.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


ausgezeichnet

Beim Lesen von „Nachbarn“, einer Sammlung von vierzehn Kurzgeschichten der viel zu früh verstorbenen US-amerikanischen Autorin Diane Oliver (1943-1966), musste ich immer wieder daran denken, wie überraschend und bereichernd es doch ist, Autor*innen (wieder) zu entdecken und neue Sichtweisen oder neue Aspekte eines Themas aufgezeigt zu bekommen und so vergessene, aber immer wiederkehrende Themen auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Mich hat besonders der Scharfsinn dieser Geschichten begeistert, sind die Figuren, obwohl sie in den äußeren Umständen gefangen sind, doch oft im Denken ihrer Zeit voraus. Man bekommt Einblicke in die Anfangszeit der Bürgerrechtsbewegung, die zwar schon von einem Umbruch geprägt war, in der aber Rassentrennung und Unterdrückung noch an der Tagesordnung waren. Einige der Geschichten sind für mich von tiefster Hoffnungslosigkeit geprägt; die erschreckende Armut, der tägliche Überlebenskampf der Frauen und Kinder, die von den Männern, welche sich vermeintlich in den Norden „davongemacht“ haben, alleine gelassen wurden, zeigen die vermutlich häufig vorkommende bittere Realität in den 1960er Jahren in den Südstaaten der USA. Dann gibt es aber auch immer wieder Geschichten, die Hoffnung machen, wie zum Beispiel „Banago kalt“, in der mit einem Augenzwinkern von einem Aufenthalt dreier amerikanischer Mädchen bei einer Schweizer Gastfamilie berichtet wird. Diane Oliver zeigt die Vielfalt ihrer Gedanken und Beobachtungen auch mit ihrem Schreibstil, wenn sie ihren Geschichten einen surrealen Charakter gibt („Kein Service hier“) oder mit Sprache experimentiert („Gefrorene Stimmen“). Man wird bei der Lektüre auf jeden Fall mit einer Vielzahl an Gefühlen und Einsichten – gerade auch, was die Aktualität betrifft - konfrontiert und ich bin dankbar, dass diese starke, außergewöhnliche und mutige Stimme wiederentdeckt wurde.

Bewertung vom 29.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Wer die Bücher von Alex Schulman kennt, der*die weiß, dass er es versteht, eine Vielzahl an Emotionen und Gefühlen bei den Leser*innen zu wecken und dass seine Romane noch eine Zeitlang im Kopf und in den Gedanken bleiben. Auch „Endstation Malma“ habe ich fast in einem Rutsch gelesen, weil ich das Buch fast nicht mehr aus der Hand legen konnte, so spannend, empathisch, aber auch schmerzhaft fand ich die Lektüre.
Drei Personen, drei Perspektiven, drei Zeiten, ein Ziel: der (fiktive?) Bahnhof Malma, einige Stunden von Stockholm entfernt. Zuerst scheinen die Personen keinerlei Verbindung zueinander zu haben, bis dann auf einmal klar wird, dass hier die Verletzungen einer Familie über Generationen dargelegt werden. Was zuerst noch sehr vage scheint und nur fragmentarisch erzählt wird, wird mit der Zeit – und quasi mit den zurückgelegten Kilometern – immer klarer, bis sich dann am Ende ein vollständiges Bild dieser traumatischen Familienkonstellationen und deren Auswirkungen bis in die heutige Zeit ergibt.
Wie schon erwähnt habe ich das Buch regelrecht inhaliert. Die wechselnden Perspektiven und der stetige Aufbau von Spannung haben mich Seite um Seite weiterlesen lassen. Alex Schulman zeichnet hier das Bild einer Familie, in der sich sicher viele Menschen meiner Generation (in den 80ern geboren) zumindest in Teilen wiedererkennen können; viele Themen sind mir nur allzu gut bekannt. So wird aufgezeigt, wie sich transgenerationale Traumata durch die einzelnen Biographien ziehen. Es geht unter anderem um Sprachlosigkeit, emotionale Taubheit, Wut, die Unfähigkeit, Liebe auszudrücken, emotionale Unreife, emotionales Essen und die lebenslange Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Der Autor legt den Finger tief in die Wunde, bleibt dabei aber immer sehr empathisch und wertet nicht. Mich hat vieles beim Lesen sehr berührt und gerade den Schluss fand ich sehr stimmig, hoffnungsvoll und tröstend.
Eine emotional durchrüttelnde, aber auf jeden Fall lohnenswerte Lektüre.

Bewertung vom 22.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


ausgezeichnet

„Wie geht es dir eigentlich?“ – diese Frage spielt im Roman „Diamantnächte“ der norwegischen Autorin Hilde Rød-Larsen eine zentrale Rolle, ist es doch die Frage, die uns im Laufe unseres Lebens relativ häufig gestellt wird und die wir uns selbst auch häufiger stellen sollten, die jedoch oft unwahrheitsgemäß und oberflächlich beantwortet wird. Wie kaum eine andere Frage drückt sie den Wunsch aus, den anderen zu sehen und selbst gesehen zu werden, die Möglichkeit, tiefer zu gehen und hinter die Fassade zu blicken.
Diesen Wunsch, sich selbst zu sehen, den Dingen auf den Grund zu gehen, hat auch Agnete. Als ihre Haare beginnen, büschelweise auszugehen – und das schon zum dritten Mal in ihrem Leben -, erkennt sie, dass es Zeit ist, die Ursache für ihren Haarverlust zu suchen. Was in ihrem Leben muss sie loslassen? Als ihr Ehemann für längere Zeit verreist, nutzt sie diese Zeit, um sich intensiv mit sich selbst und mit ihrer Vergangenheit zu beschäftigen. Durch die Zeit mäandernd und fragmentarisch deckt sie Stück für Stück auf, welche Ereignisse in der Vergangenheit zu ihrem Ist-Zustand geführt haben. Dabei spielen vor allem Kontrolle und Kontrollverlust, Selbstbetrug, toxische Beziehungen und Verletzlichkeit eine große Rolle.
Mich hat die Geschichte sehr berührt. Trotz des eher nüchtern-distanzierten Erzählstils, den man bei skandinavischen Romanen meiner Meinung nach häufig findet, konnte mich das Erzählte vollkommen in seinen Bann ziehen. Spannend und auch ein bisschen traurig fand ich vor allem, wie sich die Themen Kontrolle und Disziplin durch Agnetes Leben ziehen und wie diese letztendlich ihr Leben bestimmen. Ich konnte mich sehr gut in ihre Gedanken einfühlen und mich hier und da sogar wiederfinden. Die literarische Form - das fragmentarische Erzählen und das vorübergehende Wechseln in eine andere Erzählperspektive – hat dazu beigetragen, dass die Geschichte einen eigenen Sog entwickelt hat und ich das Buch nur schwer aus der Hand legen konnte.
Ich hoffe, in Zukunft noch mehr von der Autorin lesen zu können.

Bewertung vom 20.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


gut

Als Chamäleon bezeichnet sich Katha selbst gerne – an alle Situationen angepasst, sich kümmernd, bloß nicht anecken, nicht zur Last fallen. Als sie nach der Scheidung ihrer Eltern mit ihrer Mutter und der kleinen Schwester nach Dortmund zieht, scheint sich zuerst nichts an diesem überangepassten Verhalten zu ändern. Sie versucht, es allen recht zu machen, kompensiert das Verhalten der depressiven und überforderten Mutter und ist für ihre rebellische Schwester da. Erst als sie der unkonventionellen und unabhängigen Mutter ihrer Schulfreundin, Angelica, begegnet, beginnt sie nach und nach für sich selbst einzustehen und ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu beachten. Bis zu dem Tag, der für sie alles verändert und das, was sie sich aufgebaut hat, zusammenzubrechen droht…
Wie wahrscheinlich viele andere Leser*innen konnte auch ich mich in Katha wiederfinden und ihre Gedanken und Handlungen so gut nachempfinden. Dies war auch der Grund, warum ich das Buch unbedingt lesen wollte. Im Großen und Ganzen finde ich es auch sehr gut geschrieben; die Sprache ist sehr kraftvoll, modern und weckt Emotionen. Ich konnte mit Katha mitfühlen, stellenweise hat mich der Roman betroffen gemacht und berührt. Was mich persönlich jedoch etwas gestört hat, ist, dass die Entwicklung Kathas doch sehr oberflächlich geblieben ist. So wird man im letzten Teil quasi in ihr Erwachsenenleben, in das Leben nach dem schlimmen Ereignis, hineingeworfen. Gerne hätte ich noch mehr darüber erfahren, wie sie diese Jahre dazwischen verbracht hat, wie sie langsam wieder ins Leben gefunden hat; dieser Teil kam definitiv zu kurz. Und Teil II konnte mich vom Stil her leider gar nicht begeistern, obwohl er das Innenleben Kathas gut beschreibt.
Fazit: Der Roman ist meiner Meinung nach im ersten Teil sehr stark, lässt dann aber zum Ende deutlich nach. Zurück bleibt bei mir leider ein Gefühl der Unvollständigkeit.
„Fühlen und dann ein bisschen schämen ist besser als ewige Gleichgültigkeit, das denke ich heute, vielleicht dachte ich es schon damals.“ Seite 84

Bewertung vom 06.09.2023
Gewässer im Ziplock
Vowinckel, Dana

Gewässer im Ziplock


ausgezeichnet

Ich muss zugeben, dass ich das Buch, hätte ich es in der Buchhandlung gesehen, wahrscheinlich übersehen hätte, da das Cover trotz des schönen Designs doch recht unscheinbar ist und der Titel mich auf den ersten Blick auch nicht unbedingt angesprochen hätte. Leider wäre dann aber ein absolutes Highlight dieses Lesejahres an mir vorbei gegangen!
In ihrem Debütroman erzählt die Autorin Dana Vowinckel sehr gekonnt und überraschend ausgereift eine Familiengeschichte zwischen Kontinenten und Kulturen, die sich auf moderne Art und Weise mit Tradition und Glaube auseinandersetzt und die mir eine Fülle an neuen Perspektiven und Denkweisen aufgezeigt hat. Zu Beginn hatte ich etwas Bedenken, ob mir der Roman nicht zu „jugendlich“ ist, da vieles aus der Perspektive der 15-jährigen Margarita erzählt wird, aber dem war zum Glück nicht so. Beim Lesen war ich in einem richtigen Flow, was wahrscheinlich auch daran lag, dass verschiedene Orte und Perspektiven in die Handlung einfließen; das hat den Text für mich sehr abwechslungsreich und interessant gemacht.
Wie die Autorin die Zerrissenheit Margaritas zwischen den Kulturen darstellt, hat mich sehr beeindruckt. Ich habe mir oft die Frage gestellt, wer oder was eigentlich unsere Herkunft und unsere Heimat definiert. Toll und spannend fand ich auch, welch große Rolle die Sprache(n) spielt. Wie drückt man sich aus, wenn man zwischen verschiedenen Sprachen steht? Was bleibt dabei auf der Strecke?
Der Roman bietet auf jeden Fall viel Stoff zum Nachdenken und Diskutieren und ich wünsche mir, dass noch viele Leser*innen dieses wunderbare Buch entdecken.

Bewertung vom 31.08.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


gut

Ganz ehrlich: wer hat noch nie daran gedacht, sich aus Social Media zurückzuziehen, ein Digital Detox einzulegen oder einige Apps dauerhaft zu löschen? Ich spiele auf jeden Fall ab und zu mit dem Gedanken und habe einiges auch schon umgesetzt, deshalb hat mich der Klappentext des Romans sofort angesprochen und ich war sehr gespannt auf die Umsetzung des Themas.
Mila, Mitte 30, beschließt, ihre Online-Existenz Stück für Stück zu löschen und sich komplett aus dem digitalen Leben zu verabschieden. Sie möchte so dem analogen Leben, der Leere, der Langeweile, der Langsamkeit Raum geben und erhofft sich mehr Klarheit und Ruhe, ein Reset ihres Innenlebens. Je mehr sie jedoch versucht, auch die kleinsten Spuren online zu löschen, desto obsessiver wird sie und desto einsamer fühlt sie sich. Da sie zudem noch selbst gewählt arbeitslos wird und ihre Kontakte auf ein Minimum reduziert, driftet sie immer weiter weg von der Realität und droht, sich in einer Welt voller eingebildeter Gefahren zu verlieren.
An sich fand ich das Thema des Romans wirklich spannend und die Autorin hat für mich sehr eindrucksvoll aufgezeigt, wie abhängig wir und unsere Umwelt vom Internet sind, gerade auch, was das Alltagsleben angeht. Und ich kann mir auch sehr gut vorstellen, dass man irgendwann den Bezug zur Realität verliert, dass man sich nicht mehr zugehörig fühlt und nichts mehr mitbekommt, in seiner eigenen Blase lebt.
Was mir jedoch bei der Lektüre gefehlt hat, war die innere Entwicklung oder, besser gesagt, überhaupt eine Entwicklung der Protagonistin. Statt wie zu Beginn ihre Tage mit scrollen zu verbringen, schaut sie nun Filme an, kocht oder liest. Sie reflektiert ihr Verhalten kaum und gerade das hat die Lektüre für mich mit der Zeit langatmig gemacht. Im Grunde hatte Mila, ohne ihre Internet-Existenz, so gar nichts Interessantes an sich und das fand ich als Gesamtaussage etwas schade. Und den Schluss, als Mila sich in Norwegen in ihrem Wahn verliert, fand ich doch etwas überzeichnet.
Obwohl ich das Buch zeitweise spannend fand, blieb für mich am Ende ein schaler Nachgeschmack zurück und letztlich hat bei mir die Langeweile beim Lesen überwogen.

Bewertung vom 23.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


ausgezeichnet

Es sind die großen und kleinen, privaten und globalen Themen unserer Zeit, mit denen sich Paolo Giordano in seinem neuesten Buch TASMANIEN beschäftigt: Klimawandel, Terrorismus, das Verlorensein in der Lebensmitte, Zukunftsängste, persönliche Krisen und Bedrohungen, die scheinbar immer größere Ausmaße annehmen. Dabei ist nicht ganz klar, um welches Genre es sich hier handelt, sind doch die Grenzen verwischt und unscharf. Ist es nun Fiktion, Autofiktion, eine Biographie, ein Wissenschaftsroman, Gesellschaftskritik oder eine philosophische Betrachtung? Die Tatsache, dass all diese Elemente vorkommen, hat das Lesen für mich sehr interessant und abwechslungsreich gemacht.
Die Handlung des Romans beginnt rückblickend im Jahr 2015, als sich Paolo auf der Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Paris befindet - mitten in einer persönlichen Krise, als ihm klar geworden ist, dass er mit seiner Partnerin nie Kinder haben wird. Nach und nach schlittert er immer tiefer in eine bedrohliche und alles umfassende Orientierungslosigkeit; seine Welt, wie er sie bis jetzt erlebt hat, stellt sich auf den Kopf, sei es nun im Bereich der Arbeit, der Beziehungen, der Freundschaften, seiner Sexualität, seinem Glauben und seiner Werte. Wo sich festhalten, wenn die Orientierung verloren geht? Die unterschwellige Bedrohung, die während der Lektüre herrscht, wird immer wieder von den globalen Krisen befeuert. Sei es nun der Klimawandel, die immer wieder auftretenden terroristischen Anschläge oder – sehr wissenschaftlich eingewebt – die Atombombe. Und immer wieder ist da eine leise Sehnsucht spürbar, nach dem sicheren Ort, an dem es möglich ist, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.
Mir hat TASMANIEN außerordentlich gut gefallen. Wie in seinen anderen Romanen schreibt Paolo Giordano auch hier mit großer Sensibilität, Offenheit und wirft existentielle Fragen auf, die zum Nachdenken anregen. Auch die eher wissenschaftlichen Exkurse fand ich interessant und verständlich; hier merkt man, dass der Autor einen wissenschaftlichen Hintergrund hat. Ich konnte die Beweggründe des Protagonisten sehr gut nachvollziehen, was jedoch vielleicht daran liegt, dass ich im selben Alter bin. Und sehr gelungen fand ich die Metapher von Tasmanien als einem sicheren Ort, den es zu suchen lohnt.
Für mich war das Buch eine bereichernde Lektüre, die noch lange nachhallt und die in mir eine leise Sehnsucht nach meinem eigenen Tasmanien geweckt hat.

Bewertung vom 29.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


sehr gut

Wer gerne berührende und intensive Geschichten liest, die einen wahren Bezug zur jüngeren Vergangenheit haben, dem kann ich dieses Buch wärmstens empfehlen.
Immer im Wechsel zwischen der heutigen Zeit und den 50er-/60er-Jahren wird die Lebensgeschichte von Frieda erzählt. Alles beginnt damit, dass sie sich nach dem Tod ihres Mannes Louis in einem Altersheim wiederfindet. Obwohl ihr Sohn Tobias und ihre Schwiegertochter vieles dafür tun, dass sie sich wohlfühlt, will ihr dies nicht so ganz gelingen. Als sie dann auch noch hilflos mit ansehen muss, wie sich ein Falter in einem Spinnennetz verfängt (auch wenn sich das komisch anhört, aber es hat einen starken Bezug zur Vergangenheit) und sie nichts dagegen tun kann, beginnt sie, sich zu erinnern und nach und nach entfaltet sich die stille Tragödie ihres Lebens.
Beim Lesen musste ich ein paar Mal die Tränen wegblinzeln, denn der Autor schafft es wirklich gut, Atmosphäre zu erzeugen und die Gefühle und Leiden von Frieda erfahrbar zu machen. Dabei ist dies kein wuchtiger Roman; vielmehr wird auf eine stille und bedächtige Art und Weise erzählt, und genau das mag ich an dem Roman.
Die einzige Kritik, die ich anbringen kann, ist, dass mir der Schluss etwas zu schnell abgehandelt wurde. Irgendwie hat mir etwas gefehlt, um das Ende als stimmig anzusehen. Gerne hätte ich noch erfahren, wie Frieda das Ganze verarbeitet und ob sie sich mit der Vergangenheit aussöhnen kann.
Trotzdem hat mir der Roman sehr gut gefallen - und das tolle Cover darf jetzt mein Regal schmücken.

Bewertung vom 29.03.2023
Morgen und für immer
Meta, Ermal

Morgen und für immer


gut

Mit seinem Roman „Morgen und für immer“ spannt der albanisch-italienische Songwriter Ermal Meta einen Bogen vom Albanien während des Zweiten Weltkrieges über die Zeit der Diktatur unter Enver Hoxha bis in die 90er Jahre. Ich habe beim Lesen sehr viel über die Geschichte Albaniens erfahren, einem Land, welches in der zeitgenössischen Literatur leider noch ein Nischendasein fristet.
Die Geschichte beginnt 1943 in einem kleinen Bergdorf im Norden Albaniens. Kajan lebt bei seinem Großvater – seine Eltern engagieren sich im Widerstand gegen die deutschen Besatzer – als der deutsche Deserteur Cornelius bei ihnen auftaucht. Kajans Großvater gewährt ihm Unterschlupf und im Gegenzug bringt Cornelius dem Jungen Klavierspielen bei. Die Liebe zum Klavier lässt Kajan nicht mehr los, nach dem Krieg wird er ein gefeierter Pianist. Als er Elizabeta kennenlernt, scheint sein Glück perfekt. Doch Kajans Mutter, eine überzeugte Kommunistin, ist von dieser Liebe gar nicht begeistert, da Elizabetas Vater sich einst gegen das Regime ausgesprochen hat. Und so verschwindet Elizabeta plötzlich, ohne ein Wort. Für Kajan beginnt nach dem Verlust dieser großen Liebe eine abenteuerliche Zeit. Er flieht über die DDR nach Westberlin und in die USA. Aber auch dort ist sein Glück nur von kurzer Dauer und er kehrt nach vielen Jahren nach Albanien zurück. Ob er dort seine Erfüllung findet, lasse ich an dieser Stelle noch offen, um nicht zu spoilern.
Die Themen und die Darstellung der geschichtlichen Hintergründe, welche im Roman zur Sprache kommen, haben mir sehr gut gefallen. Man bekommt einen guten Eindruck von der Stimmung und den politischen Gegebenheiten in Albanien. Wie schon erwähnt, habe ich mich nie so richtig mit diesem Land beschäftigt, deshalb habe ich viel Neues gelernt. Die Schreibweise ist eher ruhig und melancholisch, was ich auch sehr angenehm fand.
Was mir allerdings die Freude am Lesen etwas getrübt hat, ist, dass ich praktisch keinen emotionalen Zugang zu den Figuren fand. Für mich blieben alle beschriebenen Personen – inklusive Kajan – seltsam blass. Wahrscheinlich lag es daran, dass auf diesen 500 Seiten wahnsinnig viel passiert, so dass meiner Meinung nach die Entwicklung und Beschreibung der einzelnen Charaktere auf der Strecke bleibt. Gegen Ende war mir die Fülle an sich überschlagenden Ereignissen fast schon zu viel, so dass die ganze Geschichte unglaubwürdig wurde. Für mich hat sich eine eher negative, triste Stimmung durch das ganze Buch gezogen und letztendlich finde ich diese Sichtweise zu einseitig und auch zu eintönig und klischeehaft.
Ich habe beim Lesen definitiv meinen Horizont erweitert, hätte mir jedoch eine ausgereiftere Charakterzeichnung gewünscht, um das Leseerlebnis perfekt zu machen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.03.2023
Ein Geist in der Kehle
Ní Ghríofa, Doireann

Ein Geist in der Kehle


ausgezeichnet

Mit der irisch-gälischen Sprache bin ich das erste Mal während eines Irland-Aufenthaltes 2003 in Kontakt gekommen. Bis dahin war mir nicht bekannt, dass diese Sprache immer noch sehr lebendig ist und durchaus von einigen (wenigen) Menschen gesprochen wird. Umso schöner fand ich es, diesen Text einer irischen Dichterin zu lesen und einige gälische Wörter zu sehen – auch wenn ich sie nicht verstehe.
Doireann Ní Ghríofa ist mit diesem Buch ein außergewöhnliches Stück Literatur gelungen, welches sich wohltuend vom Mainstream abhebt. Kategorisieren kann man den Text nicht wirklich – er ist eine Mischung zwischen biographischem Schreiben, Übersetzung und Autofiktion. Zentrales Thema ist dabei die irische Adlige und Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die im 18. Jahrhundert gelebt hat und die ein in der irischen Literaturgeschichte sehr bekanntes Klagelied auf den Tod ihres Ehemannes und Geliebten Art Ó Laoghaire geschrieben hat. Die Autorin beginnt in einer sehr intensiven Zeit, nämlich in der Zeit, in der sie mit ihren Kindern zu Hause ist und sich ihr Alltag zwischen Haushalt, Stillen und Erziehung bewegt, die Geschichte hinter diesem Klagelied zu erforschen und steigert sich mehr und mehr in eine Besessenheit hinein, welche sie kaum mehr loslässt. Sie verwebt dabei die moderne und die damalige Zeit sehr geschickt; Stück für Stück setzt sie die historischen Hintergründe zusammen, immer wieder unterbrochen von Schilderungen aus ihrem eigenen Alltag und Gedanken über ihre Verwundbarkeit und Verletzlichkeit. Es geht hauptsächlich um die Themen Mutterschaft, Partnerschaft, Elternschaft – immer wiederkehrendes Motiv ist die Milch - aber auch um die Sinnsuche im Alltag und letztendlich um Besessenheit. Die Autorin erwähnt dabei wiederholt „Dies ist ein weiblicher Text“ um zu zeigen, dass dies nur eine weibliche Art zu leben unter vielen ist, was ich sehr interessant und wichtig finde.
Mir persönlich hat das Buch wahnsinnig gut gefallen. Es ist ein lyrischer und poetischer Prosatext, ruhig und melancholisch; man merkt, dass die Autorin schon einige Lyrik-Bände veröffentlicht hat. Ich kann mir jedoch vorstellen, dass das Buch polarisiert, denn einfach so weg lesen kann man es nicht, man muss sich wirklich darauf einlassen. Dann wird man meiner Meinung nach jedoch belohnt mit einem wertvollen Leseerlebnis, bei dem sich die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auflösen.