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Erfurt

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Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 10.09.2025
Rosa, Maya

Moscow Mule


sehr gut

Rasanter Auftakt

Karina und Tonya studieren in Moskau. Ihr Ziel ist es raus zu kommen, raus aus ihrem aktuellen Leben, vor allem aber raus aus Russland. Stipendien für Universitäten im europäischen Ausland sind rar und der Traum vieler junger russischer Studenten. Während Tonya neben der vielen Partys versucht Geld zu verdienen, leidet Karina unter dem schlechten Verhältnis zu ihrer Mutter und klammert sich an ihre Idee vom Auswandern mit allen Mitteln.

"Moscow Mule" startet mit einem rasanten und schonungslosen Auftakt, bei dem man das Leben der beiden Freundinnen kennen lernt. Schnell wird aber klar, die anscheinende zeitweilige Leichtigkeit weicht schnell einer Verzweiflung. Dabei kommen persönliche Hintergründe genauso zum Tragen wie auch die allgemeine politische Situation Russlands, die allerdings eher nur angerissen wird. Autorin Maya Rosa nutzt eine Mischung aus derber und gehobener Sprache, was die Zerrissenheit der jungen Frauen zwischen ihrer Herkunft und ihren beruflichen Ambitionen weiter unterstreicht. In der Mitte des Buches hängt die Spannung etwas durch, fängt sich aber glücklicherweise zum Ende hin wieder. Mir waren die Figuren stellenweise etwas zu überzeichnet, da wäre etwas weniger mehr gewesen. Nichtsdestotrotz kann ich mich an kein Buch mit ähnlicher Thematik erinnern und spreche daher eine dringende Leseempfehlung aus!

Bewertung vom 10.09.2025
Maschik, Anna

Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten


ausgezeichnet

Außergewöhnlicher Stil

Henrike ist während des Kriegs weitestgehend auf sich alleine gestellt, ihr Mann Georg an der Front. Damit zählt auch das Schlachten zu ihren Aufgaben. Als ihr Sohn Benedikt geboren wird, hat die Hebamme ihn schon aufgegeben. Doch er lebt, wenn auch nicht so, wie es die Eltern sich vorgestellt hatten. Irgendwann kommt dann auch noch Hilde zur Welt, denn sonst könnte Alma - ihre Enkelin - nicht Erzählerin dieses Buches sein und von dieser besonderen Familiengeschichte berichten.

Wie auch schon der Titel, ist "Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten" ein außergewöhnliches Buch.
Aus Sicht der Urenkelin Alma werden in kurzen Abschnitten Episoden, Anekdoten und Begebenheiten der Vorfahren weitergegeben - manches aus der Erzählung heraus, manches aus eigener Erinnerung der damals noch kleinen Alma. Daher wirkt vieles wie Fantasiegebilde, fast Fieberträume, weil ein Kind von Dingen berichtet, die es noch nicht überblicken konnte. Dieses Buch liest sich leicht und flüssig und zeichnet die Charaktere der Personen aus verschiedenen Blickwinkeln, die am Ende ein Gesamtbild ergeben. Man wird mitgenommen durch die Jahrzehnte einer Familie. Was nach einem Epos klingt, ist komprimiert auf verhältnismäßig wenige Seiten, ohne dabei beengt zu wirken. Eine rundum neue Leseerfahrung!

Bewertung vom 10.09.2025
Laabs, Laura

Adlergestell


sehr gut

Wendezeit

Es ist Wendezeit am Adlergestell, einer großen Straße und damit wichtigem Verkehrsknotenpunkt, in Berlin. Die Erzählerin und ihre beiden Freundinnen Lenka und Chaline kommen gerade in die Schule, als der Systemwechsel in Deutschland stattfindet. Alle drei mit schwierigen familiären Verhältnissen belastet, müssen ihren Weg in der neuen Welt erst finden.

Laura Laabs erzählt die teilweise erschütternde Geschichte dreier Wendekinder und ihrer Familien aus kindlicher Perspektive. Die Sprache ist dadurch recht einfach gehalten und umgangssprachlich geprägt. Jede der drei Hauptfiguren bringt ihre ganz eigenen und meist schwerwiegenden Probleme mit, die sie durchs Leben treiben.
Das Buch plätschert weitestgehend vor sich hin, große Spannungsmomente fehlen leider. Aber besonders positiv aufgefallen ist mir, dass man am Ende erfährt was aus den drei Mädchen geworden ist und dabei letztlich unerwartete Wendungen eingetreten sind. Mein Fazit: ein etwas eintöniger Roman, der damit aber auch die eintönige Realität am Adlergestell intensiv widerspiegelt.

Bewertung vom 10.09.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


ausgezeichnet

Viel Denkarbeit

In ihrer neuen Heimat außerhalb der Stadt sind Jana und Noah noch nicht richtig angekommen. Während Noah als engagierter Lehrer für seine Arbeit täglich pendelt, hat Jana ihre Arbeit in einer Agentur gekündigt und kümmert sich um das Haus und die beiden Kinder. Außerdem ist sie wieder schwanger. Am Spielplatz lernt sie Karolin kennen, die anscheinend spielend leicht die Betreuung ihrer fünf Kinder, ihre Beziehung zu ihrem Mann und politisches Engagement für die AfD unter einen Hut bekommt. Jana gerät schnell in einen Sog und wird von Karolin wie magisch angezogen, setzt dabei aber ihr gesamtes bisheriges Leben aufs Spiel.

Autorin Hannah Lühmann vermittelt ein detailreiches Bild Janas junger Familie, die vor alltäglichen Aufgaben und Problemen steht. Im Gegensatz dazu gelingt es Karo ihre Großfamilie stets Insta-tauglich zu präsentieren und ihre Geheimnisse zu verbergen. Es geht um unterschwellige Manipulationen, Gerechtigkeit und das Ansprechen der Probleme und Sorgen vor denen viele kinderreiche Familien heutzutage stehen. Als besonders positiv habe ich empfunden, dass keine Partei ergriffen wurde, man muss seine Schlüsse für das Pro und Contra beider Seiten selber ziehen. "Heimat" ist ein atmosphärischer Roman, der dem Leser viel Denkarbeit überlässt und damit nachhaltig im Kopf bleibt.

Bewertung vom 10.09.2025
Hennig, Markus

Die Sekundenochs


ausgezeichnet

Geschichte mit Wimmelbuchcharakter

Immer nur trödeln ist doch auch langweilig. So denkt zumindest Tjörge, ein waschechter Sekundenoch. Und obwohl er immer mehr als nur ein paar Sekunden noch Zeit hat, landet er mit einem Rumms in Smillas Leben. Doch bei Smilla muss es meistens Zack-zack gehen, egal ob auf dem Weg zur Schule, zum Trompetenunterricht oder beim Bettgehen. Wie die beiden diese Gegensätze wohl vereinen können?

"Die Sekundenochs" sind eine bunte Mischung aus kindgerechter Unterhaltung mit ein bisschen Unfug machen und trotzdem daraus lernen können. Beschrieben werden dabei ganz alltäglichen Situationen, die mit Sicherheit jedes Kind schon oft erlebt hat. Spielerisch wird verdeutlicht, dass sowohl zu viel Stress als auch zu viel Trödeln nicht das Wahre sind und es gilt einen Kompromiss dazwischen zu finden. Gleichzeitig bieten die doppelseitigen Illustrationen genügend zum Entdecken an, dass die Vorlesezeit fast schon einen Wimmelbuchcharakter bekommt.

Bewertung vom 07.08.2025
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


ausgezeichnet

Politische Idiotie

Die Berliner trauen ihren Augen kaum: am Ufer der Spree badet ein echter Elefant - und er ist nicht der einzige, der freilaufend entdeckt wird. Dabei sind die Tiere keineswegs aus einem Zoo ausgebrochen, sondern direkt von der botswanischen Regierung nach Deutschland gebracht worden, nachdem der Bundestag ein neues Gesetz zur Reglementierung des Elfenbeinhandels erlassen hat. Die Dickhäuter bringen weniger Faszination, dagegen eher ungeahnte Herausforderungen für Politik und Gesellschaft mitsich.

Die niederländische Autorin Gaea Schoeters widmet sich mit "Das Geschenk" keineswegs einem Fabelmärchen. Der Präsident Botswanas machte im Jahr 2024 tatsächlich das Abgebot, Deutschland 20.000 Elefanten zu überlassen.
Schoeters führt diesen Gedankengang bildlich weiter. Die Leser bekommen nicht nur Einblicke in Ökosysteme mit sogenannter Megafauna, sondern auch in die Funktionsweise und Idiotie der Politik. Zwar erscheint das dargestellte Verhalten allseits menschlich, aber kann man hier noch von human sprechen? "Das Geschenk" ist keine Anklage, vielmehr eine Satire, basierend auf der Wahrheit - die Schlüsse daraus muss jeder selber ziehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.08.2025
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


ausgezeichnet

Toxische Beziehung

Lisa ist eigentlich zufrieden. Es ist Simons Geburtstag. Ihr Mann ist vor kurzem erst von einer beruflichen Reise zurück gekommen. Doch er ist verändert. Auch für Lisa wird in den folgenden Tagen einiges anders. Für ihren Vater ist sie im familieneigenen Hotel nicht nur die Buchhalterin, sondern ein Mädchen für alles. Aber seit die mysteriöse Daniela ein Zimmer im Hotel bewohnt, zählt Lisa noch weniger als vorher. Daniela nistet sich nicht nur beim Chorsingen ein, auch Lisas Freunde gewinnt sie in Windeseile für sich. Schon bald durchschaut Lisa, dass der neue Gast ein Netz aus Lügen und Intrigen um sich herum spinnt, aber welche Absicht steckt dahinter?

"Schattengrünes Tal" fängt leicht und beschwichtigend an. Autorin Kristina Hauff lässt den Leser die verschiedenen Charaktere kennen lernen und baut dabei zunächst wenig Spannung auf. Nach etwa einem Drittel der Geschichte entsteht jedoch plötzlich eine Dynamik, sodass man das Buch nur schwer aus den Händen legen kann. Im Mittelpunkt stehen zweifelsohne die Beziehungen untereinander im Allgemeinen und eine toxische im Besonderen. Dabei sticht heraus, dass nicht nur die sympathischen Figuren sehr authentisch getroffen sind, sondern auch unsympathische Personen detailreich und realistisch gespiegelt werden.
Von mir gibt es gedanklich nur einen minimalen Abzug für die anfängliche Durststrecke, umso herausragender, dass die Spannungskurve zunimmt und nicht nachlässt.

Bewertung vom 24.07.2025
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

Tiefgründige Ahnenforschung

Anna Raesfeld, verw. Vogelheim, geb. Kalthoff, wurde 1867 geboren. Nicht nur wegen der Epoche, in der sie lebte, hatte sie es nicht leicht, auch als junge Lehrerin in Cobbenrode im Sauerland mit Anfang zwanzig - nicht einmal volljährig, ohne Mann - war das Leben damals alles andere als einfach. Als sie 1932 stirbt, wird sie zweifache Mutter sein und zwei Männer geheiratet haben.

Die Titelfigur Anna ist nicht einfach ein fiktiver Charakter, der so gelebt haben könnte, sondern die Urgroßmutter des Autors. Henning Sussebach hat Annas Leben recherchiert. Die zahlreichen Lücken, auf die er gestoßen ist, füllt er mit Vermutungen und Deutungen, wie er Annas Leben sieht oder eben gerne gesehen hätte, lässt aber gleichzeitig Platz für Spekulationen und kritische Gedanken zu. Wo allzu wenig in Erfahrung zu bringen war, bringt er die Jahreszahlen mit realen Geschehnissen aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft in Verbindung. Ihm ist damit ein besonders außergewöhnliches Buch gelungen, zu dem mir kein vergleichbares Werk einfällt.
Hier wurde einer Person Leben eingehaucht, von der es keine Zeitzeugen mehr gibt und auf eine gleichzeitig nüchterne wie auch emotionale Weise den eigenen Ahnen auf die Spur gegangen.

Bewertung vom 24.07.2025
Knecht, Doris

Ja, nein, vielleicht


ausgezeichnet

Mutmacher

Über 50 Jahre alt, vom Vater ihrer beiden Kinder mehr als zehn Jahre getrennt, als Schriftstellerin arbeitend mit einem Hund, einem kleinen Häuschen in der österreichischen Provinz und einer Wohnung in der Stadt - so oder so ähnlich könnte die kurze und nüchterne Beschreibung der namenlosen Erzählerin dieses Buches lauten. Neu dabei sind, ein wackelnder Zahn, der nicht nur Schmerzen bereitet, sondern auch nicht mehr zu retten ist und ein alter Liebhaber von früher, wo sich wohl beide Seiten noch nicht entschieden haben, ob die alten Gefühle aufgewärmt werden können oder nicht.

Doris Knecht gelingt auf humorvolle und trotzdem ehrliche Art und Weise von den Vor- und Nachteilen des Älterwerdens zu erzählen. Obwohl die Schattenseiten deutlich ausgeführt werden, bekommen sie nicht genügend Raum, um das Leben der Protagonistin traurig oder in irgendeiner Form negativ erscheinen zu lassen. Die ungeschminkte Wahrheit lädt an vielen Stellen zum Schmunzeln ein, zieht die alltäglichen Probleme der durchschnittlichen Frau über 50 aber keineswegs ins Lächerliche und macht Mut. Denn von einer Person verlassen worden zu sein, bedeutet nicht automatisch alleine sein. Und für diejenigen, die sich zwischen "Ja" und "Nein" nicht gleich entscheiden können, reicht für den Moment auch erst mal ein "Vielleicht".

Bewertung vom 11.07.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


ausgezeichnet

Parallelwelten

Antonia liebt Jakob. Nach dem Zusammenziehen wollen sie den nächsten Schritt wagen und ein gemeinsames Kind haben. Aber es läuft alles anders, als sie es sich vorgestellt hatten, ihr Weg führt über Kinderwunschbehandlung und Hormone und endet trotzdem nicht mit einem Baby.
Und dann wacht Antonia auf und hat ein Neugeborenes auf ihrem Bauch liegen, knapp über der Kaiserschnittnarbe. Der Mann neben ihr ist aber nicht Jakob, sondern Adam, ihre Jugendliebe. Dabei kann sie sich weder an die Schwangerschaft oder die Geburt noch an ihr gemeinsames Leben erinnern.

"Im Leben nebenan" erzählt die Geschichte einer jungen Frau, deren Gegenwart vom Kinderwunsch geprägt ist. Ungeschönt und trotzdem einfühlsam lässt Autorin Anne Sauer die Leser an Antonias Gefühlswelt teilhaben. Diese Kapitel wechseln sich mit Antonias Leben als frisch gebackener Mutter ab. Dieses Buch zeigt nicht nur eine Perspektive, sondern beleuchtet mehrere Seiten des Mutterseins. Besonders geschickt ist die Verwebung der beiden Parallelwelten ineinander, von der man sich eine Auflösung am Ende erhofft.
Dieses Buch hat mich tief berührt. Es schlägt sich thematisch nicht auf eine Seite, sondern lässt viel Spielraum für Interpretationen zu und regt nachhaltig zum Nachdenken - auch über das eigene Leben - an.