Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
katl2

Bewertungen

Insgesamt 36 Bewertungen
Bewertung vom 12.06.2024
Hast du Zeit?
Winkelmann, Andreas

Hast du Zeit?


ausgezeichnet

Alles ist fremdes Eigentum, nur die Zeit ist unser. Seneca

Das erste, was mir bei dem Buch aufgefallen ist, nachdem ich es ausgepackt hatte, war, wie schön es ist. Dunkler Hintergrund, auf dem in weißen Buchstaben der aufrüttelnde Titel „Hast du Zeit?“ ins Auge sticht. Im Vordergrund prangt das untere Ende einer Sanduhr, die leicht schillernd zur Eile drängt. Die roten Seiten runden das Buch in seiner schlichten Eleganz ab.

Einundfünfzig Jahre ist es her, seit Michael Ende mit seinem Buch Momo die Zeit in den Mittelpunkt einer Geschichte gerückt hat. Andreas Winkelmann widmet sich in diesem Buch demselben Thema. Er knallt jedem, der auch nur einen kurzen Blick auf sein Buch wird, eine der essenziellen Fragen unserer Gegenwart direkt ins Gesicht: „Hast du Zeit?“ Wie oft haben wir diese Frage schon gehört oder selber gestellt. Und wie oft haben wir sie mit Nein beantwortet?

Es ist das erste Buch, das ich von Andreas Winkelmann gelesen habe und ich war nicht in der Lage, es aus der Hand zu legen. Von der ersten Seite an gelingt es dem Autor, einen bedrohlichen Unterton in seine Erzählung zu weben, die ständige Gefahr voraussagend und dennoch immer wieder überraschend in seiner Brutalität. Die verzweifelte Suche nach dem Täter, die schiere Untätigkeit der Polizei und die stets gegenwärtige Bedrohung wirken wie ein rasches Suchtmittel, dem man nicht entkommen kann. Trotz des ungeheures Erzähltempos gelingt es Andreas Winkelmann immer wieder, den Leser bzw. die Leserin zurückzuholen zu der ursprünglichen, essenziellen Frage, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht und alles miteinander verbindet: Hast du Zeit?

„Ich zählte die Minuten, die Stunden, die Tage, aber je genauer ich zählte, desto langsamer verging die Zeit. Viel später begriff ich, dass Uhren einen Dreck wert waren. Ihre Gleichmut ist unerträglich und trägt der Wichtigkeit oder Unwichtigkeit der Zeit keine Rechnung. Die Menschen, das verstand ich, hatten die Zeit nie richtig begriffen. Ein grundlegender Irrtum zwingt uns dazu, die Zeit als gleichförmige Konstante zu begreifen. Dabei spürte doch jeder, dass das nicht stimmt.*

Jedem Kapitel ist eine Uhrzeit beigefügt, erinnert an das stete Ticken einer Uhr. Die Zeit rinnt durch die Finger, fließt unaufhörlich weiter und wird immer weniger.

Fazit

Ein Thriller, der mich von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann gezogen hat. Der nicht nur auf die brutalen und psychischen Seiten und Gründe des Killers konzentriert ist, sondern versucht gleichzeitig uns aufzurütteln, damit wir unsere eigene Zeit wieder bewusster wahrnehmen. Zeit ist nicht unendlich und unsere Lebenszeit ist das Kostbarste, was wir besitzen. Eine Tatsache, die wir leicht vergessen in einer Welt, in der wir Sklaven des Geldes geworden sind.

Danke für dieses Buch und für das wahre und berührende Nachwort!

*direktes Zitat aus dem Buch

Bewertung vom 13.05.2024
Quanten-Bullshit
Ferrie, Chris

Quanten-Bullshit


sehr gut

Ein sarkastischer Zugang zur komplexen Welt der Quanten

Neben dem Titel des Buches war es vor allem die Leseprobe, die mich dazu gebracht hat, dieses Werk lesen zu wollen. Es klang so erfrischend anders...und das war es auch.

Chris Ferrie hat einen völlig anderen Zugang benutzt. Sei vorwiegender Grund, das Buch zu schreiben war nicht, Quantenphysik zu erklären, sondern vor allem klar zu machen, was es definitiv NICHT ist.

Dabei benutzt er eine Sprache, die mich an ein Gespräch erinnert, das zu fortgeschrittener Stunde stattfindet: manchmal etwas derb, häufig einfach nur witzig und definitiv sarkastisch versucht der Autor einem offensichtlichen Unwissenden auf dem Gebiet, seine Doktorarbeit zu erklären. Und stößt dabei auf Grenzen, wiederholt sich, ärgert sich und greift gelegentlich zu einem Stift, um grobe Skizzen auf die beiliegende Serviette zu kritzeln, um seine Worte zu untermalen.

Für mich ist die Quantenphysik nicht wirklich ein Neuland. So konnte ich seinen Erklärungen gemütlich zurückgelehnt genießen und mich daran zurückerinnern, dass ich das ja schon einmal gehört habe. Für Menschen, die mit dieser Materie nicht so bewandert sind, werden sich bei manchen lustig gemeinten Seitenhieben auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften so fühlen wie bei einem Witz, bei dem man die Pointe nicht versteht. Aber wenn du dich für die Quantenphysik interessiert, schadet es wirklich nicht, deine Nase in dieses Buch zu stecken. Denn im Gegensatz zu manch anderen Werken, basiert dieses Buch auf den nackten Tatsachen und Erkenntnissen.(Stand: 2024)

Fazit

Es ist kein Fachbuch, wie man es erwarten würde. Aber es präsentiert sich auch nicht so. Quanten Bullshit versucht auf seine ganz eigene Art und Weise, Licht in ein Thema zu bringen, dass so komplex und schwer verständlich ist, dass es viel Raum für Fantasie und Science Fiction bietet. Und natürlich Kristalle. Kristalle sind auch wichtig. Nur ein kleiner Tipp: am besten genießt man das Buch in kleinen Häppchen. So kann das Gehirn zumindest versuchen, das Thema der Quanten zu verarbeiten und der beißende Sarkasmus des Autors bleibt somit stets erfrischend und unterhaltsam, anstatt anstrengend und vorhersehbar zu werden.

Bewertung vom 25.03.2024
Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht / Haus Sonnenuntergang Bd.2
Bullatschek, Sybille

Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht / Haus Sonnenuntergang Bd.2


sehr gut

Direkt aus dem Leben. Oder zumindest ziemlich nah dran.

Kurz zum Buch

Langeweile ist für Sybille Bullatschek ein absolutes Fremdwort. Nicht nur in ihrem Job als Pflägekraft im Altenheim Sonnenuntergang geht es ständig hoch her, auch privat schiebt Sybille keine ruhige Kugel. Egal, ob es sich dabei um das neue Smartphone ihrer Eltern handelt, bei dem die Autokorrektur mehr als eine Unterhaltung ins Unkenntliche verzerrt oder um James Bond, der seinen Audi am Liebsten Stoßstange zu Stoßstange parkt und ein Verwenden ihres Wagens somit unmöglich macht. Nein, zur Ruhe kommt Sybille wirklich nicht. Mit ihrer direkten und tollpatschigen Ader stolpert sie von einer witzig-absurden Situation in die nächste und zeigt, wie
unglaublich komisch das Leben sein kann.

Sprache und Stil

Neben dem ungewöhnlichen Buchtitel „Sie haben Ihren Rollator beim Zumba vertauscht“, ist es vor allem der Name der Autorin, der ins Auge sticht. Denn Sybille Bullatschek ist die Protagonistin dieses Werkes und der Pseudonym von Ramona Schukraft, die ihre Pflägekraft durch das Buch selbst mit den Leserinnen und Lesern kommunizieren lässt. Die kurzen Sätze und die leicht verständliche Sprache, die immer wieder in Mundart abdriftet, machen die Geschichte leicht verständlich und sie wirkt authentisch. Es liest sich wie eine gute Comedy-Verfilmung. Das einig irritierende ist tatsächlich die offensichtlich falsche Rechtschreibung des Wortes Pflegekraft.

Sybille

Sybilles Leben ist so bunt und schillernd in allen nötigen und unnötigen Details geschildert, dass es nur so vor dem geistigen Auge vorbeizieht. Und die Pflägekraft einfach sympathisch macht. Sybille ist nicht perfekt, weder ihr Körperbau noch mit ihrer Art, ihr Leben zu meistern. Doch es sind die Hopplas, die missglückten Ausreden und ihre fröhliche Art, die sie einen ins Herz schließen lässt. Sie stellt sich ihren Herausforderungen im Leben, versucht diese gut möglichst zu umschiffen (was oft weniger gelingt als sie gerne hätte) und versucht, nicht die Geduld zu verlieren. Statt schimpfend vor ihrem Auto zu stehen, weil sie erneut zugeparkt wurde, klebt sie ein Post-it an die Scheibe, der ihrem Ärger Luft macht, aber keinen Schaden anrichtet. Statt die Geduld mit dem bösartigen und ständig schlecht gelaunten Bewohner des Seniorenheims zu verlieren, überlegt sie, wie sie diese Eigenschaften am besten nützen kann. Ich denke, von Sybille können wir alle noch viel lernen.

Fazit

Für mich war es ein eher ungewöhnliches Buch, da ich normalerweise in komplett anderen Genres unterwegs bin. Dennoch habe ich jede Seite genossen. Es war so erfrischend anders. Direkt aus dem Leben. Oder zumindest ziemlich nah dran. Die Abwechslung aus Fettnäpfchen, Zufällen und dem Leben haben ein Buch geschaffen, das zum Schmunzeln bringt. Das die Probleme und Herausforderungen des eigenen Alltags in den Schatten stellt und zeigt, dass das Leben auch mit Humor zu bewältigen ist.

Bewertung vom 16.01.2024
Der Schacherzähler
Pinnow, Judith

Der Schacherzähler


ausgezeichnet

„Du hast die Wette verloren, um etwas anderes zu gewinnen. Man opfert einen Bauern, und dafür passiert etwas Gutes im Spiel“

Wie auch der Titel bereits vermuten lässt, spielt in diesem Buch das Schachbrett eine zentrale Rolle. Der Fokus liegt dabei weniger auf dem Spiel selbst, als auf seiner faszinierenden Macht, die unterschiedlichsten Menschen zusammenzubringen.

In diesem Fall, einen kleinen Jungen, dem es schwer fällt, sich in der Schule zu konzentrieren und dadurch immer wieder in das Radar seiner Lehrerin gerät und einem alten Mann, der nach dem Tod seiner geliebten Frau von einem Tag in den nächsten gleitet, ohne so richtig zu leben.

Die Faszination, die das Schachspiel auf den Jungen ausübt, führt diese beiden Menschen zusammen und bildet eine einzigartige Freundschaft, in einer herzerwärmenden Geschichte, wie sie das Leben so schreibt.

„Ich lerne, dass der Pfefferstreuer eigentlich eine Dame ist. Also, ich kann da gar keine Dame erkennen in der Figur, aber der alte Mann sagt, die Dame muss man unbedingt schützen im Spiel und im Leben.“

Judith Pinnow nutzt ihre feinen, bildhaften Worte um eine Welt zu kreieren, die der unsrigen so ähnlich ist, und scheint dennoch von einem feinen Hauch von Magie durchzogen zu sein, die der berührenden Geschichte einen zauberhaften Schimmer zu verleihen scheint. Wie ein klarer Bach plätschert die Geschichte über die Seiten, stetig und bewegt, durchzogen von Stromschnellen und kleinen Sturzfällen, gefolgt von ruhigen, tiefen Tümpeln.

„Wie feiner Nebel, der aufzieht. So schleichend, dass man es kaum bemerkt. Erst sieht man nur ein kleines bisschen schlechter, wie durch eine schmutzige Brille. Nach einer Weile kann man dann nicht mehr seine eigenen Füße sehen und sehr bald auch nicht mehr die eigenen Hände. Genauso ziehen die Nachtgedanken auf.“

Unterschiedliche Perspektiven, jeweils in der ersten Person geschrieben, bieten einen klaren Einblick in die Gedankenwelt der Figuren und ermöglichen es, eine tiefere emotionale Bindung zu den Charakteren zu bilden, sie zu verstehen und mit ihnen mitzufühlen.

Der Schacherzähler ist ein wunderschöner Roman, der sich auf die alltäglichen Situationen des Lebens stützt, mit einem Augenzwinkern und von positivem Licht beleuchtet. Statt die Probleme zu beleuchten konzentriert sich die Autorin, jeder Situation etwas Positives abzugewinnen und eine Geschichte zu schreiben, die auch im eigenen Alltag ihren Glanz hinterlässt.

„Man muss nicht immer alles wissen. Manchmal hilft nur tanzen. Musik ganz laut und tanzen, so wie ein Springer, der über ein Schachbrett gleitet. Ein Schritt geradeaus, zwei Schritte nach links. Dann zwei Schritte nach vorne und einen nach rechts.“


„Die Passagen in Anführungszeichen sind direkt aus dem Buch übernommen.“

Bewertung vom 13.01.2024
Julia
Newman, Sandra

Julia


sehr gut

KRIEG IST FRIEDEN. FREIHEIT IST SKLAVEREI. UNWISSEN IST STÄRKE

JULIA – eine bekannte Geschichte, die durch neue Augen erzählt wird, und dabei kein bisschen von seiner erschreckenden Brutalität und Aktualität verloren hat.

[„Julia, was würdest du von denjenigen halten, die dich für diene Taten hassten?“ […]
„Die wissen nicht, wie es ist. Es ist immer einfach, über etwas zu urteilen, was man nicht versteht. Sie halten sich für überlegen, aber sie haben keine Ahnung.“
„Sie wurden noch nie vor eine so schwierige Wahl gestellt“
„Ja. Sie wissen nicht, wie sie sich in einer ähnlichen Situation verhalten würden.“]

Mit 1984 hat George Orwell ein Werk geschaffen, das zu einem Klassiker in der Weltliteratur aufgestiegen ist. Mit Julia wirft Sandra Newman erneut einen Blick in diese düstere Welt , die auch nach all den Jahren nicht an ihrer drohenden Aktualität eingebüßt hat.

Anders als Winston, der Antiheld aus Orwells‘ Vorlage, versucht Julia nicht, zwingen aus dem System auszubrechen sondern sucht einen Weg, in dieser menschenunwürdigen Welt bestmöglich zu überleben. Sie bewegt sich innerhalb der engen Grenzen, die gesetzlich auferlegt werden und findet die Möglichkeit, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Ihr vermehrter Kontakt mit Winson ist der Beginn vom Ende.

[Du glaubst, dass es möglich ist, eine geheime Welt zu erschaffen, in der du leben kannst, wie du willst – alles, was du brauchst, ist Glück, List und Kühnheit, solange bist du in Sicherheit. Aber das Individuum wird immer unterliegen. Du musst selbst erkennen, dass du de Untergang geweiht bist ja, tief in deinem Herzen weißt du das schon ganz genau. […] Wir sind die Toten.]

Sandra Newman verfügt über die Gabe, schreckliche Geschichten mit wunderschönen Worten zu erzählen. Die Melodie ihrer Sprache scheint vom Paradies zu kommen, während sie in Wahrheit von der Hölle berichtet.

[Ihr wurde bewusst, dass Luxus ebenso sehr aus der Abwesenheit von gewissen Dingen bestand wie aus dem Überfluss anderer.]

Immer wieder klammern sich die Gedanken an ein positives, hoffnungsvolles Ende. Doch mit jeder Seite wird die Dunkelheit und Grausamkeit der Welt intensiver und unerträglicher. Es ist, als folge man Dantes Weg durch die Kreise der Hölle: ein jeder scheint an Grausamkeit nicht zu überbieten zu sein, doch folgt im nächsten ein noch viel schlimmeres Schicksal. So war es bei Orwell, und so ist es auch bei Julia.

[In diesem Spiel, das wir da spielen, können wir nicht gewinnen. Manche Arten des Scheiterns sind besser als andere. Ganz einfach.]

Fazit

Julia ist ein fesselndes Buch. Grausam und irgendwie so nah dran an der Wahrheit der menschlichen Natur. Der Urinstinkt des Menschen gilt dem Überleben. Am Ende zählt jeder für sich. Was Orwell begonnen hat, hat Sandra Newman vollendet. Sie hat ein Werk geschaffen, dass trotz allem schwer aus der Hand zu legen ist. Ein Buch, in dem so viel mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat. Eine Heldin, die keine ist. Die man versteht, oder auch nicht. Eine Protagonistin, die ihr eigenes Überleben über die moralischen Vorstellungen einer Gesellschaft stellt, die gemütlich mit einer Tasse Tee vor dem warmen Kamin sitzen und in die düsteren Seiten des Buches hinableiten.

Julia ist ein beklemmendes, düsteres Werk. Aber eines, dass gelesen werden sollte. Ebenso wie der Klassiker, auf dem dieses Buch aufbaut. Es ist spannend geschrieben, wunderschön erzählt und hält dabei der Welt einen Spiegel vor.

[Diese Stellen wurden direkt aus dem Buch übernommen]

Bewertung vom 29.09.2023
Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3
Pötzsch, Oliver

Der Totengräber und der Mord in der Krypta / Inspektor Leopold von Herzfeldt Bd.3


ausgezeichnet

Spuk in Wien

Worum gehts?

Statt einem gemütlichen Opernabend mit Julia wird Kommissar Herzfeld zu einem Tatort gerufen: in der Krypta von Wien. Ein Mann hat an diesem ungewöhnlichen Ort seine letzte Ruhestätte gefunden. Nach einigen Nachforschungen stellt sich heraus, dass es sich bei dem Ermordeten um einen jüdischen Arzt handelt, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, jeglichen Geisterbeschwörern das Handwerk zu legen und ihre Schwindel aufzudecken und sich dadurch nicht unbedingt Freunde gemacht hat. Und dann entdeckt Julia auf ihren Fotos auch noch eine unheimliche Gestalt, die über der Leiche zu schweben scheint. Hat ein Geist den Arzt auf dem Gewissen, oder gibt es eine ganz natürliche Erklärung? Augustin Rothmayer kämpft hingegen an einer anderen Front. Auf der einen Seite wartet das neue Buch über Geister und spirituelle Kräfte, auf der anderen Seite ist da diese Sache mit den Grabplünderungen, die in letzter Zeit stark zu genommen zu haben scheinen. Und dann ist da noch die Sache mit den Verschwundenen Kindern…

Wien, 1895

Erneut entführt Oliver Pötzsch ins Wien des späten 19. Jahrhunderts. Moderne Kriminalistik und Fotografie stecken noch in den Kinderschuhen. Antisemitismus, Aberglaube und Vorurteile prägen die Gesellschaft, die sich noch stark in eine dünne reiche Oberschicht und eine breite Unterschicht am Rande des Existenzminimus aufteilt. Der Autor schafft mit seinen Worten eine authentische Beschreibung der Umgebung und durch den Wiener Dialekt, der besonders bei dem Totengräber Augustin Rothmayer stark ausgeprägt ist, auch den Umgangston der Stadt.

Zum Buch

Der Totengräber und der Mord in der Krypta ist der dritte Teil dieser Reihe, in der der Grazer Kommissar Leopold von Herzfeld und der Totengräber des Wiener Zentralfriedhofs gemeinsam ermitteln. Es ist nicht zwingend nötig, die anderen Teile der Serie zu lesen, allein die verschiedenen Charaktere und ihre zwischenmenschlichen Beziehungen zueinander wachsen über die Bände hinweg und bilden das große Verbindungsglied und den Wiedererkennungseffekt, der dazu führt, dass einem die unterschiedlichen Personen immer mehr ans Herz wachsen.

Fazit

Wieder ein großartiges Buch von Oliver Pötzsch. Die verzwickte, teilweise mystische und doch so realistische Geschichte fesselt von der ersten Seite an. Ein rätselhafter Mord, Verdächtige mit hieb- und stichfesten Alibis, zweifelhafte Moral und geisterhafte Erscheinungen. Ein Krimi, der zum Mitraten und Mitfiebern einlädt. Charaktere, die einen Schmunzeln und den Kopf auf die Tischplatte hauen lassen. Und ein Buch, dass man nicht aus der Hand legen kann.

Bewertung vom 28.07.2023
Die Toten der King Charles Street
Harris, C. S.

Die Toten der King Charles Street


ausgezeichnet

Ein politischer Hexenkessel

Alexander Ross, ein junger kräftiger Brite aus dem Adelsstand, stirbt unvermutet an Herzversagen. Der Chirurg Paul Gibson kann nicht widerstehen und beginnt, die Leiche zu observieren. Schnell wird ihm klar, dass der junge Mann nicht dem Herzen, sondern einer Stichwunde im Hinterkopf unterlag. Nichtgenehmigte Untersuchungen an einem Leichnam sind gesetzlich verboten und Paul Gibson steht vor einem Problem: Ein Mord ist geschehen, aber er kann damit unmöglich zu den Behörden gehen.
Verzweifelt bittet er seinen Freund Sebastian St. Cyr zu Hilfe, der sofort mit seinen Nachforschungen beginnt.

Eine Trauung und ein Mord

Sebastian steht vor einem Abschnitt in seinem Leben, den er nie für möglich gehalten hätte: er ist verlobt und in einer Woche verheiratet. Aber seine Braut ist nicht Cat, die Liebe seines Lebens, sondern Miss Hero Jarvis, die Tochter eines seiner gefährlichsten Gegner in London.

Der Mordfall, mit dem Paul Gibson ihn konfrontiert, lenkt Sebastian von den kommenden Feierlichkeiten ab. Doch was als harmloses Spiel beginnt, entwickelt sich rasch zu einem tödlichen Ränkespiel, hinter dem mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat.

Ein außenpolitischer Hexenkessel

Das Jahr 1812, in dem die Geschichte spielt, ist ein politischer Hexenkessel. Napoleons Frankreich steigt zur führenden Kolonialmacht auf, Schweden steht nach den Verträgen von Örebro wieder auf der Seite von Großbritannien, will sich die Annexion von Finnland jedoch nicht einfach gefallen lassen. Verhandlungen zwischen Russland und Schweden über Norwegen rufen das dänische Königreich auf den Plan, da Norwegen einen Teil von Dänemark ist. Die Türkei verurteilt die Marineoperationen der Briten gegen Konstantinopel.

Ein Hexenkessel voller Intrigen und Versprechungen, brutaler Kampfszenen und undurchsichtigen Motiven. Und Sebastian springt mitten hinein.

Fazit

Ein brisanter Kriminalfall, der die angespannte Außenpolitik in Europa um 1812 zur Rahmenhandlung nimmt. Neben interessanten Fakten und raschen Erzähltempo verschwinden die Seiten unter den Fingern. Die zahlreichen Namen und Schauplatzwechsel verwirren stellenweise etwas, aber mit fortschreitender Handlung entwirren sich die Fäden langsam und legen den Blick auf eine geniale Geschichte frei.

Bewertung vom 05.02.2023
Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen
Blum, Isaac

Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen


ausgezeichnet

Hoodie Rosen verkörpert (beinahe) alle übertriebene Stereotype, die bei dem Gedanken an jüdische Jugendlichen durch den Kopf fliegen. Ein junger Mann, auf der Suche nach seinem Platz in einer Welt, die von Regeln und Traditionen geprägt ist und in der Verachtung und Hass zur Realität wird.
Gemeinsam mit seinen Schwestern und seinen Freunden wächst Hoodie Rosen in einer orthodoxen

Gemeinschaft auf. Ihre Glaubensgruppe bildet die Minderheit in einer Stadt, in der Antisemitismus immer mehr zu wachsen beginnt.

Anna-Marie bildet den krassen Gegensatz zu Hoodie. Bauchfreie Shirts und männliche Freundschaften sind für sie normal. Als Tochter der Bürgermeisterin begegnen ihr die meisten Stadtbewohner mit Respekt und Freundlichkeit, währenddessen Hoodies Gegenwart Misstrauen und Argwohn hervorruft.

Beide Welten prallen aufeinander. Weltlich geprägte Zivilisation trifft auf die jahrhundertealten Traditionen der in sich geschlossenen jüdischen Gemeinschaft. Dennoch freunden sich die beiden an und versuchen, die hemmenden Unterschiede zwischen ihren Kulturen zu überwinden und einen Weg zu finden, in der beide Welten ihren Platz finden.

"Diese Religion, dieses Leben ist nicht perfekt. Wenn du von der Tradition erwartest, dass sie perfekt ist, wird sie dich enttäuschen. Wenn du von den Menschen um dich herum erwartest, dass sie rein und fromm sind, werden sie dich ebenfalls enttäuschen. Aber es gib nicht den einen richtigen Weg. Glaube niemanden, der dir etwas anderes erzählt. Und es gib Schlupflöcher. Es gibt VPNs, die Wi-Fi-Filter umgehen. Es gibt geheime, ungefilterte Telefone. Was du mit diesen Sachen machst, liegt an dir."

Das gesamte Buch ist aus der Sicht von Hoodie Rosen geschrieben. Als ich-Erzähler nimmt er die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise hinter die Kulissen des gelebten Judentums. Ein einfacher und stellenweise sarkastischen Erzählweise bringt Isaac Blum diese alte Religion ein stückweit auf in unser Leben und versucht, diese, als Außenstehender oft schwer zu verstehenden, Traditionen und Bräuche, verständlich zu machen.

Ruhm und Verbrechen des Hoodie Rosen ist ein Jugendroman, der sich nicht nur mit dem Thema des Erwachsenwerdens und der Selbstfindung beschäftigt. Vor allem zeigt der die erschreckende Macht von Vorurteilen, unbegründeten Ängsten und Missverständnissen. Wie schnell es tatsächlich gehen kann, dass der Hass unser Denken übernimmt und Dinge ins Rollen kommen, die sich nicht mehr aufhalten lassen.

Bewertung vom 14.11.2022
Die Bücher, der Junge und die Nacht
Meyer, Kai

Die Bücher, der Junge und die Nacht


ausgezeichnet

Trotzdem wäre es dumm, einen Teufel beschwören. Man muss sich nur umschauen, dann sieht man, dass es schon genug davon gibt*.

Bücher bestimmten schon immer das Leben von Robert.

Bereits sein Vater, den er nie kennenlernen durfte, hatte sein Leben dem gedruckten Wort verschrieben und kam als Buchbinder über die Runden. Eines Tages steht eine junge Frau vor der Tür und bittet ihn, ihr Werk zu binden. Als sie kurz darauf verschwindet ist seine Neugierde gepackt und Jakob setzt alles daran, die Frau zu finden und ihr Geheimnis zu lüften.

Robert verbringt die ersten Jahre seines Lebens in einem Kellerraum voller Bücher. Sie sind seine einzige Abwechslung in diesem öden Dasein, bis ihn eines Tages ein fremder Mann abholt und ihn mit den wahren Abenteuern des Lebens konfrontiert.

Dreißig Jahre später bestimmen Bücher noch immer Roberts Leben. Das Verwalten von großen Bibliotheken ist zu seinem Job geworden. Doch dann stößt er auf Bücher, die sein Vater gebunden haben soll, Jahre, nachdem dieser bereits gestorben war. Robert versucht dieses Mysterium zu lösen und stößt dabei auf ein Geheimnis, das weit größer ist, als er je zu träumen gewagt hätte.

In diesem Buch entführt Kai Mayer seine Leserinnen und Leser nicht in eine seiner fantastischen Welten, sondern in eine Zeit, in der alles zu zerfallen scheint. Der zweite Weltkrieg wird in der deutschsprachigen Gesellschaft häufig thematisiert und zur Sprache gebracht. Doch dieses Buch tanzt aus der Reihe.

Es geht nicht um Hitler, nicht mal um den Krieg. Zumindest nicht so richtig. Im Zentrum der Geschichte steht ein Buch. Aus drei unterschiedlichen Erzählperspektiven (Vater, Sohn jung und Sohn älter) wird die Geschichte erzählt. Ungefähr vierzig Jahre trennen Vater und Sohn, dennoch versuchen sie, dasselbe Geheimnis zu lüften. Ein Geheimnis, dem der Sohn in seinen Kinderjahren bereits auf der Spur war, ohne es zu bemerkten.

Der Schein von Straßenlaternen und Werksbeleuchtung reichte gerade so aus, um wabernde Schlieren in der Finsternis sichtbar zu machen, als wäre der Himmel ein Nest schwarzer Blindschleichen*. Kai Mayer spielt mit Sprache, nimmt Wörter und bastelt Sätze, die zum Träumen anregen und Welten erschaffen können. Es ist wie Magie, denn Magie ist nichts anderes als das richtige Wort zur rechten Zeit*.

1933 war eine Zeit, in der die Menschlichkeit in Mitteleuropa nichts verloren hatte. Der Hölle wurde zur Realität und der Teufel war allgegenwärtig. Fragwürdige Rituale und Glaubensideen schossen aus dem Boden und fanden Nährboden in der Angst und Verzweiflung der Menschen. Der Teufel nimmt in dieser Geschichte eine zentrale Rolle ein.

Packend erzählt und in eine wunderschöne Sprache gepackt berichtet Kai Mayer von der Liebe zu Büchern. Zu der Macht, der Hoffnung und der Magie, die Worten innewohnt.

„Warum tut jemand so was?“
„Weil die Menschen nicht genug Bücher lesen. Erst wenn sie wirklich verstehen, wie es sich anfühlt, ein anderer zu sein, werden sie aufhören, sich gegenseitig Schlimmes anzutun. […] Irgendwann werden sie begreifen, dass genau darin ihre Erlösung liegt“*

*Diese Stellen sind direkt aus dem Buch (Auflage Nov. 2022) entnommen

Bewertung vom 02.10.2022
Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens / Monsieur le Comte Bd.1
Martin, Pierre

Monsieur le Comte und die Kunst des Tötens / Monsieur le Comte Bd.1


sehr gut

Der Fluch eines Namens
Lucien Comte de Charcarasse liebt das Leben. Mit Leichtigkeit und Humor tritt er ihm Tag für Tag entgegen, nimmt jeden Tag wie er kommt und genießt es in vollen Zügen. Mit dem Tod seines Vaters ist das schlagartig vorbei. Lucien erbt nicht nur den Titel und das Vermögen der Charcarasse, sondern soll auch die jahrhundertealte Tradition weiterführen: die Kunst des Tötens.

Schnell, unauffällig und ohne Fragen zu stellen soll er zum Berufskiller werden und das, ohne Spuren zu hinterlassen. Lucien sträubt sich gegen den Gedanken, als Mörder zu enden, doch er hat es seinem Vater geschworen. Ein Schwur ist immer noch ein Schwur, doch sein Gewissen gibt nicht nach. So sucht er nach einer Möglichkeit, sein Versprechen gegenüber seinem Vater zu halten, ohne dabei aufzugeben, wer er wirklich ist.

Kurzweilig und unterhaltsam

Lucien Comte de Charcarasse ist ein lebensfroher Mensch. Sein Restaurant und die Leichtigkeit, mit der er durchs Leben zu spazieren scheint, stehen im krassen Gegensatz zu dem Schicksal, der seinem Namen auferlegt ist. Ein sympathischer Hauptcharakter, der damit kämpft, die Erwartungen von anderen zu erfüllen, ohne sich selbst dabei zu verlieren.

Pierre Martin benützt einen leicht ironischen und kurzweiligen Schreibstil, der zu Luciens Persönlichkeit passt. Zügig erzählt, ohne zu hetzen, ausreichend erklärt, ohne langatmig zu werden. Monsieur le Comte ist ein Buch, das als Entspannungslektüre optimal geeignet ist. Keine komplizierten sprachlichen Experimente oder herausfordernden Handlungsstränge, aber dennoch spannend bis zum Schluss.

Eine Reise nach Frankreich, die ich bis zur letzten Seite genossen habe und die gerade bei diesem Wetter ein Stück Sonne zurück ins eigene Leben bringt.