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si_liest
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Lörrach

Bewertungen

Insgesamt 52 Bewertungen
Bewertung vom 26.02.2025
Der Gott des Waldes
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


ausgezeichnet

Die Adirondack Mountains, im Nordosten des Bundesstaates New York gelegen, sind Schauplatz dieses komplexen und sehr spannenden Romans, der als „literarischer Thriller der Spitzenklasse“ auf dem Einband angepriesen wird. In eben diesen Bergen findet jedes Jahr das Sommercamp der Bankiersfamilie Van Laar statt, Treffpunkt für Kinder gut situierter Eltern aus den ganzen USA. Im Sommer 1975, dem Jahr, in dem die Haupthandlung spielt, nimmt auch die 14-jährige Tochter der Van Laars, Barbara, am Camp teil. Doch als sie am letzten Abend plötzlich verschwindet, erinnert dies stark an den Fall ihres Bruders Bear, welcher im Jahr 1961 spurlos verschwunden ist. Die frischgebackene Investigatorin des BCI, Judyta Luptack, wird auf den Fall angesetzt und relativ schnell wird klar, dass das Camp und die Familie von so einigen Geheimnissen umgeben sind.
Der Roman hat knapp 590 Seiten, ist also ein ganz schöner Wälzer. Trotzdem habe ich ihn in drei Tagen ausgelesen, was eigentlich schon alles sagt. Was für mich ein wirklich gutes Buch ausmacht, ist ein ausgewogener Mix aus Spannung, intensiven Beschreibungen der Menschen und der Natur, zugänglichen Charakteren, Zeitgeist und einer gerne auch komplexen und vor allem vielschichtigen Handlung und dieses Buch vereint für mich wirklich all dies in einer perfekten Mischung. Ich konnte so richtig in das Geschehen, den Schauplatz und die Zeit eintauchen, weil Liz Moore einen tollen Schreibstil hat und durch die häufigen Perspektiven- und auch Zeitwechsel wurde das Lesen nie eintönig oder gar langweilig. Mir hat vor allem die Vielschichtigkeit der Handlung gefallen und die unterschwellige, subtile Gesellschaftskritik an der damaligen Oberschicht.
Dieses Buch zu lesen war für mich ein großes Vergnügen und ich kann voll und ganz verstehen, wieso es auf der Summer Reading List 2024 von Barack Obama ist. Ich werde auf jeden Fall auch noch die anderen Bücher der Autorin lesen.

Bewertung vom 09.02.2025
Middletide - Was die Gezeiten verbergen
Crouch, Sarah

Middletide - Was die Gezeiten verbergen


weniger gut

Elijah kehrt nach Jahren, in denen er in San Francisco versucht hat, als Schriftsteller Fuß zu fassen und gescheitert ist, in seinen Heimatort in Washington zurück. Er versucht, sich im Haus seiner Kindheit ein neues Leben aufzubauen und lebt im Rhythmus der Natur. Bei einem Freund seines verstorbenen Vaters kann er seinen Lebensunterhalt verdienen und auch zu seiner Jugendliebe Nakita findet er nach und nach wieder Kontakt. Dann jedoch erschüttert der Suizid der allseits beliebten Ärztin Erin den kleinen Küstenort und Elijah ist plötzlich im Visier der beiden Ermittler.
Das Setting der Geschichte hat mich sehr an den „Gesang der Flusskrebse“ erinnert – ein Kriminalfall, eine Liebesgeschichte und die Nähe zur Natur – und ich habe mich auf eine ähnlich intensive Leseerfahrung gefreut, aber leider konnte der Roman meine Erwartungen nicht erfüllen. Ich konnte mich kaum in die Geschichte einfühlen, wurde mit den Figuren nicht warm, da sie für mich zum Teil nicht nachvollziehbar gehandelt haben und eher oberflächlich blieben. So hätte ich gerne viel mehr über die (fiktive) Kultur der Squalomah erfahren, vor allem, weil es schon im Vorfeld eine Anmerkung der Autorin dazu gibt, aber wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, spielt diese Kultur im Buch nicht wirklich eine große Rolle. Die Zeitsprünge haben zu Beginn die Spannung noch recht hochgehalten, aber im Verlauf fiel es mir immer schwerer, die Handlung richtig zuzuordnen – hier wären ein paar weniger Wechsel in der Zeit mehr gewesen. Der Kriminalfall war anfangs noch spannend, schnell wurde er aber vorhersehbar und gegen Schluss ein bisschen unglaubwürdig. Und auch die Liebesgeschichte ist meiner Meinung nach ins Kitschige, Seichte und Vorhersehbare abgedriftet.
Ein Roman, der stark beginnt, aber leider dann nachlässt und nicht ganz das hält, was er verspricht.

Bewertung vom 01.02.2025
Für Polina
Würger, Takis

Für Polina


gut

Hannes und Polina sind von Geburt an miteinander verbunden und verbringen den größten Teil ihrer Kindheit zusammen. Durch ein tragisches Ereignis werden der träumerische Junge, der ein verborgenes Talent fürs Klavierspielen hat, und das rebellische Mädchen getrennt, sie finden sich wieder und trennen sich wieder – bis die beiden sich komplett aus den Augen verlieren und jeder seinen eigenen Weg geht. Doch Hannes kann Polina nicht vergessen und irgendwann erkennt er, dass er sie wiederfinden muss. Der einzig mögliche Weg scheint ihm die Musik zu sein und so zeigt er sich und seine Melodien der Welt und hofft, auf diese Weise Polina auf sich aufmerksam zu machen.
Takis Würger schreibt sehr einfühlsam und der erste Teil des Romans hat mir gut gefallen. Vor allem Hannes‘ Mutter fand ich als Figur toll; eine Frau, die sich nicht unterkriegen lässt und die für ihre Werte einsteht. Je weiter die Geschichte jedoch fortschreitet, desto konstruierter und klischeehafter wirkte das Erzählte auf mich und gegen Ende habe ich dann ein bisschen das Interesse verloren, da der Autor meiner Meinung nach zu dick aufträgt. Ich finde auch, dass die Handlung am Schluss zu verdichtet und fast zu überladen ist, was nicht so ganz zum langsamen und leisen Anfang passt. Und wenn ich so darüber nachdenke, blieben mir die Hauptfiguren eher fremd. Gerade über Polina hätte ich gerne mehr erfahren, damit die Geschichte für mich stimmig gewesen wäre.
Nichtsdestotrotz ist der Roman in einer schönen, unaufgeregten Sprache geschrieben und auch die Beschreibungen von Hannes‘ Liebe zur Musik und wie er jedem Menschen eine Melodie zuordnet, fand ich wunderschön und außergewöhnlich. Für mich ist es zwar nicht „der Liebesroman des Jahres“ – dafür war mir persönlich der Schluss zu klischeehaft –, aber das Buch wird sicher viele begeisterte Leser haben.

Bewertung vom 23.12.2024
Good Energy
Means, Casey

Good Energy


weniger gut

Eins vorweg: Ich habe schon einige Bücher zu den Themen Ernährung und Zellgesundheit gelesen, interessiere mich sehr für die Zusammenhänge und Hintergründe und freue mich immer über Neuerscheinungen in dem Bereich. Deshalb habe ich mich auch gefreut, als ich gesehen habe, dass ein neues Buch erscheint, welches „eine revolutionäre Vision, um unsere Gesundheit zu optimieren“ verspricht. Im Klappentext ist sogar von einem „bahnbrechenden Buch“ die Rede, welches verspricht, eine einfache Methode zu vermitteln, die gängigen Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Depressionen, Herzkrankheiten und sogar Krebs vorzubeugen bzw. sie sogar umzukehren.
Aufgrund dieser ganzen Lobeshymnen habe ich mir im Nachhinein betrachtet etwas mehr versprochen. Alles, was im Buch erwähnt wird, habe ich so oder so ähnlich schon gehört und wenn man sich mit der Thematik befasst, gibt es nicht viel Neues zu lesen. Was mich ein bisschen gestört hat, ist, dass man quasi alles, was man tracken kann, tracken soll (z.B. Schlaf, Bewegung, Ernährung), und da unterstelle ich der Autorin quasi ein Eigeninteresse, betreibt sie doch eine App, um die metabolische Gesundheit zu optimieren. Ich persönlich finde es wichtig, dass man auch lernt, wieder mehr auf seinen Körper zu hören und sich nicht stur auf Zahlen beschränkt. Ich finde auch, dass einige Tipps und Rezepte nur für eine Zielgruppe mit Zeit und Geld umzusetzen sind (z.B. Umkehrosmose-Wasserfilter, in der ersten Stunde nach dem Aufwachen 15 Minuten ins Freie gehen, Rezepte z.T. lange Zubereitungszeit), was mir doch ein bisschen elitär erscheint.
Gut an dem Buch fand ich, dass auch die mentale Gesundheit beleuchtet und Wert auf Achtsamkeit gelegt wird, so dass am Schluss ein umfassender Plan für die „Good Energy“ präsentiert wird. Ich werde mir sicher einige Dinge herauspicken, die ich umsetze und mit denen ich in nächster Zeit arbeite. Auch ihre Kritik am aktuellen Gesundheitssystem kann ich nachvollziehen und ich finde es gut, dass sie zu mehr Selbstermächtigung anregt.
Jemand, für den/die diese Thematik neu ist, findet hier sicher eine umfassende Einführung und sehr viele Informationen!

Bewertung vom 30.10.2024
Das zweite Kind
De Franchi, Marco

Das zweite Kind


weniger gut

Ich hatte mich sehr darauf gefreut, den Thriller „Das zweite Kind“ des italienischen Autors Marco De Franchi zu lesen, weil ich gerne Literatur aus Italien lese und ich mich auch gerne abseits meiner sonstigen Lesegewohnheiten bewege. Leider war ich letztendlich dann doch enttäuscht von diesem Buch. Die ersten 200 Seiten fand ich durchaus gut zu lesen und es hat sich nach und nach eine Spannung aufgebaut. Als diese jedoch ihren Höhepunkt überschritten hat – man denkt, der Fall ist nun gelöst – wurde das Lesen mehr und mehr zu einem zähen Kraftakt und ich habe viele Seiten quergelesen. Ich hatte das Gefühl, dass unbedingt noch Seiten gefüllt werden mussten und so immer wieder neue Wendungen eingebaut wurden; für mich wäre hier weniger mehr gewesen. Auch das Ende war irgendwie enttäuschend und unbefriedigend. Außerdem habe ich das Verhältnis der beiden Protagonisten Valentina und Fabio zueinander als fast schon unerträglich klischeehaft empfunden und als es zu dem vorhersehbaren Kuss kam, hätte ich das Buch am liebsten weggelegt. Während des Lesens bin ich ein paar Mal über Ausdrücke gestolpert, die mir nicht geläufig sind (zum Beispiel Seite 69: „…ihre…plierigen Augen“) und die mich rätselnd zurückgelassen haben.
Alles in allem war das Buch für mich einfach zu langatmig und in gewisser Weise haben mich die oben genannten Punkte zu sehr gestört, um die Lektüre unvoreingenommen zu beenden.

Bewertung vom 25.09.2024
In den Wald
Vaglio Tanet, Maddalena

In den Wald


gut

Ein kleiner Ort im Piemont in den 1970er-Jahren: Die Lehrerin Silvia verschwindet spurlos, nachdem ihre Schülerin Giovanna Selbstmord begangen hat. Gelähmt vor Scham und Schuld, versteckt sie sich im Wald, will nicht gefunden werden, während ihre Verwandten nach ihr suchen. Lediglich Martino, der mit seiner Mutter aufgrund seines Asthmas von Turin in den kleinen Ort Biella gezogen ist, entdeckt zufällig den Aufenthaltsort der Lehrerin, hält diesen jedoch geheim und versorgt Silvia mit Nahrung und Wasser. Doch gelingt es ihm letztendlich, sie ins Dorf zurück zu holen?
Ich muss zugeben, der Roman entwickelt eine gewisse Sogwirkung. Neben Silvia und Martino spielen noch viele andere Bewohner*innen des Dorfes eine Rolle, so dass ein relativ vielfältiges Panorama an Themen entsteht, welche das italienische Dorfleben in der 1970er-Jahren geprägt haben. Maddalena Vaglio Tanet schafft es mit ihrem eher knappen Stil, das Interesse am Geschehen und den Lesefluss aufrecht zu erhalten. In seiner Gesamtheit finde ich das Erzählte sehr interessant, vor allem, weil es auf einer wahren Begebenheit beruht.
Schade finde ich jedoch, dass der Klappentext für mich eine komplett andere Thematik suggeriert hat. Ich habe einen Roman im Stil des „Nature Writing“ erwartet, eine Beschreibung, wie die Protagonistin immer mehr mit dem Wald verschmilzt und in ihm versinkt, aber leider ist davon nicht wirklich die Rede. So war ich am Schluss des Romans eher etwas ernüchtert, da die Lektüre nicht so intensiv war, wie ich es mir erhofft habe. Für mich macht in dem Fall der italienische Titel, "Tornare dal bosco", mehr Sinn. Trotzdem habe ich den Debütroman der Autorin gerne gelesen und ich finde, er war zu Recht für den Premio Strega nominiert.

Bewertung vom 31.08.2024
Die Frauen von Maine
Sullivan, J. Courtney

Die Frauen von Maine


sehr gut

Zentraler Schauplatz dieses Romans von J. Courtney Sullivan ist ein altes Haus im fiktiven Küstenort Awadapquit in Maine. Im Laufe der Geschichte werden verschiedene Frauenschicksale, die eng mit dem Haus verwoben sind, aufgedeckt, wobei die knapp 40-jährige Jane, deren Geschichte in der heutigen Zeit spielt, die Hauptfigur ist.
Jane, die sich seit ihrer Jugend zu dem Haus auf den Klippen hingezogen gefühlt hat, kehrt nach dem Tod ihrer Mutter in ihren Heimatort zurück, um den Nachlass zu regeln. Die aktuelle Besitzerin des alten Hauses, Genevieve, bittet sie, Nachforschungen zu den früheren Besitzern anzustellen, da sie der Meinung ist, dass es im Haus spukt. Jane, nach einem verheerenden Zwischenfall von ihrem Job als Archivarin an der Harvard-University freigestellt, macht sich daran, die Geschichte des Hauses zu erforschen und findet dadurch langsam auch einen Weg, ihr eigenes Schicksal anzunehmen.
Der Roman ist in Kapitel unterteilt, welche die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen. Es wird dabei ein Bogen vom 17. bis zum 21. Jahrhunderte gespannt und es werden diverse gesellschaftliche Themen angesprochen – von den Native Americans zu feministischen Themen der heutigen Zeit, vom Shaker-Glauben zum Spiritismus, von Alkoholismus zu unausgesprochenen Mutter-Tochter-Konflikten. Durch diese unterschiedlichen Sichtweisen und Themen wurde der Roman für mich sehr lebendig, interessant und vielfältig und ich habe ihn sehr gerne gelesen. Der Schreibstil ist flüssig und die Fakten sind sehr gut recherchiert. An einigen Stellen fand ich das Geschriebene etwas langatmig und fast schon zu ausführlich, aber insgesamt war das Buch unterhaltsam und ich habe noch einiges Neues dazugelernt.

Bewertung vom 11.08.2024
Und dahinter das Meer
Spence-Ash, Laura

Und dahinter das Meer


weniger gut

London, 1940: Die elfjährige Beatrix wird, um den Bombardierungen während des Zweiten Weltkrieges zu entgehen, nach Boston zur Familie Gregory geschickt. Trotz anfänglicher Bedenken fühlt sie sich dort schon sehr bald heimisch, vor allem auch wegen der beiden Söhne der Familie, William und Gerald. Mit den beiden und den Eltern Nancy und Ethan verbringt sie unbeschwerte Sommer in Maine und gewinnt nach und nach Abstand zu ihrem Leben in London. Doch gerade als sie Gefühle für William zu entwickeln beginnt, muss sie wieder nach London zurückkehren. Ob sie dort wieder Fuß fassen kann, erfährt man im Verlauf des Romans, welcher im Jahre 1977 endet.
Leider konnte die Geschichte meine Erwartungen überhaupt nicht erfüllen. Die Grundidee fand ich sehr interessant und ich habe mich auf eine intensive Lektüre gefreut. Am Anfang war ich auch begeistert, vor allem, weil die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, was sehr abwechslungsreich und interessant sein kann. Letztendlich hat dies aber leider dazu geführt, dass keine der Personen für mich fassbar war, da meiner Meinung nach kaum Raum war für eine Entwicklung der Charaktere war und alles sehr oberflächlich blieb. Auch konnte ich mich oft nicht in der Zeit orientieren, da auch hier zwischen den „Kapiteln“ plötzlich in der Zeit gesprungen wurde und für mich damit vieles auf der Strecke blieb. Gerade die eigentlich wichtigen Ereignisse wurden eher am Rande erwähnt und vieles wurde nur angekratzt. Gegen Ende wurden dann die Handlungen der Personen für mich nicht mehr nachvollziehbar und ich habe mich fast schon durchgequält.
Schlussendlich konnte mich der Roman leider nicht überzeugen, die Personen blieben blass und nicht greifbar und die Handlung war für meinen Geschmack zu vorhersehbar.

Bewertung vom 14.07.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


ausgezeichnet

So schön und friedlich die Eingangsszene am See ist, so krass gegensätzlich ist das, was folgt: ein Akt von häuslicher Gewalt, der zur Anzeige gebracht wird. Erst nach und nach erfährt man, wie es dazu gekommen ist und welche Faktoren dabei eine Rolle gespielt haben. Ruth-Maria Thomas erzählt sehr geschickt im Wechsel von Rückblenden und Gegenwart von der toxischen Beziehung zwischen Jella und Yannick, aber auch von gesellschaftlichen und persönlichen Voraussetzungen und Entwicklungen, die dazu führen, dass jemand in solch einer Beziehung verharrt.
Mich hat die Lektüre sehr beschäftigt, weil ich mich in einigen Verhaltensweisen – gerade, wenn ich an meine Pubertät zurückdenke – wiedererkannt habe, vor allem was die Bemühungen betrifft, anderen und vor allem Männern, gefallen zu wollen. Außerdem habe ich mich gefragt, wann ich in dieser Beziehung eine Grenze gezogen hätte und ich fand die Frage gar nicht so einfach zu beantworten. Jellas Hin- und Hergerissen-Sein konnte ich sehr gut nachempfinden und hat mich wirklich traurig gemacht, denn wie oft ist es so, dass wir an unserer eigenen Wahrnehmung zweifeln und diese herunterspielen!
Der prägnante, manchmal lyrische, aber doch immer einnehmende Stil des Romans hat mir sehr gut gefallen – ich bin schon gespannt auf die kommenden Veröffentlichungen der Autorin.
Ein realistisches, kluges, interessantes, überraschendes und erschütterndes Buch.

Bewertung vom 31.01.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


ausgezeichnet

Beim Lesen von „Nachbarn“, einer Sammlung von vierzehn Kurzgeschichten der viel zu früh verstorbenen US-amerikanischen Autorin Diane Oliver (1943-1966), musste ich immer wieder daran denken, wie überraschend und bereichernd es doch ist, Autor*innen (wieder) zu entdecken und neue Sichtweisen oder neue Aspekte eines Themas aufgezeigt zu bekommen und so vergessene, aber immer wiederkehrende Themen auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten zu können. Mich hat besonders der Scharfsinn dieser Geschichten begeistert, sind die Figuren, obwohl sie in den äußeren Umständen gefangen sind, doch oft im Denken ihrer Zeit voraus. Man bekommt Einblicke in die Anfangszeit der Bürgerrechtsbewegung, die zwar schon von einem Umbruch geprägt war, in der aber Rassentrennung und Unterdrückung noch an der Tagesordnung waren. Einige der Geschichten sind für mich von tiefster Hoffnungslosigkeit geprägt; die erschreckende Armut, der tägliche Überlebenskampf der Frauen und Kinder, die von den Männern, welche sich vermeintlich in den Norden „davongemacht“ haben, alleine gelassen wurden, zeigen die vermutlich häufig vorkommende bittere Realität in den 1960er Jahren in den Südstaaten der USA. Dann gibt es aber auch immer wieder Geschichten, die Hoffnung machen, wie zum Beispiel „Banago kalt“, in der mit einem Augenzwinkern von einem Aufenthalt dreier amerikanischer Mädchen bei einer Schweizer Gastfamilie berichtet wird. Diane Oliver zeigt die Vielfalt ihrer Gedanken und Beobachtungen auch mit ihrem Schreibstil, wenn sie ihren Geschichten einen surrealen Charakter gibt („Kein Service hier“) oder mit Sprache experimentiert („Gefrorene Stimmen“). Man wird bei der Lektüre auf jeden Fall mit einer Vielzahl an Gefühlen und Einsichten – gerade auch, was die Aktualität betrifft - konfrontiert und ich bin dankbar, dass diese starke, außergewöhnliche und mutige Stimme wiederentdeckt wurde.