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Tokall

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Insgesamt 75 Bewertungen
Bewertung vom 31.05.2024
Wenn sie lügt
Geschke, Linus

Wenn sie lügt


gut

Schicksalsort
Von Linus Geschke habe ich bisher „Das Loft“ und „Die Verborgenen“ gelesen, die mir beide sehr gut gefallen haben. Vor allem „Das Loft“ ist mir in sehr guter Erinnerung geblieben (vgl. dazu eine frühere Rezension). Als Thriller-Autor ist Linus Geschke also bei mir gesetzt. Trotzdem stelle ich mir die Frage: Kann sein neuestes Werk qualitativ mit „Das Loft“ mithalten? Eines gleich vorweg: In meinen Augen, leider nein. Ich will gleich gerne begründen, warum…

Doch zunächst zum Inhalt: Goran kehrt in sein tristes Heimatdort Waldesroda zurück, weil seine alte Freundin Norah von einem Unbekannten Drohbriefe erhält und nun seine Unterstützung benötigt. Wer steckt hinter den Briefen? Was ist ihr Inhalt? Und warum wird Norah bedroht? Und von wem? Was bezweckt der Schreiber mit seinen Briefen? Auf der Autofahrt wird Goran bereits von dunklen Erinnerungen an ein vergangenes Verbrechen geplagt. Vor vielen Jahren wurde in Waldesroda ein junges Liebespärchen brutal ermordet. Stehen die Drohbriefe in Zusammenhang mit dem damaligen Mord, der nie vollständig aufgeklärt wurde? Ist der Täter, den man bislang für tot hielt, vielleicht doch noch lebendig und will sich an Norah rächen? Das sind die die Ausgangsfragen, die man sich stellt, wenn man den Thriller zu lesen beginnt.

Im Zentrum der Handlung stehen Norah und Goran sowie die Mitglieder der Clique von damals. Goran ist nach dem Mord damals nach Berlin geflüchtet, weil er es in seinem Heimatdort nicht mehr aushielt. Er hat einen harten Schnitte zu seinen Freunden von damals vollzogen. Norah trägt ihm seine Flucht immer noch nach. Eine Entfremdung zwischen Goran und Norah ist deutlich spürbar. Das Wiedersehen zwischen beiden verläuft zunächst alles andere als harmonisch. Norah begegnet Goran vorwurfsvoll. Werden sich die beiden einander wieder annähern? Ist Norah überhaupt bereit dazu, die Hilfe von Goran anzunehmen? Und ist Goran in der Lage, das Rätsel um die Briefe zu lösen?

Es handelt sich bei diesem Werk, wie man es von Linus Geschke kennt, um einen gut konstruierten, mehrperspektivischen Thriller. Neben den sich abwechselnden Perspektiven von Norah und Goran, die nach meinem Empfinden gut aufeinander abgestimmt sind, gibt es Rückblicke in die Jugendzeit der Clique sowie eingeschobenen Täterkapitel, die mit „Er“ überschrieben sind. Darüber hinaus fügt der Autor in unregelmäßigen Abständen zwischen die Kapitel auch immer einmal wieder statistische Angaben über Morddelikte in Deutschland ein. Der Bezug zum Inhalt der jeweiligen Kapitel ist mir dabei aber nicht so ganz klar geworden. Was ich in inhaltlicher Hinsicht etwas dünn fand: Der Autor bringt zu Beginn ein interessantes psychologisches Thema mit ins Spiel (die Borderline-Störung), vernachlässigt diese Thematik dann jedoch wieder. Schade! Das psychologische Element kommt mir dieses Mal leider eindeutig zu kurz. Dafür fand ich wiederum interessant, dass punktuell die Themen „Integration“ und „Interkulturalität“ aufblitzen, allerdings nur in sehr zurückhaltender Form.

Was ich loben möchte: Die Charakterzeichnung der einzelnen Charaktere ist gelungen und auch die Beziehungsverhältnisse zwischen den einzelnen Figuren sind durchdacht angelegt worden. Durch die Gegenwarts- und Vergangenheitsebene kann man auch dynamische Entwicklungen bei den einzelnen Cliquenmitgliedern feststellen. Auch das überzeugt. Was mir allerdings fehlte, war ein hohes Maß an Spannung. Der Thriller hatte zwischendurch schon auch immer wieder Längen. Die Spannung baut sich nur langsam auf, hält dann eine gewisse Zeit an und ebbt im Mittelteil des Buchs wieder stark ab, weil es inhaltlich einfach kaum vorangeht. Stattdessen liest man viele (redundante) Gespräche, die zu wenig neue Erkenntnisse zutage fördern. Langatmig! Für mich trat die Handlung stellenweise viel zu sehr auf der Stelle.

Wäre ich nicht so sehr an dem Schicksal der Clique interessiert gewesen und hätte Anteil an den Geschehnissen um Goran und Norah genommen, so hätte ich mir ernsthaft überlegt, ob ich noch weiterlesen möchte. Die Spannung wird in erster Linie (von außen) „erzwungen“, sie entsteht nicht aus der Handlung selbst heraus. Es muss immer wieder betont werden, dass es in der Vergangenheit „Geheimnisse“ gibt, die im Verborgenen liegen. Das macht natürlich neugierg und hielt mich auch bei der Stange. Aber ich war nicht gefesselt, es hat mich nicht gepackt. Ich wollte halt einfach nur wissen, was denn jetzt genau damals passiert ist. Das sind durchschnittliche 3 Sterne. Warum nicht weniger? Weil es immerhin noch einige überraschende Wendungen gab, die der Handlung etwas (wenn auch wenig) Schwung verliehen und auch das Ende war sauber auserzählt.

Bewertung vom 15.05.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

"Wutklumpen"
Zu Beginn des Romans „Windstärke 17“ wird vor allem die Orientierungslosigkeit von Ida, der kleinen Schwester von Tilda, nur allzu deutlich. Ihre alkoholkranke Mutter ist verstorben und sie muss sich darum kümmern, die Wohnung zu kündigen, und sich entscheiden, welche Richtung sie ihrem Leben geben möchte. Sie schottet sich von ihrer Umwelt ab und sucht nach Halt. Was hat sie nun vor? Wird sie ihr Studium fortsetzen? Wo wird sie wohnen? Viele ungelöste Fragen, die sie und die Leserinnen und Leser gleichermaßen beschäftigen.



Ida wirkt überfordert mit der Situation. Sie will mit sich alleine sein, sich neu ausrichten. Um ihren psychischen Zustand ist es nicht gut bestellt. Das wird gut greifbar. Tildas Hilfsangebote lehnt sie ab. Stattdessen setzt sie sich in einen Zug nach Rügen und quartiert sich in einer Jugendherberge in Binz ein. Sie nimmt einen Job als Kellnerin an, um ihren Unterhalt zu verdienen, und lernt Leif kennen. Als Ida krank wird, kümmert sich ihr Chef Knut zusammen mit seiner Frau Marianne um sie. Sie bieten Ida an, bei ihnen zu wohnen. Wird es den beiden gelingen, Ida aus ihrem Loch herauszuholen? Oder wird Leif sie wieder aufbauen und aus ihrer Krise herausführen? Und wie geht es mit Ida weiter?


Während der Lektüre habe ich Idas Entwicklung mit Neugier begleitet. Ich wollte wissen, ob sie in ihr Leben zurückfindet, wieder auf die Beine kommt und von jemandem aufgefangen wird. Das hat für mich die Spannung des Romans ausgemacht. Hinzu kommen die authentischen Darstellungen des psychischen Zustands von Ida, der zwischenmenschlichen Beziehungen und vertiefende Rückblicke in glücklichere Zeiten. Wir erfahren nun, was aus Ida geworden ist, nachdem Tilda sie im Alter von 11 Jahren bei ihrer Mutter zurückgelassen hat. Anders als in „22 Bahnen“ steht dieses Mal die jüngere Schwester im Zentrum der Handlung, über Tilda erfahren wir zwar auch etwas, aber das immer nur am Rande. Ohne zu viel zu verraten: Es zeigt sich ein klarer Kontrast zwischen beiden Schwestern. Während die eine ihr Leben im Griff hat, steckt die andere in einer tiefen Krise.



Das Werk weist nach meinem Gefühl eine traurig-hoffnungsvoll Stimmung auf. Und es gelingt der Autorin hervorragend, die Stimmung der Leserinnen und Leser mal in die eine, mal in die andere Richtung zu lenken. Was mir auch wieder gut gefallen hat, waren die Passagen mit wörtlicher Rede, die mit redeeinleitenden Vornamen markiert werden. Sie verleihen der Handlung Unmittelbarkeit, Direktheit und Lebendigkeit. Und die Warmherzigkeit von Knut, Marianne und Leif hat mir ebenfalls zugesagt. Sie kümmern sich uneigennützig, ohne Hintergedanken und aufopferungsvoll um Ida. Darin steckt eine hoffnungsfrohe Botschaft, wie ich finde. Letztlich behandelt „Windstärke 17“ die großen menschlichen Themen: Liebe, Tod, Krankheit. Und die Umsetzung dieser Themen hat mir sehr, sehr gut gefallen. Man nimmt Anteil an dem Schicksal der Figuren und die Spannung ergibt sich aus der Handlung von selbst heraus. 5 Sterne von mir.

Bewertung vom 04.05.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


sehr gut

Einblick in eine hart umkämpfte Branche
Auf den ersten Seiten trieft „Yellowface“ von Rebecca F. Kuang vor allem vor eines: vor NEID. Die Ich-Erzählerin June Hayward berichtet uns Lesern von ihrer besten Freundin Athena Liu. Beide sind Schriftstellerinnen, doch die eine ist erfolgreicher als die andere. Und June neidet Athena ihren Erfolg. Sie erscheint uns also als höchst unsympathischer Charakter. (...). Kurzum: Von einer Freundschaft zwischen den beiden kann nicht die Rede sein.



Auf ihrem Höhepunkt des Erfolg angekommen (Athena hat gerade erst einen Vertrag über eine Verfilmung unterschrieben), bricht das Unglück hart über sie herein. Athena erstickt an einem Stück Pfannkuchen und June kann ihr nicht mehr helfen. Die Ich-Erzählerin nutzt die Gunst der Stunde, entwendet Athenas unvollendetes Manuskript, überarbeitet es und gibt es als ihr eigenes heraus. Ihre Trauer hält sich in Grenzen. Sie schlachtet das Geschehen sogar noch für Twitter aus. Dabei wird deutlich, dass sie ihre Betroffenheit über den Tod der Freundin regelrecht spielt. Spätestens jetzt hat June alle Sympathien beim Leser verloren.



Im weiteren Handlungsverlauf erleben wir die Geschichte des Auf- und des Abstiegs von June. Sie rechtfertigt sich in einer direkten Leseransprache sogar für ihr Handeln. Und zunächst ist sie überaus erfolgreich. Sie verdient gutes Geld. Ihr plagiiertes Buch schlägt sofort in die Bestseller-Liste ein. Sie wird mit Preisen überhäuft und erhält viele Einladungen zu verschiedenen Veranstaltungen. Und wir erhalten folgende Einblicke in den Literaturbetrieb: in die Überarbeitungsprozesse eines Textes sowie in das Marketing eines Titels. Spannend und für mich neu war auch die Information, wie sensibel Werke vermarktet werden müssen (Stichwort: kulturelle Aneignung), um nicht den Zorn der sozialen Medien auf sich zu ziehen. Es gibt sogar sogenannte „sensitivity reader“, die ein Werk im Vorfeld auf problematische Textstellen überprüfen. Das wusste ich nicht! Auch ein entsprechendes Image von Autoren muss kreiert werden. Und um die Verkaufszahlen zu forcieren, muss auf „social-media“- Kanälen viel zur textverfassenden Person und zum Buch gepostet werden. Zu einer Wendung kommt es, als dann die Vorwürfe im Netz auftauchen, dass June plagiiert hat. Es stellen sich folgende Fragen: Wie wird June mit der Beschuldigung umgehen? Wie geht es mit ihr weiter? Und wer steckt hinter den anonymen Behauptungen? Und woher wissen die anonymen Stimmen von Junes Diebstahl? Ich verrate nur so viel: Es ist unglaublich, mit welcher Verachtung und mit welchem Psychoterror man June fortan begegnet. Auf den sozialen Medien wird eine Hexenjagd auf sie veranstaltet. Der Klatsch und Tratsch, der entsteht, ist niederträchtig. Paradoxerweise kurbelt der Hass auf June aber ihre Verkaufszahlen an. Verrückte Welt! Sicherlich auch ein Seitenhieb auf den „hatespeech“ im Internet und noch dazu ein kritischer Hinweis auf die Macht von „social-media“. (...)



Folgendes hat mich an dem Buch gestört: Wie erwähnt, muss man sich als Leser darauf einlassen können, dass es sich bei June um eine unsympathische Figur handelt. Ich habe mich stellenweise etwas schwer mit der Protagonistin getan. Darüber hinaus habe ich mich stellenweise gefragt, wie realistisch der Einblick in die Buchbranche ist. Ist das, was über den amerikanischen Betrieb rund ums Buch geschildert wird, ohne Weiteres auf den deutschen Markt übertragbar (z.B. das hohe Honorar im Zuge von Vertragsverhandlungen? Werden wirklich sechsstellige Summen für Bücher bezahlt?). Ich denke eher nicht, aber ich bin natürlich kein Experte. Mir erschien die Darstellung von Autoren als „Popstars“ nicht sehr wirklichkeitsnah. In Deutschland stellt sich die Situation sogar eher so dar, dass gerade junge Autoren, die sich durchsetzen wollen, nicht gerade üppig bezahlt werden. Sie erhalten als Tantiemen ca. 5-10% des Verkaufspreises pro Buch (vgl. dazu z.B. die Informationen auf der Seite von „Autorenwelt“). Was ich mich auch gefragt habe: Führen die Verlage eigentlich Marktforschung durch, um zu überprüfen, ob die Marketing-Strategien auch den gewünschten Effekt nach sich ziehen? Nach meinem Geschmack hätte der Einblick in den Literaturbetrieb sogar noch tiefgründiger ausfallen können. Das Geschäft mit den „sensivity readern“ kannte ich zwar bisher nicht, aber der Rest war für mich nichts Neues oder Überraschendes. Und abschließend noch ein Kritikpunkt, der auch in vielen anderen Rezensionen bereits benannt worden ist: Ist die genderneutrale Schreibweise in dem Buch ein Störfaktor? Mich hat es nicht gestört, aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Doppelpunkt-Schreibung nicht barrierefrei ist (vgl. dazu meine Rezension zu Johanna Usinger: „Einfach können. Gendern“). Auch gebe ich zu bedenken, dass es vom Rat für Rechtschreibung noch keine klare Regelung gibt. Ich gebe dem Buch aufgrund der genannten Kritikpunkte 4 Sterne. Es war eine unterhaltsame Lektüre, aber kein Highlight, das 5 Sterne verdient.

Bewertung vom 25.04.2024
Nachspielzeiten
Vogelsang, Lucas

Nachspielzeiten


gut

König Fußball
Wer kann sich nicht an viele unglaubliche Ereignisse im Fußball erinnern? Da ist es nicht leicht eine passende Auswahl zu treffen. Es stellt sich also die Frage, ob es Lucas Vogelsang mit seinen „Nachspielzeiten“ gelingt, schöne Highlights herauszugreifen und zu betrachten. (...)

Im ersten Kapitel erinnert sich Vogelsang zurück an den Sieg der Griechen bei der Europameisterschaft 2004. Ein Wunder, mit dem damals niemand gerechnet hat. Wie ist dieser Titel überhaupt möglich geworden? Der Autor rückt vor allem die große Bedeutung von Topalidis als Co-Trainer von Rehagel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Er ist es v.a., der die Sprachbarriere zwischen Trainer und Mannschaft überbrückt und damit den Grundstein für den griechischen Erfolg ermöglicht. Sehr interessant! Auch die Höhepunkte der Spiele der Griechen bei der EM werden packend, leidenschaftlich und emotional geschildert. Das erste Kapitel hat mir am besten gefallen!

Weitere große Momente der Fußballgeschichte erwarten uns auch in Kapitel 2, in dem Vogelsang Mehmet Scholl näher porträtiert. Mit seiner flapsigen Art eckte dieser oft an, war aber stets ein wichtiger Stimmungsmacher in der Kabine. Das schwierige Verhältnis zu Berti Vogts und zum DFB wird ebenso thematisiert wie sein Wirken als Fernsehkommentator. Im Laufe seiner Fernsehkarriere gerät Scholl in Konflikte mit Joachim Löw, den er allzu oft offen und scharft kritisiert. Und auch mit der ARD kommt es zum Zerwürfnis. (...)

In Kapitel 3 wird das TV-Format des Dschungelcamps vorgestellt, an dem inzwischen zahlreiche bekannte Fußballspieler teilgenommen haben. In meinen Augen hätte Vogelsang gerne auf dieses Kapitel verzichten können und stattdessen eher einen weiteren erinnerungswerten fussballerischen Augenblick betrachten können. Aber nun gut…Geschmackssache. Nach und nach werden sie uns alle in Erinnerung gerufen: Jimmy Hartwig, Eike Immel, Ailton, Thorsten Legat, Thomas Häßler (!).

Auch im vierten Kapitel wird ein (schillernder) Fußballer porträtiert: Tim Wiese. Wieder eine Person, die stark polarisiert. Seine Karrierestationen werden nachgezeichnet. Es ist v.a. die Geschichte eines tragischen Karriereendes. In der Nationalmannschaft kann er sich nicht durchsetzen, in Hoffenheim wird er schließlich ausrangiert. In jüngster Zeit hat Wiese durch weitere negative Schlagzeilen auf sich aufmerksam gemacht.

Im fünften Kapitel lernen wir Christian Fährmann kennen, ein Kind der Hertha. Auch hier widmet sich der Autor vor allem den negativen Entwicklungen in Fährmanns Lebenslauf. Hat mich nicht wirklich erreicht. Kapitel 6 wird dann wieder besser. Es geht um den Verein Cosmos New York, der zunächst Pele, dann Beckenbauer holte, um Fußball in den USA massentauglich zu machen. Beide wurden zu den Zuschauermagneten, die man sich gewünscht hatte. Und New York lag ihnen zu Füßen. (...) Für mich auch deshalb ein interessantes Kapitel, weil es weit zurückliegt (Mitte der 70er Jahre).

Im letzten Kapitel geht es abermals um eine tragische Figur des Fußball: Paul Gascoigne. Zwar werden auch seine fußballerischen Leistungen gewürdigt (WM 1990 und EM 1996), aber es geht v.a. wieder um seinen tiefen Sturz in den Alkohol. Ihm gegenübergestellt wird sein einstiger Widersacher Vinnie Jones, der einen beispielhaften Aufstieg als Schauspieler hinlegte. War mir inhaltlich zu reißerisch…

Was auffällt: Vogelsang versteht es in den einzelnen Kapiteln sehr gut, aus den Geschehnissen eine Erzählung zu formen. Auch der Schreibstil ist gelungen und oft sehr kreativ, wenn auch oft reißerisch. Es ist ein Text, der auf Unterhaltung abzielt. Emotionenen sollen geweckt werden. Hat mich vor allem an den Stil in Boulevardmedien erinnert. Die Kapitel lesen sich allesamt sehr flüssig und eingängig. Der Inhalt ist kurzweilig. Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass das Spiel noch mehr im Mittelpunkt gestanden hätte. Vor allem die packende Schilderung von großen Momenten auf dem Platz haben mich interessiert. Und auch der Ausflug in die 70er Jahre hat mir zugesagt. Dem Autor geht es aber oft um den „Menschen“ hinter dem Spieler. Spielerporträts stehen inhaltlich stark im Vordergrund. Allerdings wird dabei eine Etikettierung des Spielers von außen vorgenommen. Die Meinung zu Fußballern und zur Wahrnehmung von Geschehnissen auf dem Platz wird stark gelenkt. Eine sachlich-neutrale Bestandsaufnahme darf man jedenfalls nicht erwarten. Und der Autor beschränkt sich v.a. auf solche Momente, die von den Medien bereits entsprechend ausgeschlachtet worden sind. Oft konzentriert er sich auf Negatives, v.a. tragische Abstürze und Misserfolge scheinen ihm eine Betrachtung wert zu sein. Somit komme ich zu einem gemischten Urteil. Ich erkenne viel Potential in dem Geschriebenen, es gab zahlreiche Passagen, die ich interessant und packend fand. Aber oft war es mir auch zu reißerisch (ja, das habe ich schon mehrfach erwähnt). So komme ich auf 3 Sterne!

Bewertung vom 23.04.2024
25 letzte Sommer
Schäfer, Stephan

25 letzte Sommer


ausgezeichnet

Glücksmomente

Beginn des Romans „25 letzte Sommer“ von Stephan Schäfer (sein Debut!) wird deutlich, dass der Protagonist unter einem „mental overload“ leidet, sein Kopf ist voll mit zu erledigenden Aufgaben und unerfüllten „to-do’s“. Er kommt kaum zur Ruhe, schläft schlecht. Mit seinen Gedanken ist er selten im Hier und Jetzt. Kurzum: Er ist absolut gestresst! Die Arbeitsverdichtung, die ihn belastet wird nur allzu greifbar. Immer mehr Pflichten, immer weniger Freiheit. Für mich ein exemplarisches Schicksal, wie es für viele Arbeitnehmer in Deutschland stehen kann. Ein Buch, das deutlich macht, wie zentral „Achtsamkeit“ im Leben ist. Es wird deutlich, wie extrem wichtig es ist, in seinem Leben persönliche Glücksmomente bewusst wahrzunehmen und zu genießen.


Doch der Protagonist wirkt auf mich selbstreflektiert und ist seinem Stress nicht hilflos ausgeliefert. Er nimmt ihn schließlich wahr, treibt Sport und findet zwischendurch immer auch Ruhemomente. Er weiß, wie er aus seinem stressigen Alltag ausbrechen kann. Aber dennoch ist er mit seinem Leben nicht zufrieden. Auf einer morgendlichen Jogging-Runde begegnet er Karl, mit dem er ins Gespräch kommt und von dem er einen alternativen Lebensentwurf kennen lernt. Beim gemeinsamen Kaffee verwickelt Karl den Erzähler in ein Gespräch, in dem er am Leben seines Gegenübers Anteil nimmt. Er und Karl lernen sich nicht nur oberflächlich kennen: „Karl wusste nach einer Stunde mehr von mir als mein Chef nach zehn gemeinsamen Jahren Bürotür an Bürotür“ (S. 22).



Karl berichtet von seinem Leben und wie er ihm eine glückliche Wendung gab. Irgendwann stellte er sich die entscheidenden Fragen: „Warum habe ich nicht viel mehr mein eigenes Leben gelebt, warum war es mir so wichtig, die Erwartungen anderer zu erfüllen? Warum hab ich so viel Zeit mit Arbeit verbracht, anstatt mit Menschen und Dingen, die mir wirklich etwas bedeuten? Aber auch: Warum hab ich mir selbst nicht oft genug erlaubt, einfach das zu tun, was mir guttut? Und warum hab ich nicht mehr im Leben gewagt? Was hätte schon passieren sollen“ (S. 33-34).



Es macht den Eindruck, als ruhe Karl in sich selbst und habe sein Glück gefunden. Auch die Rolle des Smartphones wird stellenweise immer einmal wieder kritisch beleuchtet. Karl lässt den Erzähler für einen Tag an seinem Leben teilhaben. Und der Lebensstil imponiert seinem Gast. Die Herzlichkeit, Güte und Gelassenheit von Karl werden zu einem Glücksmoment, zu einem Innehalten. Raus aus dem alltäglichen „Hamsterrad“, hinein ins Glück und in die Zufriedenheit. Der Kontrast zwischen dem beruflichen Aussteiger Karl einerseits und dem Erzähler als städtischen Berufsmenschen andererseits wird nur allzu deutlich. Karl hat sich seinen Lebenstraum erfüllt. Er ist Landwirt und Selbstversorger geworden, lebt von seiner eigenen Hände Arbeit.



Der Erzähler öffnet sich gegenüber seinem Gastgeber. Etwas, das ihm bei anderen Menschen nicht so leicht möglich ist. Zwischen beiden Gesprächspartnern, die sich ja kaum kennen, entsteht innerhalb kürzester Zeit eine große Verbundenheit. Und der Protagonist lernt im Gespräch einiges dazu. So berichtet ihm Karl auch von seinen Reisen durch die Welt, wo ihm Mohamed begegnete. Dieser gab ihm folgende Kriterien mit auf den Weg, wenn es darum geht, schwierige Lebensentscheidungen für oder gegen etwas zu treffen: „Erstens: Gibt es dir Liebe und Frieden? Zweitens: Gibt es dir Lebensfreude und Energie? Drittens: Gibt es dir Freiheit und Selbstbestimmung? Viertens: Gibt es dir Ruhe und Halt?“ Der Hof und Karls Leben werden für den Erzähler zu einem Sehnsuchtsort. Das ist deutlich spürbar. Anders als sein Gast ist der Landwirt aus dem „höher-schneller-weiter-Karussell“ ausgestiegen und genießt den Müßiggang.



Im Gespräch wird am Beispiel des Tennisspiels auch der Leistungsgedanke diskutiert. Nach Ansicht des Erzählers bringe dieser nicht nur Vorteile mit sich. Bücher, Musik und Kunst gehören hingegen für Karl als Ausdruck von Emotionalität zum Leben dazu. Wir erfahren auch, dass Karl krank ist. Er leidet unter eine chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung, die fortschreitend verläuft und unheilbar ist. Und für den Umgang mit der Krankheit hat Karl abermals einen weisen Rat: „Es ginge nicht darum, sich zu fragen: Warum ich? Sondern: Warum nicht ich? Die Krankheit sei jetzt Teil von mir. Ich dürfe ihr nicht zu viel Beachtung schenken. Auch nicht in schwachen Momenten. Eine andere Existenz würde ich nun mal nicht bekommen“ (S.160-161). Das Treffen des Erzählers mit Karl führt zu einer neuen Freundschaft. Ein weises Buch, das Schäfer vorlegt. Eines mit vielen lebenswichtigen Botschaften. Ich wünschte mir, dass die Leserschaft in ihrem Leben auch jemanden wie Karl kennen lernt.

Bewertung vom 16.04.2024
Die Influencerin
Russ, Rebecca

Die Influencerin


sehr gut

Die Schattenseiten des Erfolgs
Der Prolog des Thrillers „Die Influencerin“ von Rebecca Russ (2024) reißt schon einmal direkt mit. Wir sind in der Gedankenwelt einer Userin, die obsessiv den Account einer Influencerin verfolgt, und das mit einer Hingabe, die weit über das normale Maß hinausgeht. Es wirkt beängstigend. So jemanden möchte man nicht als Followerin haben. Und im weiteren Handlungsverlauf zeigt sich, dass wir dieser Perspektive immer einmal wieder begegnen. Wir haben es mit einer Stalkerin zu tun, die sich von der Influencerin, der sie folgt, im Stich gelassen fühlt und sich dafür rächen möchte. Schritt für Schritt will sie deren Leben vernichten…


Nach dem Prolog folgt ein Schwenk zu Sarah, die ihre Online-Karriere als Influencerin beenden will. Sie hat ihr intimstes Leben lange Zeit mit der Allgemeinheit geteilt, kaum ein Aspekt ihres Daseins war nicht öffentlich. Die Follower durften sie durch ihren Alltag begleiten. Doch davon hat sie genug. Grund für ihren Rückzug sind die vielen Hasskommentare, die wie eine Welle über ihren Account schwappen und die sie nicht länger ertragen kann. Sogar ihre Tochter leidet in der Schule darunter. Sie wird von ihrer Community für den Selbstmord einer Followerin verantwortlich gemacht. Sarah hat auf einen Hilferuf eines jungen Mädchens in Form eines öffentlichen Kommentars auf ihrem Instagram-Account nicht reagiert und diese hat sich später umgebracht. Die Community macht Sarah dafür verantwortlich und gibt ihr eine Mitschuld. Einige User:innen bezeichnen sie als Mörderin. Zu Beginn jedes Kapitels werden fiktive Hasskommentare an Sarah vorangestellt, die die Schattenseiten der sozialen Netzwerke aufzeigen.



Was während der Lektüre deutlich wird, ist, dass Sarah auch nach der Deaktivierung ihres Accounts weiter den Erwartungsdruck ihrer Follower spürt und sich selbst große Vorwürfe macht, dass sie die Hilferufe des Opfers nicht rechtzeitig erkannt hat. Der Sozialstress, den Sarah als Influencerin erlebt, kommt ebenfalls gut zum Ausdruck. Sie muss auf Nachrichten reagieren, muss Kontakte pflegen. Sie ist überfordert mit den vielen Mitteilungen, die sie erreichen (die Kehrseite des Influencer-Daseins). Eine gefährliche Dynamik entwickelt die Handlung, als ein Fake-Account von Sarah im Netz auftaucht, auf dem heimlich aufgenommene, intime Fotos von ihr geteilt werden. Offensichtlich wird sie von jemandem beobachtet, verfolgt und bedroht. Doch wer steckt dahinter? Und wie wird sich Sarah dagegen zur Wehr setzen? Das sind die zentralen Fragen, die den Inhalt vorantreiben.



Durch die Präsenz der Stalkerin in unmittelbarer Schlagdistanz zum Opfer entsteht eine permanente Bedrohungssituation, die ein gutes Maß an Spannung erzeugt. Das ist geglückt. Das Tempo ist hoch und es passiert ständig etwas Neues. Die Autorin greift geschickt auf spannungserregende Impulse zurück, es gibt einige Wendungen und am Ende kommt es auch zu unerwarteten Überraschungen. All das überzeugt. Der psychische Zustand von Sarah verschlechtert sich zusehends. Auch das kommt gut zum Ausdruck und ist gelungen arrangiert. Beiläufig werden auch die Gefahren sozialer Medien auf diese Weise problematisiert. Auch das ist lobenswert. Das einzige, was bei mir nicht aufkam, war eine Sogwirkung. Ich habe das Buch nicht „inhaliert“, und das obwohl Russ so viel richtig macht. Das bleibt für mich ein offenes Rätsel für die Zukunft. Wie schaffen es manche Bücher, eine Sogwirkung zu erzeugen und andere nicht, obwohl sie eigentlich alle Voraussetzungen dafür hätten. Ich hoffe, dass ich die Antwort darauf irgendwann finde. Von mir gibt es 4 Sterne.

Bewertung vom 15.03.2024
Der ehrliche Finder
Spit, Lize

Der ehrliche Finder


ausgezeichnet

Hilfsbereitschaft
Der Roman „Der ehrliche Finder“ ist der dritte Roman der Autorin Lize Spit, die v.a. mit ihrem Debut „Und es schmilzt“ in ihrer Heimat für Aufsehen gesorgt hat. Sie hat sich für ihr Buch von einem wahren Fall inspirieren lassen, von der Geschichte der zehnköpfigen Familie Zenelaj, die vor dem Krieg im Kosovo nach Belgien flüchtete. Zentral sind die Themen „Freundschaft“ und „Flucht“. Im Zentrum der Handlung steht der Drittklässler Jimmy, der zu einem Übernachtungsbesuch bei seinem kosovarischen Freund Tristan Ibrahimi eingeladen wird.

Die Stärke des Romans ist in meinen Augen die Charakterzeichnung von Jimmy. Er leidet einerseits unter der Scheidung seiner Eltern sowie den beruflichen Verfehlungen seines Vaters und legt einige ungewöhnliche, auffällige Verhaltensweisen an den Tag. Andererseits ist er ein außerordentlich leistungsstarker Schüler, der sich aufopferungsvoll um seinen neuen Mitschüler Tristan und dessen Lernerfolg kümmert. Es wird sehr gut deutlich, dass Jimmy zeitgleich Außenseiter und hilfsbereiter Freund ist. Allerdings wirkt seine Hilfsbereitschaft besitzergreifend und obsessiv, sie geht über ein normales Maß hinaus, war mein Eindruck. Er nimmt seine Aufgabe mehr als ernst. Jimmy scheint selbst eine schwere Zeit durchzumachen. Und zugleich ist er sehr, sehr stark auf Tristan fixiert. Das Verhalten von Jimmy hat stellenweise etwas Zwanghaftes an sich. Alles muss seine Ordnung haben, das zeigt sich insbesondere bei seiner Sammelleidenschaft. Nicht zuletzt ist er sehr leichtgläubig und beeinflussbar, stellenweise wird sogar deutlich, dass er sich geprüft fühlt. Als Familie Ibrahimi in eine Krise gerät, will Jimmy helfen und hinterfragt in meinen Augen (zu) wenig. Die Verzweiflung der Ibrahimis führt zu einem Akt des irrationalen Handelns. Und Tristan scheint Jimmys Gutmütigkeit und Naivität ausnutzen. Oder ist es doch nur kindlicher Leichtsinn, der sich hier zeigt? Für mich sind hier verschiedene Lesarten deutlich. Das hat mir sehr gut gefallen!

Was in erzählerischer Hinsicht sehr gelungen ist, ist der Umstand, dass wir die ganze Zeit an Jimmys Perspektive gebunden sind. Aus seiner Sicht wird erzählt. Es fehlt eine Außensicht auf ihn. Ich hätte mir stellenweise einen anderen Blickwinkel gewünscht, um mir vorstellen zu können, wie Jimmy auf Tristan und die Ibrahimis wirkt. Aber ich denke, die Autorin hat sich bewusst für diese erzählerische Gestaltung entschieden, um auf diese Weise Interpretationsspielräume zu eröffnen. Sehr geschickt! Am Ende kulminiert die Handlung in einem packenden Höhepunkt. Der Aufbau von Spannung ist der Autorin sehr gut gelungen. Als Leser:in ahnt man und man befürchtet, worauf es hinausläuft, aber man hofft bis zum Ende, dass es nicht so weit kommt. Das Ende problematisiert eine zentrale Frage im Hinblick auf „Flucht“: Wohin führt es, wenn man institutionellen Druck auf Flüchtlinge ausübt? Ein Thema, das hochaktuell ist. Von mir gibt es für dieses großartige Buch 5 Sterne!

Bewertung vom 29.02.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Wunsch und Wirklichkeit
Was ich an Markus Thiele und an seinen Büchern, die ich kenne, sehr schätze: Er leuchtet Grauzonen des Rechts in Deutschland aus und lässt sich dabei von wahren Fällen inspirieren. So war es bei „Die sieben Schalen des Zorns“ (vgl. dazu eine frühere Rezension), und so ist es auch bei seinem neuesten Werk „Zeit der Schuldigen“. Hinzu kommt seine Expertise als Jurist. Man merkt seinen Büchern an, dass er sich fachlich gut auskennt und auf diese Weise lernt man beiläufig auch noch etwas über das Rechtssystem in Deutschland dazu.

Seine Bücher dürften insbesondere für Fans von „True Crime“ interessant sein. Wer z.B. Ferdinand von Schirach oder die Justiz-Krimis von Florian Schwiecker und Michael Tsokos mag, der wird auch an den Büchern von Markus Thiele Gefallen finden. Und eines gleich vorweg: Thiele muss den Vergleich mit den genannten Autoren nicht scheuen. Das beweist sein neuestes Werk einmal mehr. Er schreibt fesselnd, lebendig, man bleibt an den Seiten haften und er fordert die Leser:innen zum Nachdenken heraus. Der Fall, den er in „Zeit der Schuldigen“ schildert, wird nicht nur packend erzählt, der Stoff zeigt Grenzen des Rechts auf und emotionalisiert sehr stark. Und auch sein Nachwort ist erhellend und kenntnisreich (Mein Rat: dieses sollte man allerdings erst im Nachgang lesen, sonst büßt der Handlungsverlauf vermutlich an Spannung und an Überraschungseffekten ein).

Der Roman ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt. Auf der gegenwärtigen Handlungsebene verfolgen wir das Geschehen um die Kommissarin Anne Paulsen, die den tatverdächtigen Volker März für sein Verbrechen Jahrzehnte nach der Tat auf ihre eigene Weise zur Rechenschaft ziehen will. Und auf der Vergangenheitsebene erhalten wir Einblick in die Beziehungsverhältnisse des Opfers und vollziehen den Kampf des Vaters um Gerechtigkeit nach. Und eines kann ich versprechen: Mit zunehmendem Handlungsverlauf wird man als Leser:in immer stärker emotional gepackt. Man taucht immer tiefer in den Fall ein und ist fassungslos, dass Recht und Gerechtigkeit so weit auseinander liegen können. Doch ich will nicht zu viel verraten. Lasst euch selbst mitreißen! Nur so viel: Ich hätte nicht damit gerechnet, dass die Gesetzeslage in Deutschland so ausschaut. Und ich habe mir häufiger die Frage nach dem „Warum“ gestellt.

Thieles Schreibweise hat mir gut gefallen. Seine Schilderungen von Handlungsorten und Figuren sind klar und greifbar. Die Charaktere wirken lebensecht und sind facettenreich gestaltet worden. V.a. die psychische Belastung des Vaters vom Opfer wird in meinen Augen spürbar! Wie konnte dieser Mann das alles nur verkraften und die verschiedenen Verfahren durch die Instanzen aushalten? Man fühlt mit ihm mit. Beim Lesen entstehen stets Bilder vor dem inneren Auge. Ein gutes Zeichen! Und man erkennt an vielen Stellen, dass Thiele sich auskennt und weiß, wovon er schreibt. Das merkt man z.B. schon daran, wie er die arbeitsorganisatorischen Abläufe bei der Polizei oder die Vernehmungen von März darstellt.

Den Grad an Spannung empfand ich durchweg als hoch, ich wollt stets wissen, wie es weitergeht und hatte während der Lektüre stets genügend offene Fragen im Kopf, die mich zum Weiterlesen und später zum Verschlingen des Buchs animiert haben. Zum Ende zieht die Spannung spürbar an. Der Autor eröffnet zahlreiche Spannungsbögen, die immer wieder geschickt unterbrochen werden. Sehr geschickt! Auch gab es immer einmal wieder gut platzierte Überraschungen, mit denen ich im Vorfeld nicht gerechnet habe. Die Darstellung von Verhandlungen empfand ich ebenfalls als eine große Stärke des Buchs. Gebannt verfolgt man die Prozesse und die damit verbundene Rechtsprechung. Sie wirken allesamt sehr authentisch, was natürlich daran liegt, dass sie wirklich so stattgefunden haben. Ein Vorteil von „True Crime“.

Und noch etwas Lobenswertes: Der Autor entlässt mich nach der Lektüre nachdenklich. Er wirft viele (v.a. auch moralische) Fragen auf, die man für sich selbst klären muss. Auch habe ich mich an einigen Stellen gefragt, wie Beteiligte bestimmte Dinge mit sich selbst vereinbaren können. Das finde ich großartig und es wertet das Buch noch einmal zusätzlich auf, weil der Inhalt dadurch nachhallt. Nach meiner Erfahrung gibt es nicht viele Werke, die eine solche Wirkung haben. Kurzum: Ich bin von „Zeit der Schuldigen“ begeistert. Von mir gibt es 5 Sterne (= herausragend)!

Bewertung vom 19.02.2024
Die Burg
Poznanski, Ursula

Die Burg


ausgezeichnet

Zu wenig Abwechslung und durchschnittliches Spannungsniveau
Eine künstlich erschaffene Welt zum Spielen, Rätseln oder zur Erholung? Diese Idee kennt man vom Holodeck aus Star Trek oder auch aus dem Kultfilm „Westworld“ (1973). Ursula Poznanski entwickelt in ihrem Thriller „Die Burg“ unter Einbezug des Themas „Künstliche Intelligenz“ aus dieser Grundidee ein eigenes Setting: Eine mittelalterliche Burg dient als Escape-Welt. Und eine Besuchergruppe von Experten um den Milliardär Nevio soll dieses ausgefeilte System testen und evaluieren. Dabei kommt es zu einem Zwischenfall. Die KI entwickelt ein Bewusstsein und hält die Gruppe in der Spielewelt fest. Die Gruppe muss um ihr Überleben kämpfen und gleichzeitig versucht man von außen, die KI zu stoppen und die Simulation abzubrechen.

Das Spannungsniveau empfand ich als durchschnittlich. Es dauert schon eine ganze Weile, bis ich in die Handlung hineingefunden habe und vom Geschehen mitgerissen wurde. Und leider verlor die Spannung auf Dauer für mich an Reiz, weil der Inhalt im weiteren Handlungsverlauf zu gleichförmig verlief: immer wieder neue Räume, mit immer wieder neuen Horrorszenarien. Irgendwann reichte es dann einfach. Auch das Team, das von außen eingreift, agiert ziemlich ideenlos und teils naiv. Dieser Handlungsstrang stagnierte mir zu sehr. Was ich vermisst habe: Eine Bedrohung, die mit der Zeit immer mehr zunimmt, ein Team, das von außen mit immer neuen Methoden versucht, Zugriff aufs System zu erhalten und damit scheitert, weil sich die KI wehrt etc. Auch über die technischen Hintergründe hätte ich gern noch mehr erfahren. Ich konnte mir gar nicht so richtig vorstellen, wie das alles funktioniert, was die Gruppe in der Burg erlebt. Handelt es sich um Holographie? Für mich war auch der Schreibstil insgesamt als zu langatmig. Das Tempo ließ zu wünschen übrig.

Was mich ebenfalls enttäuschte, war die Charakterzeichnung. Die Figuren blieben allesamt recht blass und erhielten auch nicht alle die gleiche Aufmerksamkeit. Die Darstellung der Gruppendynamik und das Zusammenspiel der Protagonisten haben mich auch nicht überzeugt. Im Vorfeld der Lektüre hatte ich die Erwartung, dass die Escape-Räume so geschildert werden, dass man als Leser:in ggf. sogar mitraten kann. Das hat sich beim Lesen dann aber als Trugschluss erwiesen. Im Prinzip wird die Handlung durch folgende Fragen vorangetrieben: Was hat die KI vor? Was ist ihr Ziel? Warum agiert sie so, wie sie agiert (v.a. so sadistisch)? Und wird die Gruppe sich aus der Simulation befreien können? Die ersten drei Fragen blieben für mich allerdings zu sehr in der Schwebe. Schade! Und noch etwas hat mir gefehlt: Ein großes Finale. Der Grad an Spannung zog für mich am Ende nicht an, sondern der Spannungsbogen bewegte sich durchgängig auf einem durchschnittlichen Niveau. Für mich eine enttäuschende Lektüre. Ich komme auf 3 Sterne!

Bewertung vom 16.02.2024
Wir werden jung sein
Leo, Maxim

Wir werden jung sein


ausgezeichnet

Medizintechnische Revolution

„Youth’s like diamond in the sun / and diamonds are forever“

Was wäre, wenn ein Medikamentenversuch fehlschlüge und die Probanden mit den ungeahnten Folgen einer Verjüngung konfrontiert wären? Darum geht es in dem Roman „Wir werden jung sein“ von Maxim Leo (bei mir stellten sich direkt Assoziationen zu „Benjamin Button“ ein). Die Folgen des Experiments werden uns am Beispiel von Einzelschicksalen von fünf Protagonisten vorgestellt, deren Lebensgeschichte wir näher kennen lernen. Und eines kann ich direkt vorwegnehmen: Ich fand das Gedankenspiel, das der Autor entwirft, interessant und habe mit großer Faszination die Lebenswege der Figuren verfolgt.

Zu Beginn wird uns der 17-jährige Jakob nähergebracht, der unter einer Herzmuskelschwäche leidet und ständig müde und erschöpft ist. Er verliebt sich in Marie, die mit ihrer unbefangenen und ehrlich-direkten Art sofort sein Herz erobert. Als nächstes begegnen wir Herrn Wenger, Immobilien-Patriarch und pedantischer Planer, der eine tödliche Diagnose erhält und nicht mehr viel Zeit hat. Er plant daraufhin seinen eigenen Tod in Form von Sterbehilfe und macht sich daran, sein Erbe zu regeln. Eine weitere Figur: Die ehemalige Profischwimmerin Verena. Sie knackt bei einem „Rentnerrennen“, das lediglich als Show gedacht war, den Weltrekord in 100m Freistil. Und plötzlich steht sie unter Doping-Verdacht. Sie kann sich ihre Leistung selbst nicht erklären. Weiterhin lernen wir Jenny kennen, die einen unerfüllbaren Kinderwunsch hegt. Trotz mehrmaliger, belastender In-vitro-Fertilisationen will sich keine Schwangerschaft einstellen, bis ein Seitensprung plötzlich ihr Leben grundlegend ändert. Und zuletzt: Die Perspektive des verschrobenen und menschenscheuen Forschers Martin. Er ist der Projektleiter der Studie, an der Jacob, Wenger, Verena und Jenny teilnehmen. Sein Ziel ist die Reprogrammierung von Herzmuskelzellen. Das Medikament testet er auch an sich selbst und seinem Hund. Nun ist er mit der Situation konfrontiert, dass sich die Probanden des Versuchs verjüngen, und das mit ungewissem Ausgang. Es entstehen folgende Fragen: Wie geht es mit den Figuren weiter? Wie wird sich ihr Leben verändern? Und wird sich die Verjüngung stoppen lassen? Ohne zu viel zu verraten: Die Verjüngung hat nicht nur Vorteile! Insbesondere die jüngeren Probanden haben mit Komplikationen zu kämpfen.

Nachdem sich die Nachricht über die Verjüngung als Nebenwirkung der medizinischen Behandlung von Jacob, Wenger, Verena und Jenny herumspricht, wollen auf einmal weitere Menschen mit dem Medikament behandelt werden. Begehrlichkeiten werden geweckt. Und anhand der Perspektive von Miriam, einer wissenschaftlichen Beraterin der Regierung, wird eine medizinethische Bewertung des Phänomens vorgenommen. Sie betrachtet das Für und Wider des möglichen Eingriffs in den Lebenszyklus des Menschen. Klar ist nur: Die Entdeckung wird das menschliche Zusammenleben grundlegend ändern. Und am Rande wird auch die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft gestreift.

Die Stärke des Autors ist in meinen Augen die Charakterzeichnung. Alle Figuren haben klare Konturen und werden in ihren Eigenheiten sehr gut deutlich. Maxim Leo schafft es auf wenigen Seiten, seinen Charakteren ein deutliches Profil zu verleihen. Und durch einen geschickt eingebauten Zeitsprung wird uns eine Vorher-Nachher-Perspektive eröffnet. Eine Entwicklung der Protagonisten kommt zum Ausdruck. Und dadurch, dass die Figuren sich in verschiedenen Lebensstadien befinden, wird die Frage nach den Auswirkungen des Medikaments auch unterschiedlich beleuchtet. Das hat mir richtig gut gefallen. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes, facettenreiches Bild. Und durch die beschriebenen Komplikationen, die ebenfalls auftreten, werden auch Nachteile ins Blickfeld gerückt. Und noch einen Effekt hat die Erwähnung des Negativen: Man leidet mit den Patienten mit und spürt als Leser:in emotionale Betroffenheit. Nicht zuletzt stellt man sich bei der Lektüre selbst die Frage, wie man mit einer solchen Diagnose umgehen würde. Würde man gern selbst wieder jünger sein? Eine interessante Frage, wie ich finde. Insgesamt hat mir das Buch sehr gut gefallen. Eine rundum gelungene Sache. Ich habe keine Verbesserungsvorschläge und vergebe deshalb 5 Sterne!