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Benutzername: 
TimoBrandt
Wohnort: 
Wien
Über mich: 
lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

Bewertungen

Insgesamt 19 Bewertungen
12
Bewertung vom 02.09.2018
Blood On The Tracks
Dylan,Bob

Blood On The Tracks


ausgezeichnet

Ein Album, das ich tatsächlich für perfekt halte. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es unter Bob Dylan-Fans einen Streit gibt, welches Album das beste sei und sich ungefähr gleichviele Fürsprecher*innen für „Blonde on Blonde“, „Highway 61 revisited“ und „Blood on the tracks“ finden lassen (während andere sich noch darüber streiten, ob er singen kann). Trotz großer Sympathie für „Blonde on Blonde“ – „Blood on the tracks“ hätte immer meine Stimme.

Bob Dylan hat in Interviews oft gesagt, dass dieses Album ihm aus einer Schaffenskrise geholfen habe – oder besser gesagt: das Resultat einer beendeten Schaffenskrise ist. Ich muss zugeben, dass mich herzlich wenig interessiert, welche Bedeutung dieses Album in seinem Schaffen einnimmt – die besten Kunstwerke überwinden ihre Kontexte vollends oder gehen ganz und gar in ihnen auf und bei „Blood on the tracks“ trifft ersteres zu. Reporter*innen haben sich den Mund fusselig gefragt, ob er in diesem Album die Trennung von seiner Frau verarbeitet habe und noch jede Menge anderes Zeug.

Aber kein Label – egal ob „Trennungsalbum“ oder „Symbol neuer Schaffenskraft“ – vermögen in meinen Augen dieses Album zu definieren, zu vereinnahmen. Es ist unbeugsam, wüst, es ist fabulierend, es ist zärtlich, rotzig, euphorisch, bitter, aberwitzig, blitzgescheit und noch einiges mehr; vor allem aber kann es für sich selbst stehen.

Wer meine ausführliche Besprechung des Albums lesen will, der findet sie auf meinem Blog (https://lyrikpoemversgedicht.wordpress.com/2018/09/02/alben-die-ich-sehr-schatze-erster-eintrag-blood-on-the-tracks/)

Bewertung vom 27.09.2017
Asymmetrie
Zagajewski, Adam

Asymmetrie


ausgezeichnet

"Wir schätzen die Kunst,
weil wir wissen möchten, was unser Leben ist.
Wir leben, aber wir wissen nicht immer, was das bedeutet.
Also reisen wir, oder wir schlagen zu Hause ein Buch auf."

Wenig habe ich in den letzten Jahren so schätzen gelernt wie die Gedichte von Adam Zagajewski. Es sind Meisterwerke der schlichten und doch elementaren Poesie.

Eine längere Rezension von mir zu diesem Band findet sich auch beim Onlinemedium Fixpoetry.

Bewertung vom 19.09.2017
Die dunkle Kammer
Perec, Georges

Die dunkle Kammer


ausgezeichnet

“Aus Deutschland erhalte ich einen Brief, der mir mitteilt, dass Eugen Helmlé gestorben ist. Ich hatte ihm noch am Vortag geschrieben.

Nach und nach wird mir klar, dass ich träume und das Eugen Helmlé nicht tot ist.”

Gott sei Dank war es nur ein Traum – denn was für Übersetzungen und Werkzugänge wären uns entgangen, wenn Eugen Helmlé gestorben wäre. Es wäre uns wahrscheinlich nie möglich gewesen Anton Voyls Fortgang zu lesen, Helmlé geniale Übersetzung von “La Disparation”, dem Roman ohne den Buchstaben “e”. Oder Perecs Opus Magnum Das Leben: Gebrauchsanweisung, das man laut Harry Rowohlt einmal im Jahr lesen sollte. Und ich hätte vielleicht nie das Glück gehabt, dem für mich nach wie vor ungeschlagene Kleinod Träume von Räumen zu begegnen, einer vielschichtigen, epiphanischen Meditation über die Vorstellungen des Raums.

Träume, Schlaf. Die Belassenheit der Dinge, die aber gleichsam im Inneren ungeheure Kapazitäten bereithält. Themen, die in Perecs Werk immer wieder auftauchen. Das Sprachspiel, die Schule von Oulipo, war das Eine; das lieferte die Formen, die Freude, den Spaß, die Herausforderung. Auf der anderen Seite sind da die eigenen Untiefen, aus denen jeder Schreibende schöpft. Gerade bei Perec prallen an der Schnittstelle durchaus einige Gegensätze aufeinander. Denn so genial viele seiner Werke sind, es geht darin oft um Verlassenheit, um Zwingendes und Furchteinflößendes, um das Negierende.

Im Titel “Die dunkle Kammer” ist natürlich die Idee der Dunkelkammer enthalten, der Ort, wo man aus Negativen Fotos entwickelt. Und tatsächlich ist die Niederschrift von Träumen ein ähnlicher Vorgang. Man erlebt etwas und mit der Linse hält man es fest, wie den Traum mit dem Stift, und es kommen dabei Objekte heraus die eine Version des Traums/des Erlebnisses sind und doch wieder nicht. Es sind Rahmungen, es sind Festsetzungen von etwas, das nicht festgesetzt werden kann.

Trotzdem gelingt Perec in den 124 Traumnotaten Erstaunliches. Sehr oft fängt seine nüchterne Nacherzählung der Träume gut die additive und zugleich kontemplative Bewegung der Träume ein, den Verlauf. Vor allem das Bewusstwerden, das im Traum – noch einmal mehr als in der Wirklichkeit – meist eine geradezu erschütternde, direkt Dimension bekommt. Das ermöglicht es den Lesenden einzutauchen in die andere Seite der Nacht, in die seltsame Kreativität unserer Unterströmung, die alles Mögliche anschwemmt, das einmal in den Strudel unserer Wahrnehmung, unserer Erinnerungen, unserer Bedeutungsaneigung geriet.

Einmal träumt Perec, er und ein Freund hätten in “Anton Voyls Fortgang” lauter e’s gefunden; plötzlich tauchen sie auf, stechen hervor, dann sind sie wieder weg. Die Holocaust-Vergangenheit von Perecs Familie und seine privaten Beziehungen sind andere Themen, die oft einfließen; das Bergwerk, zu dem der Traum immer wieder zurückkehrt, um zu schürfen.

Die dunkle Kammer ist ein reiches Buch, ein Buch mit dem man sich sehr lange beschäftigen kann und dafür muss man nicht einmal an Perec oder seinem Werk im Besonderen interessiert sein.
Für alle, die sich für den Traum interessieren, für das Wartende, Schlummernde, das erwacht, wenn wir einschlafen, eingefasst und durchdrungen von den Symbolen unseres ganzen Lebens und doch nur in unordentliche Zustände gekleidet, denen wird dieses Buch ein Schatz sein.

Bewertung vom 19.09.2017
Das hier ist Wasser / This is water
Wallace, David Foster

Das hier ist Wasser / This is water


ausgezeichnet

Dieses kleine Buch, diese Rede, kann schwerlich als eines der Hauptwerke von David Foster Wallace bezeichnet werden; es wäre aber auch falsch, es als reines Nebenprodukt abzutun, als nettes Beiwerk. Es ist ein wichtiges Buch, meiner Ansicht nach sogar ein bedeutendes. Und das hat etwas mit der Tragweite der darin geäußerten Überlegungen zu tun (die ich hier jetzt nicht rekapitulieren werde) und mit der Schlichtheit, in der sie vorgetragen werden. Es ist ein Buch, das sich der Dürftigkeit seines Wesens in Bezug auf Virtuosität und – vermeintlich – Originalität bewusst ist und dennoch geradeheraus in das Angesicht der leichthändigen Ignoranz blickt und spricht. Sagt, was es zu sagen hat.

Vielen Leser*innen mag das Büchlein dennoch belanglos erscheinen und ich will ihnen nicht mal widersprechen, denn es steckt eine große Belanglosigkeit darin, vielleicht auch eine belanglose Größe. Und doch würde ich mir wünsche, dass mehr Leute verstehen, warum ich Foster Wallace behutsamen Anschauungen nur zustimmen kann; warum ich denke, dass sein einfach geäußertes “Obacht!” bis in viele Hinterköpfe vordringen sollte. Vielleicht, weil unser Zusammenleben viel weniger selbstverständlich sein sollte und gleichsam selbstverständlicher. Aber alles, was dazu zu sagen wäre, steht in diesem Buch. Was ich – ganz abgesehen davon, was ich mir als Reaktion wünschen würde – nur empfehlen kann, ist: es zu lesen.

Es geht um Verständnis.

lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

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Bewertung vom 19.09.2017
Töte mich
Nothomb, Amélie

Töte mich


ausgezeichnet

Es ist, und dies sei vorweg festgehalten, nahezu immer ein Vergnügen für mich, Amélie Nothomb zu lesen. All diese Novellen und kleinen Romane, die sie über die Jahre herausgebracht hat, reihen sich in meinem Bücherschrank. Für ihre stärksten Werke halte ich noch immer die autobiographischen wie z.B. “Der japanische Verlobte” oder die großartige “Biographie des Hungers” oder das bekannte “Mit Staunen und Zittern”. Sie haben etwas Lebendiges an sich, das mich immer wieder heiter stimmt und es gibt nur wenige Bücher, die das wahrlich vermögen; das meiste, was an Literatur fröhlich und heiter stimmen soll, deprimiert mich eher maßlos.

Was nun die anderen Bücher angeht, die erwähnten Novellen und Romane, so haben sie eins gemeinsam, und das ist ein Zug zum Ungeheuerlichen, in verschiedenen Dimensionen und Varianten. Bei “Töte mich” beginnt diese Ungeheuerlichkeit schon mit dem ersten Satz:

“Wäre ihm prophezeit, dass er einmal zu einer Wahrsagerin gehen würde, Graf Neville hätte es nicht geglaubt.”

Ein gekonnter Start, verheißungsvoll, außerdem mit einem inhärenten Witz garniert und schon der Anfang eines Persönlichkeitsbildes, famos. Die wirkliche Ungeheuerlichkeit kommt aber noch: die Wahrsagerin prophezeit dem Grafen, dass er bei dem alljährlichen Fest auf seinem Schloss einen Gast töten wird. Dabei wollte der Adelige doch nur seine entlaufende 17-jährige Tochter bei ihr abholen, die nachts davongelaufen war und von der Wahrsagerin aufgelesen wurde. Und nun, völlig aus dem Nichts, ruiniert sie sein großes Fest!

Dem Grafen liegt sehr viel an diesem Ereignis, er ist sehr stolz darauf es in der Gastgeberschaft zur Meisterschaft gebracht zu haben. Nach und nach breitet Nothomb seine Erinnerungen und seinen Seelenzustand vor uns aus, seine Vergangenheit, die Familie, die Geschichte der Partys im Garten des Schlosses von Le Pluvier. Es ist schließlich die Tochter des Grafen, die dem Vater mit einem unorthodoxen Vorschlag einen Ausweg weisen will: Töte (doch) mich. Das ist nun die vollendete Ungeheuerlichkeit und das in einer Welt, in der doch alles voller schöner Oberflächen ist …

Es ist das Bezeichnende bei Nothomb, dass sie rund um den Kern ihrer Bücher oft Landschaften der Harmonie, Eleganz und Schönheit entwirft, nicht selten Prunk und Pracht und eine wahre Freude an kleinen und ausufernden Beschreibungen jeglicher Art hat, und doch die größten Ungeheuerlichkeiten zum Kernkonflikt macht.

Mord in allen Varianten, exzessive psychologische Gewalt, Verderbtheit, Deformationen, das alles hat in ihren Büchern schon mal im Mittelpunkt gestanden. „Wenn schon Krise und Konflikt, dann richtig und mitten aus der heilen Welt heraus“, scheinen ihre Werke zu sagen. Es muss immer um große Fallhöhen gehen, die leichthändig von ihr auf dem Finger balanciert werden und in langen Dialogen auf ihre Ungeheuerlichkeit hin abgeklopft werden. Immer wieder: Menschliche Abgründe, anzutreffen in zauberhaften, auf ihre Weise idyllischen Arrangements.

Dieses Spiel mit Schein und Sein, mit Perfektion und Perfidie, mit Oberfläche und Abgrund, ist ein Markenzeichen ihrer Bücher; ihre Bücher können sich oft nur in Nuancen und durch ihre sprachliche Wohlgefeiltheit von belangloser oder oberflächlicher Literatur abheben.

Dennoch bin ich ein starker Verfechter dieser Nuancen und sehr dafür, dass man Nothomb als Schriftstellerin mit feinem Witz und eigenem Stil begreifen kann und sie als solche würdigt. “Töte mich” stellt diese Qualitäten wieder unter Beweis: Eine Art morbides Märchen, das inmitten seines unverfänglichen, fließenden Narratives am Abgrund segelt, Fragen nach Glück, Vertrauen und Konventionen aufwirft, und die Lesenden dabei auch noch bittersüß und spritzig unterhält.

Bewertung vom 19.09.2017
Kolonien und Manschettenknöpfe
Kunst, Thomas

Kolonien und Manschettenknöpfe


sehr gut

Besprechung beim Signaturen-Magazin:

http://signaturen-magazin.de/thomas-kunst--kolonien-und-manschettenknoepfe.html

Bewertung vom 18.09.2017
Requiem für den amerikanischen Traum
Chomsky, Noam

Requiem für den amerikanischen Traum


ausgezeichnet

“Wer nach Europa, Japan oder selbst China reist, dem fällt bei seiner Rückkehr sofort auf, dass sich die USA im Verfall befinden, und er hat oft das Gefühl, in ein Land der sogenannten dritten Welt zurückzukehren. Die Infrastruktur ist marode, das Gesundheitssystem ist völlig zerrüttet, das Bildungssystem liegt in Trümmern, nichts funktioniert, und all das in einem Land, das über unglaubliche Mittel verfügt.”

Der amerikanische Traum ist eines der großen Narrative des 20. Jahrhunderts. Vor allem in der Filmwelt Hollywoods, aber auch in vielen anderen Medien, fest verankert in den Vorstellungswelten, die sich um das Wesen der Vereinigten Staaten von Amerika drehen.

Aber dieser Traum ist nicht nur ein Narrativ, ein Mythos – für die Amerikaner*innen war er lange Zeit ein Versprechen, eine Art von Gewissheit. Das sollte man im Hinterkopf behalten, wenn man diese neue Denkschrift von Noam Chomsky liest; man sollte den Titel wörtlich nehmen. Das hier ist ein Requiem, ein Rückblick auf eine Idee, die Europäer*innen vielleicht zu begreifen glauben, deren Tragweite sie aber vermutlich unterschätzen, weil sie für die meisten von Ihnen etwas klischiertes, abgedroschenes hat, die Qualität eines Kalenderspruchs, einer Phrase. Nicht so in den USA, wo lange an der Unsterblichkeit dieses Versprechens festgehalten wurde.

“Aber inzwischen wissen wir einfach, dass das [Versprechen von schnellem Aufstieg und unbegrenzten Möglichkeiten, der amerikanische Traum] nicht mehr gilt. Die soziale Mobilität in den USA ist geringer als in Europa. Doch der Traum, genährt durch Propaganda, besteht fort. Er ist Bestandteil sämtlicher politischer Reden: Wählt mich, wir lassen den Traum wiederaufleben.”

Was Chomsky schreibt, ist ein Requiem, der Abgesang eines Mannes von beinahe 90 Jahren und mitunter fragt man sich bei der Lektüre wohl das gleiche wie er: Wie konnte es soweit kommen? Wann haben wir nicht aufgepasst? Wann hätten wir etwas tun können?

Soweit ist es in Europa, ist es in Deutschland noch nicht. Aber gerade jetzt wird nicht aufgepasst, gerade jetzt wird wenig getan. Daran erinnert uns Chomskys Buch, genauso wie es uns eine Lehrstunde in amerikanischer Geschichte erteilt; eine Geschichte, die so glorreich erscheint auf den Fernsehschirmen und so bitter und entzaubert ist in Wirklichkeit.

Ganzer Text auf: lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

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Bewertung vom 18.09.2017
Erschütterungen
Niemann, Norbert

Erschütterungen


sehr gut

“Und ich fragte mich immer öfter: Gibt es so etwas wie eine neue internationale Ästhetik? […] Ich habe die Aufgabe von Kunst immer begriffen als einen Akt der Annäherung an eine Gegenwart, der laufend die Sprache abhandenkommt. […] Der Hauptteil meines Essays beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Globalisierung auf das konkrete Leben der Menschen, wie sie in der erzählenden Prosa gezeigt und umgesetzt werden.“

Überschaut man die Literatur der Jahre zwischen 1500 und 1950 (in Teilen noch bis 1990) lässt sich zwar bei vielen Titeln von „Weltliteratur“ sprechen, aber die Verwurzelung der Werke in ihre nationalen Zusammenhänge (und die regionale oder übergreifend nationale Geschichte) ist in den meisten Fällen nicht von der Hand zu weisen. Kunst kommuniziert selbstverständlich seit jeher über Grenzen hinweg, negiert diese Grenzen aber nicht, sondern überwindet sie lediglich hier und dort.

Heute leben wir in globalisierten Zeiten, wo die Grenzen dabei sind, sich aufzulösen – bis auf eine wenige, die klar hervortreten: die Grenzen zwischen arm und reich zum Beispiel. Viele andere aber verschwimmen, sodass es mittlerweile schwer geworden ist, beispielsweise zwischen Mainstream und Alternative, Kunst und Kommerz, Eigenschaft oder Stigmata, Mythos und Tradition zu unterscheiden. Natürlich ist es nur „schwer“ und nicht „unmöglich“. Aber da alles irgendwie mit allem verwoben ist, droht noch die einfachste Darstellung zeitgenössischer Themen und Phänomene auszuufern oder zu scheitern.

Die Globalisierung und die damit einhergehende Vormachtstellung eines Weltmarktes, der überall auf den gleichen Prinzipien fußt, ist eben nicht nur ein Problem ökonomischer, gesellschaftlicher und sozialer Art, sondern auch eines der Literatur (vom literarischen Betrieb ganz zu schweigen). Wie gehen Schriftsteller*innen um mit einer Welt, deren Strukturen gleich geschaltet werden und die dennoch unübersichtlich und geradezu beliebig wirken. Worauf kann man noch den Schwerpunkt setzen, welches Narrativ wird diesen Zeiten gerecht? Das Narrativ der Generation? In einem der von Niemann behandelten Romane (Open City von Teju Cole) sagt ein Korea-Kriegsveteran:

„Jeder neue Krieg ist der mentale Krieg einer neuen Generation, bereits für die nächste werden die irakischen Städtenamen bedeutungslos sein. Man vergisst schnell. Fallujah wird denen ebenso wenig sagen wie Ihnen Daejon.“

Norbert Niemann begibt sich im ersten Teil des Buches auf die Suche nach den neuen Narrativen der Gegenwartsliteratur überall auf der Welt, in den Mega-Citys und der ukrainischen Pampa, in den Randgebieten und den Ballungszentren. Was er beschreibt und analytisch offenlegt, sind die Möglichkeiten der Literatur, nach wie vor die Beschaffenheit der Welt darzustellen, mit Sprache erfahrbar zu machen. Er zeigt aber auch, wie klar sie sich dafür zurückziehen muss auf die individuelle Ausprägung. Und wie sehr sie davon abgelassen hat, das große Ganze umfassend abbilden zu wollen.

Aber das Buch bietet nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem, was sich in der Literatur niederschlägt, sondern, im zweiten Teil, auch eine umfassende und mitunter gnadenlose Darstellung des neuökonomischen Literaturbetriebs. Literatur ist zum Gut geworden, zur Ware und hat sich von ihrer eigentlichen Funktion Stück für Stück entfremdet. Die einzelnen Entwicklungen, die dieses Phänomen betreffen, arbeitet Niemann konsequent heraus. Und endet mit einem Appell, dass sich diese Dynamik wieder ändern muss.

Fazit: ein dichtes, ein faszinierendes, mitunter etwas zu sehr in seine Durchdringungen verbissenes Buch, das ich mit viel Gewinn gelesen habe und das sich jeder, der sich mit der zeitgenössischen Literatur und ihren Möglichkeiten und Problemen auseinandersetzen will, einmal anschauen sollte.

Ganzer Text: lyrikpoemversgedicht.wordpress.com

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