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katl2

Bewertungen

Insgesamt 39 Bewertungen
Bewertung vom 12.11.2024
Das Haus der Bücher und Schatten
Meyer, Kai

Das Haus der Bücher und Schatten


ausgezeichnet

Geister der Vergangenheit

Das Haus der Bücher und Schatten. Bereits der Titel von Kai Meyers neuem Werk lässt die Gedanken spielen. Der dritte Teil seiner Buchreihe, die sich um Geheimnisse des Graphischen Viertels in Leipzig ranken, wird seinen Vorgängern mehr als gerecht. Die Bücher hängen nicht zusammen, das verbindende Element ist allein der Ort, an dem diese Geschichten ihre Bühne bekommen, sowie die Art ihrer Erzählung. Ein Geheimnis der Vergangenheit findet zurück ans Licht, um Geschehnisse der Gegenwart der handelnden Personen erklären zu können.
In diesem Werk wechselt der Autor zwischen den Jahren 1913 und 1933. Beide Jahre bergen die Vorboten eines neuen Krieges, der die Welt überschatten wird. Brutalität, Ideologien und Furcht prägen beide Jahre und überbrücken die zwanzig Jahre, die sie trennen.

Im Jahr 1933 wird der Polizist Cornelius beinahe Zeuge eines Doppelmordes, ein Mädchen und ein Polizist. Entgegen der allgemeinen Meinung glaubt er nicht an eine schlichte, einfache Erklärung und beginnt in der Vergangenheit des Mädchens unter die Lupe zu nehmen. Freimaurer, Okkultisten und Séancen haben das Leben des toten Mädchens geprägt, während der Polizist, ein überzeugter Nazi, bei seinen Mitmenschen alles andere als beliebt war. Was verbindet die beiden und was bedeuten die rätselhaften Buchstaben auf der Hand der Toten? Bei seinen Nachforschungen nähert er sich immer mehr den Geheimnissen von gefährlichen Männern, die ihre dunklen Geschäfte im chaotischen Deutschland zur Blüte getrieben haben und kein Interesse daran haben, diese durch einen einfachen Polizisten in die Luft gehen zu lassen.
Zwanzig Jahre zuvor begibt sich Paula zusammen mit ihrem Verlobten und Kollegen Jonathan auf die Reise ins Baltikum, um das Manuskript eines Autors zu holen. Doch in dem gewaltigen Anwesen geht nicht alles mit rechten Dingen zu. Paula ist überzeugt, dass es spukt. Sie hört Schritte, wo keine Gänge sind und Stimmen, wo keine Menschen sind. Sie beginnt alles zu hinterfragen und stößt auf eine Geschichte, die besser im Verborgenen geblieben wäre.

Die Handlungsstränge beider Geschichten wechseln sich in unregelmäßigen Abständen ab, vertiefen dabei die Spannung und die Neugierde darauf, wie es weitergehen soll und wird. Beide Teile sind geprägt vom Übersinnlichen, von Geistern und Stimmen aus dem Jenseits, von Geheimnissen der Vergangenheit, die nicht ans Licht kommen sollten. Entgegen so vielen seiner anderen Werke benutzt Kai Meyer in diesem Werk zwei Protagonisten und Protagonistinnen, die es mir schwer gemacht haben, sie ins Herz zu schließen.

Cornelius ist ein verbitterter Polizist, der zuerst suspendiert und später wieder eingesetzt wurde, als seinem Arbeitgeber das fähige Personal ausging. Er verachtet den Nationalsozialistischen Staat und macht sich dadurch keine Freunde in der Stadt. Cornelius bevorzugt die Gesellschaft von Büchern deren von Menschen, mit Ausnahme seiner reizenden Verlobten. Er ist ein Einzelgänger, der alles im Alleingang erledigt, der nie um Hilfe fragt oder diese akzeptiert. Am liebsten geht er auf direkte Konfrontation mit seinem Gegenüber und er traut keinem seiner Kollegen über den Weg. Im Laufe des Buches lernte ich ihn zu schätzen, aber es dauerte.
Paula hingegen ist eine faszinierende Frau. Als einzige Lektorin des Verlags werden ihr deutlich größere Steine vor die Füße gelegt, als ihren Kollegen. Sehr zum Ärger von diesen ist sie es, die einen der bedeutendsten Autoren ihrer Zeit entdeckte und zu einem Bestseller machte. Selbst dieser Erfolg lässt die Kritiker nicht zum Schweigen bringen, im Gegenteil: die Eifersucht wird nur weiter angeheizt. Paula ist sehr sensibel und in ihren Träumen erscheinen immer wieder die Geister der Vergangenheit, um sie zu warnen oder ihr etwas mitzuteilen. Trotz ihrer beeindruckenden Geschichte wurde ich bis zum Schluss nicht richtig warm mit ihr. Fast, als würde ein Graben zwischen uns sein, der es ihr nicht ermöglicht, mich zu berühren.

Es war eine faszinierende Erfahrung für mich, von einem Buch gefesselt zu sein, mit deren Charakteren ich nicht wirklich warm wurde. Es hat der Geschichte keinen Abbruch getan. Jede einzelne Seite des Buches war eine wunderbare Reise in eine Zeit, die wir nicht erleben wollen und die aktueller scheint als je zuvor in meinem Leben.

Das Haus der Bücher und Schatten ist ein weiteres faszinierendes Buch von Kai Meyer. Es ist nicht notwendig, die vorherigen Bände des Graphischen Viertels zu lesen, da jedes eigenständig für sich steht, jedes sein eigenes Geheimnis verbirgt. Sein künstlerischer Umgang mit der deutschen Sprache und sein Talent für spannungsgeladene Handlungsbögen machen das Buch zu einem wahren Lesegenuss.

Bewertung vom 27.10.2024
Trinken wie ein Dichter

Trinken wie ein Dichter


ausgezeichnet

Prost!

Der edle, leinenartige Einband verleiht dem Buch bereits bei der ersten Berührung ein edles Gefühl, das sich beim Aufschlagen nur noch verstärkt. Liebevoll aufbereitet und mit nötigen Hintergrundinformationen versehen, wurden favorisierte Getränke von bedeutsamen Literatinnen und Literaten zusammengetragen. Egal ob Tennessee Williams' Ramos Gin Fizz, der bei übermäßigem Genuss dazu verleitet, am Balkon stehend nach Stella zu rufen, die richtige Zubereitung einer Tasse Tee, die laut George Orwell elf Schritte beträgt, oder mit einem Whiskey Cock-Tail auf den Spuren von Mark Twain zu wandeln - jeder Beitrag ermöglicht es, den bekannten Namen noch eine weitere Facette zuzuordnen, durch die Drinks ihrer Wahl.

Ich bin noch weit davon entfernt, jedes Getränk ausprobiert zu haben, aber jedes davon war ein Erfolg. Auch wenn der Wodka Martini, geschüttelt nicht gerührt, stärker ist, als ursprünglich vermutet

Bewertung vom 23.07.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


sehr gut

Dieses Buch ist anders. Besonders prägnant ist die Art und Weise, wie das Buch geschrieben ist. Anders als bei den meisten Büchern finden sich hier keine Satzzeichen, die direkte Reden oder einen Sprecherwechseln kennzeichnen. Als Leserin bzw. Leser hat man das Gefühl, außerhalb der Geschichte zu stehen. Wie hinter einer Glasscheibe, während eine neutrale Stimme alles berichtet: von den Bewegungen der Figuren, über ihre Gespräche bis hin zu ihren Klamotten. Wie Audiokommentiert. Sehr ungewöhnlich und es dauert ein bisschen, in diese Art der Erzählung hineinzufinden. Der Spannung des Buches tut dies jedoch keinen Abbruch. Im Gegenteil. Obwohl die Leserin/der Leser quasi als unbeteiligter Zuschauer an der Handlung teilnimmt, wird sie/er direkt mit hineingezogen. Die Angst, die Verzweiflung, die Hilflosigkeit angesichts der Situation sind so greifbar, als wären es die eigenen Gefühle und Gedanken.

Die Geschichte, die erzählt wird ist eine, die jederzeit eintreten kann. In dem Moment, in dem der Staat beginnt, autoritär zu handeln. Ab dem Moment, wo zu viel Macht auf zu wenige Menschen aufgeteilt ist. Ab dem Moment, ab dem Angst gewinnt und die Gewalt regiert. Es sind Bilder aus dem Geschichtsunterricht, Bilder aus der Vergangenheit und Bilder, wie sie auch jetzt auf den Fernsehbildschirmen zu sehen sind. Eine Geschichte, in der die Demokratie und das Leben, das damit verbunden ist, kippen und einem unbarmherzigen und brutalen Regime den Platz überlassen.

Es ist ein erschütterndes und ehrliches Buch, das eine Geschichte erzählt, die über unserem Leben wie ein Damoklesschwert schwebt und hoffentlich nicht eintreffen wird.

Bewertung vom 12.06.2024
Hast du Zeit?
Winkelmann, Andreas

Hast du Zeit?


ausgezeichnet

Alles ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser. Seneca

Das erste, was mir bei dem Buch aufgefallen ist, nachdem ich es ausgepackt hatte, war, wie schön es ist. Dunkler Hintergrund, auf dem in weißen Buchstaben der aufrüttelnde Titel „Hast du Zeit?“ ins Auge sticht. Im Vordergrund prangt das untere Ende einer Sanduhr, die leicht schillernd zur Eile drängt. Die roten Seiten runden das Buch in seiner schlichten Eleganz ab.

Einundfünfzig Jahre ist es her, seit Michael Ende mit seinem Buch Momo die Zeit in den Mittelpunkt einer Geschichte gerückt hat. Andreas Winkelmann widmet sich in diesem Buch demselben Thema. Er knallt jedem, der auch nur einen kurzen Blick auf sein Buch wird, eine der essenziellen Fragen unserer Gegenwart direkt ins Gesicht: „Hast du Zeit?“ Wie oft haben wir diese Frage schon gehört oder selber gestellt. Und wie oft haben wir sie mit Nein beantwortet?

Es ist das erste Buch, das ich von Andreas Winkelmann gelesen habe und ich war nicht in der Lage, es aus der Hand zu legen. Von der ersten Seite an gelingt es dem Autor, einen bedrohlichen Unterton in seine Erzählung zu weben, die ständige Gefahr voraussagend und dennoch immer wieder überraschend in seiner Brutalität. Die verzweifelte Suche nach dem Täter, die schiere Untätigkeit der Polizei und die stets gegenwärtige Bedrohung wirken wie ein rasches Suchtmittel, dem man nicht entkommen kann. Trotz des ungeheures Erzähltempos gelingt es Andreas Winkelmann immer wieder, den Leser bzw. die Leserin zurückzuholen zu der ursprünglichen, essenziellen Frage, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht und alles miteinander verbindet: Hast du Zeit?

„Ich zählte die Minuten, die Stunden, die Tage, aber je genauer ich zählte, desto langsamer verging die Zeit. Viel später begriff ich, dass Uhren einen Dreck wert waren. Ihre Gleichmut ist unerträglich und trägt der Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der Zeit keine Rechnung. Die Menschen, das verstand ich, hatten die Zeit nie richtig begriffen. Ein grundlegender Irrtum zwingt uns dazu, die Zeit als gleichförmige Konstante zu begreifen. Dabei spürte doch jeder, dass das nicht stimmt.*

Jedem Kapitel ist eine Uhrzeit beigefügt, erinnert an das stete Ticken einer Uhr. Die Zeit rinnt durch die Finger, fließt unaufhörlich weiter und wird immer weniger.

Fazit

Ein Thriller, der mich von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann gezogen hat. Der nicht nur auf die brutalen und psychischen Seiten und Gründe des Killers konzentriert ist, sondern versucht gleichzeitig uns aufzurütteln, damit wir unsere eigene Zeit wieder bewusster wahrnehmen. Zeit ist nicht unendlich und unsere Lebenszeit ist das Kostbarste, was wir besitzen. Eine Tatsache, die wir leicht vergessen in einer Welt, in der wir Sklaven des Geldes geworden sind.

Danke für dieses Buch und für das wahre und berührende Nachwort!

*direktes Zitat aus dem Buch

Bewertung vom 13.05.2024
Quanten-Bullshit
Ferrie, Chris

Quanten-Bullshit


sehr gut

Ein sarkastischer Zugang zur komplexen Welt der Quanten

Neben dem Titel des Buches war es vor allem die Leseprobe, die mich dazu gebracht hat, dieses Werk lesen zu wollen. Es klang so erfrischend anders...und das war es auch.

Chris Ferrie hat einen völlig anderen Zugang benutzt. Sei vorwiegender Grund, das Buch zu schreiben war nicht, Quantenphysik zu erklären, sondern vor allem klar zu machen, was es definitiv NICHT ist.

Dabei benutzt er eine Sprache, die mich an ein Gespräch erinnert, das zu fortgeschrittener Stunde stattfindet: manchmal etwas derb, häufig einfach nur witzig und definitiv sarkastisch versucht der Autor einem offensichtlichen Unwissenden auf dem Gebiet, seine Doktorarbeit zu erklären. Und stößt dabei auf Grenzen, wiederholt sich, ärgert sich und greift gelegentlich zu einem Stift, um grobe Skizzen auf die beiliegende Serviette zu kritzeln, um seine Worte zu untermalen.

Für mich ist die Quantenphysik nicht wirklich ein Neuland. So konnte ich seinen Erklärungen gemütlich zurückgelehnt genießen und mich daran zurückerinnern, dass ich das ja schon einmal gehört habe. Für Menschen, die mit dieser Materie nicht so bewandert sind, werden sich bei manchen lustig gemeinten Seitenhieben auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften so fühlen wie bei einem Witz, bei dem man die Pointe nicht versteht. Aber wenn du dich für die Quantenphysik interessiert, schadet es wirklich nicht, deine Nase in dieses Buch zu stecken. Denn im Gegensatz zu manch anderen Werken, basiert dieses Buch auf den nackten Tatsachen und Erkenntnissen.(Stand: 2024)

Fazit

Es ist kein Fachbuch, wie man es erwarten würde. Aber es präsentiert sich auch nicht so. Quanten Bullshit versucht auf seine ganz eigene Art und Weise, Licht in ein Thema zu bringen, dass so komplex und schwer verständlich ist, dass es viel Raum für Fantasie und Science Fiction bietet. Und natürlich Kristalle. Kristalle sind auch wichtig. Nur ein kleiner Tipp: am besten genießt man das Buch in kleinen Häppchen. So kann das Gehirn zumindest versuchen, das Thema der Quanten zu verarbeiten und der beißende Sarkasmus des Autors bleibt somit stets erfrischend und unterhaltsam, anstatt anstrengend und vorhersehbar zu werden.

Bewertung vom 25.03.2024
Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht / Haus Sonnenuntergang Bd.2
Bullatschek, Sybille

Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht / Haus Sonnenuntergang Bd.2


sehr gut

Direkt aus dem Leben. Oder zumindest ziemlich nah dran.

Kurz zum Buch

Langeweile ist für Sybille Bullatschek ein absolutes Fremdwort. Nicht nur in ihrem Job als Pflägekraft im Altenheim Sonnenuntergang geht es ständig hoch her, auch privat schiebt Sybille keine ruhige Kugel. Egal, ob es sich dabei um das neue Smartphone ihrer Eltern handelt, bei dem die Autokorrektur mehr als eine Unterhaltung ins Unkenntliche verzerrt oder um James Bond, der seinen Audi am Liebsten Stoßstange zu Stoßstange parkt und ein Verwenden ihres Wagens somit unmöglich macht. Nein, zur Ruhe kommt Sybille wirklich nicht. Mit ihrer direkten und tollpatschigen Ader stolpert sie von einer witzig-absurden Situation in die nächste und zeigt, wie
unglaublich komisch das Leben sein kann.

Sprache und Stil

Neben dem ungewöhnlichen Buchtitel „Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht“, ist es vor allem der Name der Autorin, der ins Auge sticht. Denn Sybille Bullatschek ist die Protagonistin dieses Werkes und der Pseudonym von Ramona Schukraft, die ihre Pflägekraft durch das Buch selbst mit den Leserinnen und Lesern kommunizieren lässt. Die kurzen Sätze und die leicht verständliche Sprache, die immer wieder in Mundart abdriftet, machen die Geschichte leicht verständlich und sie wirkt authentisch. Es liest sich wie eine gute Comedy-Verfilmung. Das einig irritierende ist tatsächlich die offensichtlich falsche Rechtschreibung des Wortes Pflegekraft.

Sybille

Sybilles Leben ist so bunt und schillernd in allen nötigen und unnötigen Details geschildert, dass es nur so vor dem geistigen Auge vorbeizieht. Und die Pflägekraft einfach sympathisch macht. Sybille ist nicht perfekt, weder ihr Körperbau noch mit ihrer Art, ihr Leben zu meistern. Doch es sind die Hopplas, die missglückten Ausreden und ihre fröhliche Art, die sie einen ins Herz schließen lässt. Sie stellt sich ihren Herausforderungen im Leben, versucht diese gut möglichst zu umschiffen (was oft weniger gelingt als sie gerne hätte) und versucht, nicht die Geduld zu verlieren. Statt schimpfend vor ihrem Auto zu stehen, weil sie erneut zugeparkt wurde, klebt sie ein Post-it an die Scheibe, der ihrem Ärger Luft macht, aber keinen Schaden anrichtet. Statt die Geduld mit dem bösartigen und ständig schlecht gelaunten Bewohner des Seniorenheims zu verlieren, überlegt sie, wie sie diese Eigenschaften am besten nützen kann. Ich denke, von Sybille können wir alle noch viel lernen.

Fazit

Für mich war es ein eher ungewöhnliches Buch, da ich normalerweise in komplett anderen Genres unterwegs bin. Dennoch habe ich jede Seite genossen. Es war so erfrischend anders. Direkt aus dem Leben. Oder zumindest ziemlich nah dran. Die Abwechslung aus Fettnäpfchen, Zufällen und dem Leben haben ein Buch geschaffen, das zum Schmunzeln bringt. Das die Probleme und Herausforderungen des eigenen Alltags in den Schatten stellt und zeigt, dass das Leben auch mit Humor zu bewältigen ist.

Bewertung vom 16.01.2024
Der Schacherzähler
Pinnow, Judith

Der Schacherzähler


ausgezeichnet

„Du hast die Wette verloren, um etwas anderes zu gewinnen. Man opfert einen Bauern, und dafür passiert etwas Gutes im Spiel“

Wie auch der Titel bereits vermuten lässt, spielt in diesem Buch das Schachbrett eine zentrale Rolle. Der Fokus liegt dabei weniger auf dem Spiel selbst, als auf seiner faszinierenden Macht, die unterschiedlichsten Menschen zusammenzubringen.

In diesem Fall, einen kleinen Jungen, dem es schwer fällt, sich in der Schule zu konzentrieren und dadurch immer wieder in das Radar seiner Lehrerin gerät und einem alten Mann, der nach dem Tod seiner geliebten Frau von einem Tag in den nächsten gleitet, ohne so richtig zu leben.

Die Faszination, die das Schachspiel auf den Jungen ausübt, führt diese beiden Menschen zusammen und bildet eine einzigartige Freundschaft, in einer herzerwärmenden Geschichte, wie sie das Leben so schreibt.

„Ich lerne, dass der Pfefferstreuer eigentlich eine Dame ist. Also, ich kann da gar keine Dame erkennen in der Figur, aber der alte Mann sagt, die Dame muss man unbedingt schützen im Spiel und im Leben.“

Judith Pinnow nutzt ihre feinen, bildhaften Worte um eine Welt zu kreieren, die der unsrigen so ähnlich ist, und scheint dennoch von einem feinen Hauch von Magie durchzogen zu sein, die der berührenden Geschichte einen zauberhaften Schimmer zu verleihen scheint. Wie ein klarer Bach plätschert die Geschichte über die Seiten, stetig und bewegt, durchzogen von Stromschnellen und kleinen Sturzfällen, gefolgt von ruhigen, tiefen Tümpeln.

„Wie feiner Nebel, der aufzieht. So schleichend, dass man es kaum bemerkt. Erst sieht man nur ein kleines bisschen schlechter, wie durch eine schmutzige Brille. Nach einer Weile kann man dann nicht mehr seine eigenen Füße sehen und sehr bald auch nicht mehr die eigenen Hände. Genauso ziehen die Nachtgedanken auf.“

Unterschiedliche Perspektiven, jeweils in der ersten Person geschrieben, bieten einen klaren Einblick in die Gedankenwelt der Figuren und ermöglichen es, eine tiefere emotionale Bindung zu den Charakteren zu bilden, sie zu verstehen und mit ihnen mitzufühlen.

Der Schacherzähler ist ein wunderschöner Roman, der sich auf die alltäglichen Situationen des Lebens stützt, mit einem Augenzwinkern und von positivem Licht beleuchtet. Statt die Probleme zu beleuchten konzentriert sich die Autorin, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen und eine Geschichte zu schreiben, die auch im eigenen Alltag ihren Glanz hinterlässt.

„Man muss nicht immer alles wissen. Manchmal hilft nur tanzen. Musik ganz laut und tanzen, so wie ein Springer, der über ein Schachbrett gleitet. Ein Schritt geradeaus, zwei Schritte nach links. Dann zwei Schritte nach vorne und einen nach rechts.“


„Die Passagen in Anführungszeichen sind direkt aus dem Buch übernommen.“

Bewertung vom 13.01.2024
Julia
Newman, Sandra

Julia


sehr gut

KRIEG IST FRIEDEN. FREIHEIT IST SKLAVEREI. UNWISSEN IST STÄRKE

JULIA – eine bekannte Geschichte, die durch neue Augen erzählt wird, und dabei kein bisschen von seiner erschreckenden Brutalität und Aktualität verloren hat.

[„Julia, was würdest du von denjenigen halten, die dich für diene Taten hassten?“ […]
„Die wissen nicht, wie es ist. Es ist immer einfach, über etwas zu urteilen, was man nicht versteht. Sie halten sich für überlegen, aber sie haben keine Ahnung.“
„Sie wurden noch nie vor eine so schwierige Wahl gestellt“
„Ja. Sie wissen nicht, wie sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten würden.“]

Mit 1984 hat George Orwell ein Werk geschaffen, das zu einem Klassiker in der Weltliteratur aufgestiegen ist. Mit Julia wirft Sandra Newman erneut einen Blick in diese düstere Welt , die auch nach all den Jahren nicht an ihrer drohenden Aktualität eingebüßt hat.

Anders als Winston, der Antiheld aus Orwells‘ Vorlage, versucht Julia nicht, zwingen aus dem System auszubrechen sondern sucht einen Weg, in dieser menschenunwürdigen Welt bestmöglich zu überleben. Sie bewegt sich innerhalb der engen Grenzen, die gesetzlich auferlegt werden und findet die Möglichkeit, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Ihr vermehrter Kontakt mit Winson ist der Beginn vom Ende.

[Du glaubst, dass es möglich ist, eine geheime Welt zu erschaffen, in der du leben kannst, wie du willst – alles, was du brauchst, ist Glück, List und Kühnheit, solange bist du in Sicherheit. Aber das Individuum wird immer unterliegen. Du musst selbst erkennen, dass du de Untergang geweiht bist ja, tief in deinem Herzen weißt du das schon ganz genau. […] Wir sind die Toten.]

Sandra Newman verfügt über die Gabe, schreckliche Geschichten mit wunderschönen Worten zu erzählen. Die Melodie ihrer Sprache scheint vom Paradies zu kommen, während sie in Wahrheit von der Hölle berichtet.

[Ihr wurde bewusst, dass Luxus ebenso sehr aus der Abwesenheit von gewissen Dingen bestand wie aus dem Überfluss anderer.]

Immer wieder klammern sich die Gedanken an ein positives, hoffnungsvolles Ende. Doch mit jeder Seite wird die Dunkelheit und Grausamkeit der Welt intensiver und unerträglicher. Es ist, als folge man Dantes Weg durch die Kreise der Hölle: ein jeder scheint an Grausamkeit nicht zu überbieten zu sein, doch folgt im nächsten ein noch viel schlimmeres Schicksal. So war es bei Orwell, und so ist es auch bei Julia.

[In diesem Spiel, das wir da spielen, können wir nicht gewinnen. Manche Arten des Scheiterns sind besser als andere. Ganz einfach.]

Fazit

Julia ist ein fesselndes Buch. Grausam und irgendwie so nah dran an der Wahrheit der menschlichen Natur. Der Urinstinkt des Menschen gilt dem Überleben. Am Ende zählt jeder für sich. Was Orwell begonnen hat, hat Sandra Newman vollendet. Sie hat ein Werk geschaffen, dass trotz allem schwer aus der Hand zu legen ist. Ein Buch, in dem so viel mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat. Eine Heldin, die keine ist. Die man versteht, oder auch nicht. Eine Protagonistin, die ihr eigenes Überleben über die moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft stellt, die gemütlich mit einer Tasse Tee vor dem warmen Kamin sitzen und in die düsteren Seiten des Buches hinableiten.

Julia ist ein beklemmendes, düsteres Werk. Aber eines, dass gelesen werden sollte. Ebenso wie der Klassiker, auf dem dieses Buch aufbaut. Es ist spannend geschrieben, wunderschön erzählt und hält dabei der Welt einen Spiegel vor.

[Diese Stellen wurden direkt aus dem Buch übernommen]

Bewertung vom 29.09.2023
Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3


ausgezeichnet

Spuk in Wien

Worum gehts?

Statt einem gemütlichen Opernabend mit Julia wird Kommissar Herzfeld zu einem Tatort gerufen: in der Krypta von Wien. Ein Mann hat an diesem ungewöhnlichen Ort seine letzte Ruhestätte gefunden. Nach einigen Nachforschungen stellt sich heraus, dass es sich bei dem Ermordeten um einen jüdischen Arzt handelt, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jeglichen Geisterbeschwörern das Handwerk zu legen und ihre Schwindel aufzudecken und sich dadurch nicht unbedingt Freunde gemacht hat. Und dann entdeckt Julia auf ihren Fotos auch noch eine unheimliche Gestalt, die über der Leiche zu schweben scheint. Hat ein Geist den Arzt auf dem Gewissen, oder gibt es eine ganz natürliche Erklärung? Augustin Rothmayer kämpft hingegen an einer anderen Front. Auf der einen Seite wartet das neue Buch über Geister und spirituelle Kräfte, auf der anderen Seite ist da diese Sache mit den Grabplünderungen, die in letzter Zeit stark zu genommen zu haben scheinen. Und dann ist da noch die Sache mit den Verschwundenen Kindern…

Wien, 1895

Erneut entführt Oliver Pötzsch ins Wien des späten 19. Jahrhunderts. Moderne Kriminalistik und Fotografie stecken noch in den Kinderschuhen. Antisemitismus, Aberglaube und Vorurteile prägen die Gesellschaft, die sich noch stark in eine dünne reiche Oberschicht und eine breite Unterschicht am Rande des Existenzminimus aufteilt. Der Autor schafft mit seinen Worten eine authentische Beschreibung der Umgebung und durch den Wiener Dialekt, der besonders bei dem Totengräber Augustin Rothmayer stark ausgeprägt ist, auch den Umgangston der Stadt.

Zum Buch

Der Totengräber und der Mord in der Krypta ist der dritte Teil dieser Reihe, in der der Grazer Kommissar Leopold von Herzfeld und der Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs gemeinsam ermitteln. Es ist nicht zwingend nötig, die anderen Teile der Serie zu lesen, allein die verschiedenen Charaktere und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zueinander wachsen über die Bände hinweg und bilden das große Verbindungsglied und den Wiedererkennungseffekt, der dazu führt, dass einem die unterschiedlichen Personen immer mehr ans Herz wachsen.

Fazit

Wieder ein großartiges Buch von Oliver Pötzsch. Die verzwickte, teilweise mystische und doch so realistische Geschichte fesselt von der ersten Seite an. Ein rätselhafter Mord, Verdächtige mit hieb- und stichfesten Alibis, zweifelhafte Moral und geisterhafte Erscheinungen. Ein Krimi, der zum Mitraten und Mitfiebern einlädt. Charaktere, die einen Schmunzeln und den Kopf auf die Tischplatte hauen lassen. Und ein Buch, dass man nicht aus der Hand legen kann.

Bewertung vom 28.07.2023
Die Toten der King Charles Street
Harris, C. S.

Die Toten der King Charles Street


ausgezeichnet

Ein politischer Hexenkessel

Alexander Ross, ein junger kräftiger Brite aus dem Adelsstand, stirbt unvermutet an Herzversagen. Der Chirurg Paul Gibson kann nicht widerstehen und beginnt, die Leiche zu observieren. Schnell wird ihm klar, dass der junge Mann nicht dem Herzen, sondern einer Stichwunde im Hinterkopf unterlag. Nichtgenehmigte Untersuchungen an einem Leichnam sind gesetzlich verboten und Paul Gibson steht vor einem Problem: Ein Mord ist geschehen, aber er kann damit unmöglich zu den Behörden gehen.
Verzweifelt bittet er seinen Freund Sebastian St. Cyr zu Hilfe, der sofort mit seinen Nachforschungen beginnt.

Eine Trauung und ein Mord

Sebastian steht vor einem Abschnitt in seinem Leben, den er nie für möglich gehalten hätte: er ist verlobt und in einer Woche verheiratet. Aber seine Braut ist nicht Cat, die Liebe seines Lebens, sondern Miss Hero Jarvis, die Tochter eines seiner gefährlichsten Gegner in London.

Der Mordfall, mit dem Paul Gibson ihn konfrontiert, lenkt Sebastian von den kommenden Feierlichkeiten ab. Doch was als harmloses Spiel beginnt, entwickelt sich rasch zu einem tödlichen Ränkespiel, hinter dem mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat.

Ein außenpolitischer Hexenkessel

Das Jahr 1812, in dem die Geschichte spielt, ist ein politischer Hexenkessel. Napoleons Frankreich steigt zur führenden Kolonialmacht auf, Schweden steht nach den Verträgen von Örebro wieder auf der Seite von Großbritannien, will sich die Annexion von Finnland jedoch nicht einfach gefallen lassen. Verhandlungen zwischen Russland und Schweden über Norwegen rufen das dänische Königreich auf den Plan, da Norwegen einen Teil von Dänemark ist. Die Türkei verurteilt die Marineoperationen der Briten gegen Konstantinopel.

Ein Hexenkessel voller Intrigen und Versprechungen, brutaler Kampfszenen und undurchsichtigen Motiven. Und Sebastian springt mitten hinein.

Fazit

Ein brisanter Kriminalfall, der die angespannte Außenpolitik in Europa um 1812 zur Rahmenhandlung nimmt. Neben interessanten Fakten und raschen Erzähltempo verschwinden die Seiten unter den Fingern. Die zahlreichen Namen und Schauplatzwechsel verwirren stellenweise etwas, aber mit fortschreitender Handlung entwirren sich die Fäden langsam und legen den Blick auf eine geniale Geschichte frei.